KlassikWoche 43/2021
Drei Tote und die neuen Klassik-Pornografen
von Axel Brüggemann
25. Oktober 2021
Nachrufe auf Edita Gruberova, Bernard Haitink und Udo Zimmermann, Vladimir Jurowskis Attacke gegen Valery Gergiev, die Wagner-Oper von Avner Dorman
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
was für eine Woche – mit viel zu vielen Toten! Wir nehmen natürlich Abschied. Aber wir beschäftigen uns auch mit der Zukunft der Klassik und dem neuen Trend zur Pornografie. Ach ja, wenn wir uns in den kommenden Wochen persönlich im Kino treffen, würde mich das sehr freuen.
PORNOGRAFEN DER KLASSIK
Zuweilen müssen einige Gedanken etwas reifen. Ich habe an dieser Stelle bereits öfters über die neue Lust am Exhibitionismus der aktuellen Klassik-KünstlerInnen geschrieben. In einem längeren Essay habe ich meine Gedanken nun noch mal für CRESCENDO sortiert: „Was will Dirigent Lorenzo Viotti eigentlich noch alles ausziehen? Viel bleibt nicht übrig! Auf seinem Instagram-Profil zeigt er regelmäßig seinen Sixpack: wie er an Turnringen hängt oder am Strand bummelt“, beginnt der Text, den ich Ihnen in ganzer Länge als Debatten-Anstoß gern ans Herz legen möchte. „Wie weit soll die Zurschaustellung des eigenen Ichs noch gehen? Dirigent Teodor Currentzis plaudert gern öffentlich über seine privaten Lustfantasien und packt für Videoproduktionen schon mal sein bestes Stück aus. Was ist nackter als nackt? Wie viele Orgasmen können wir haben, bevor wir uns umdrehen und todmüde einschlafen?“
Es geht darum, ob wir Musik als Offenbarung der Liebe erfahren wollen oder als uns schnell befriedigende Pornografie? „Während die Klassik-Erotomanen unentwegt die Unergründbarkeit des Genius behaupten und immer tiefer abtauchen in die Sphären von Mozart und Beethoven, um nichts als neue Fragen zu finden, laden die Klassik-Pornografen die Komponisten jeden Abend aufs Neue zu einem exhibitionistischen Quickie, bei dem keine Fragen offen bleiben.“ Ich bin gespannt auf Ihre Meinungen.
MUSIKRAT – WEITER SO WIE IMMER?
Lieber Deutscher Musikrat, vielleicht liege ich vollkommen falsch, aber Eure Auftritte bei Facebook oder Instagram wirken so erschütternd alt und uninspiriert, so nach Apparatschik und Behörde und so wenig nach Leidenschaft und Musik. Auch jetzt, da Ihr ein neues Präsidium gewählt habt, fiel es mir schwer, herauszufinden, was eigentlich Eure Aufgabe ist.
Inzwischen habe ich es gecheckt: einige Wettbewerbe und die allgemeine Förderung der Musik. Ihr könntet eine wirklich wichtige Institution sein: modern, digital, vernetzend und begeisternd. Auf Eurer Mitgliederversammlung habt Ihr nun aber wohl beschlossen, dass alles weiter geht wie bisher: Martin Maria Krüger wurde als Präsident für vier weitere Jahre bestätigt. Hoffen wir, dass Jens Cording, Udo Dahmen oder Ulrike Liedtke als VizepräsidentInnen ein bisschen Schwung in die Bude bringen!
DREI TOTE ZU VIEL
Diese Woche war ein wenig gespenstisch. Ich arbeite gerade an einem Projekt über die Wende in Dresden, die legendäre „Fidelio“-Inszenierung von Christine Mielitz, die zum Fanal der Revolution geworden ist. Unter anderem habe ich dafür den Tenor Reiner Goldberg getroffen, der den Florestan an der Seite von Jessye Norman gesungen hatte. Goldberg erklärte mir: Treibende Kraft bei all dem sei Dirigent Bernard Haitink gewesen. Zwei Tage später ist Haitink im Alter von 92 Jahren gestorben. Außerdem traf ich den damaligen Bürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer, der mir über den politischen Machtkampf an der Semperoper in den 1980er-Jahren berichtet hatte: Es ging um die Intendanz, bei der sich Gerd Schönfelder gegen den Dresdner Komponisten Udo Zimmermann durchsetzte. Einen Tag nach meinem Besuch in Berlin starb Udo Zimmermann in seinem Haus in Dresden nach langer schwerer Krankheit.
Und dann war da noch die große Sopranistin Edita Gruberova, die Anfang letzter Woche, wohl nach einem unglücklichen Unfall in ihrem Garten, überraschend gestorben war. Ein Sänger schrieb mir, erstaunt über die Ereignisse der Woche: „Gruberova, Haitink, Zimmermann – selbst der Tod wusste nicht, dass er so farbenfroh sein kann.“ In der Tat: Unterschiedlicher als die drei können Klassik-KünstlerInnen kaum sein. Eine traurige Woche für die Musik. Drei kleine Nachrufe.
I. DIE KÖNIGIN DER STIMME: EDITA GRUBEROVA
Selten war eine Stimme so überirdisch perfekt und verströmte eine gleichsam so tiefe Menschlichkeit wie die von Edita Gruberova – die „Königin der Koloratur“. Erst vor zwei Jahren hatte sie ihre gigantische Karriere beendet: 50 Jahre auf der Opernbühne, 50 Jahre mit beiden Beinen auf dem Boden und mit den Stimmbändern im Himmel. Gruberova wurde 1946 in Bratislava geboren, wuchs in einfachen Verhältnissen auf und erinnerte sich stets an ihre Herkunft. Kaum eine Sängerin band so viele begeisterte Fans an sich und ihre Kunst, weil sie in jeder Arie – und schien sie noch so manieriert – mitten im Leben ihrer Charaktere zu stehen schien. Sie wird fehlen. Ihre Ära wird fehlen. Ihre Generation.
II. DER MEISTER DER KLEINEN GESTE: BERNARD HAITINK
Er ist der Gegenpol zu den oben beschriebenen „Pornografen der Klassik“: Ein Minimalist der Geste, ein Musiker für die Musik, aber auch (und das fehlte in vielen Nachrufen) einer, der erst spät angekommen ist: Immer wieder hatte Bernard Haitink Größeres angestrebt, besonders in Boston, dann ging er nach Dresden – auch hier gab es Zoff, und selbst in Chicago kam er zunächst nur irgendwie halb an. Seine wirkliche Größe zeigte er in so vielen Aufnahmen von Brahms oder Mahler, wo er als Gast vor den großen Orchestern stand, unter anderem vor dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.
Solocellist Maximilian Hornung sagte einmal den wunderbaren Satz: „Und dann kam Haitink, machte nichts – und es war geil.“ Je älter Haitink wurde desto mehr wuchs er in der Musik, seinen Abschied vom Konzertpodium verkaufte er schmunzelnd als „Sabbatical“, und wer sah, wie seine Frau ihn nach seinem letzten Konzert in Luzern unter Standing Ovations des Publikums von der Bühne begleitete, ahnte: Dieser Mann ist längst eine Legende. Nun ist Bernard Haitink tot – und gleichsam Vorbild für jede Anti-Exzentrik am Pult.
III. DER EINKLANG SUCHENDE: UDO ZIMMERMANN
Das letzte Mal traf ich ihn zu Hause über den Dächern von Dresden, zu einem ausführlichen Vier-Stunden-Gespräch über den Klang für das Magazin Lettre. Kaffee in der voll verglasten Küche mit Blick über das Elbtal. Udo Zimmermann stilisierte sich als musikalischer Leidensmann: „Beim Komponieren geht es vor allen Dingen darum, mit sich selbst in Einklang zu kommen. Das ist ein sehr anstrengender Prozess. Er macht müde, wenn er nicht gelingt. Aber er kann auch jede Müdigkeit vergessen lassen, wenn er beginnt zu arbeiten und etwas aufwühlt. Dann macht er rastlos.“ Was es bedeute, „mit sich in Einklang zu kommen“, wollte ich wissen. „Ich versuche, das Eigene und das Fremde zu organisieren, also mich selbst – oder das, was ich dafür halte. Es geht mir darum, mich in einen Bezug zum Anderen zu setzen. Mein Mittel dafür ist hauptsächlich die Musik – die eigene und die andere.“
Musik also als Möglichkeit, sich in der Welt zu positionieren? „Mir gefällt diese Kommunikation zuweilen, da sie mir hilft, das Eigene besser zu reflektieren und zu entwickeln. Nehmen wir mein Hornkonzert, in ihm habe ich mit Themen von Rameau und Mozart gespielt. Und mein Violoncellokonzert ‚Lieder von einer Insel‘, das ich 2009 für Jan Vogler geschrieben habe, beginnt mit einem Liedzitat von Robert Schumann. Im Grunde gibt es eigentlich kein Komponieren, das völlig losgelöst vom Ererbten ist. Darüber muss man sich bewusst sein. Dass das Eigene nicht ohne das Fremde, das Bestehende, zu haben ist.“ Nun wird auch die Musik Zimmermanns Teil des kulturellen Erbes. Der Blick aus seiner Küche – erloschen. Die Elbe aber fließt weiter durch das Elbtal.
PERSONALIEN DER WOCHE
Münchens neuer Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, Vladimir Jurowski, führt in einem Interview mit dem BR eine klare Attacke gegen seinen russischen Kollegen Valery Gergiev, der in München die Philharmoniker dirigiert. Auf die Verhältnisse in Russland angesprochen, erklärt Jurowski gegenüber Bernhard Neuhoff: „Bei Wladimir Putins Geburtstag habe ich bis jetzt nicht dirigieren müssen und werde das auch nie tun.“ Als der BR nachhakt und erklärt, dass Gergiev gern bei offiziellen Anlässen für Putin auftrete, erwidert Jurowski: „Ja gut, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Valery Gergiev mit Wladimir Putin eine persönliche Freundschaft verbindet, die Jahrzehnte zurückliegt. Ich will das jetzt gar nicht bewerten, aber eine menschliche Freundschaft ist eine menschliche Freundschaft. Mich verbindet mit dem Régime gar nichts. Ich kenne ein paar Repräsentanten. Herrn Putin habe ich persönlich nie getroffen.“ Es ist Jurowski zu wünschen, dass er so standhaft bleibt. +++ Nachdem zunächst Musikkritiker Manuel Brug und dann auch Harry Holt vom VAN Magazin über die Musiktage in Donaueschingen herzogen, platzte SWR2-Redakteur Michael Rebhahn auf Facebook der Kragen: „Mir geht das Donaueschingen-Bashing arg auf den Senkel“, schrieb er, „okay, Brug ist geschenkt – das sei Mal unter einem Modus von Weltwahrnehmung verbucht, den näher zu beschreiben ich aus Gründen der Justiziabilität an dieser Stelle unterlasse. Was aber will nun dieser VAN Artikel? (…) Welchem Zweck folgt die offensichtliche Tendenz, ein Festival, das sich in den letzten Jahren mit großem Effort um Öffnung und Diversifizierung bemüht, derart haltlos in die Achtziger zurückschreiben zu wollen?“ Eine spannende Debatte.
Es ist schon schockierend, dass der Studienbeginn einer jungen Komponistin wie Alma Deutscher an der Wiener Universität einigen Medien eine Nachricht wert ist (verdammt: Nun bin ich auch drauf reingefallen!) +++ Für alle, die es noch nicht gesehen haben: Schauspieler des Burgtheaters rezitieren die Chat-Protokolle der Polit-Clique um Ösi-Ex-Kanzler Sebastian Kurz. Wäre das nicht auch ein herrlicher Opern-Plot, nachdem SKY nun schon die Ibiza-Affäre als Serie herausgebracht hat? +++ Oscar Jockel und Christian Blex haben beim heutigen Auswahlverfahren für das „Siemens Conductors Scholarship“ der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker in der Philharmonie beide überzeugt und teilen sich den ersten Platz. +++ Anna Netrebko musste einige Auftritte in Wien absagen, da sie sich einer Schulter-OP unterziehen musste. Gute Besserung. +++ Der Organist Hans Haselböck, einer der bedeutenden Kirchenmusiker des Landes, ist in der Nacht auf Mittwoch im Alter von 93 Jahren gestorben. Dies teilte sein Sohn, der Dirigent Martin Haselböck, mit.
UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht hier – und ich verspreche: Danach mache ich mit Eigenwerbung ein bisschen Pause. Aber mein neuer Film „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ liegt mir wirklich am Herzen. Und ich freue mich, dass der Blick hinter die Kulissen in Bayreuth und über Wagner-Fans in der ganzen Welt bislang so gut ankommt. Am 28.10. startet der Film nun offiziell in Kinos in ganz Deutschland (hier die Liste), ich selber gehe parallel dazu auf Kinotour, und vielleicht ergibt sich ja das ein oder andere Bier mit Ihnen nach einer der Aufführungen.
Gemeinsam mit Sven Friedrich und anderen Protagonisten des Filmes beginne ich am 28. Oktober 2021 um 20:00 Uhr im Cineplex Bayreuth (Karten nur noch für die 18:00-Uhr-Vorstellung), dann geht es weiter: 29. Oktober 2021 – 19:00 Uhr, Cinecitta Nürnberg +++ 30. Oktober 2021 – 20:30 Uhr, Das Kino Salzburg (mit Christian Thielemann) +++ 31. Oktober 2021 – 17:45 Uhr, Rex Kino Bonn +++ 01. November 2021 – 16:30 Uhr, Atelier Düsseldorf +++ 01. November 2021 – 20:00 Uhr, Schloss Münster +++ 02. November 2021 – 20:00 Uhr, Gondel Bremen +++ 03. November 2021 – 20:00 Uhr, Kant Kino Berlin (mit Katharina Wagner) +++ 04. November 2021 – 17:00 Uhr, Passage Leipzig +++ 04. November 2021 – 20:15 Uhr, Programmkino Ost Dresden +++ 05. November 2021 – 18:00 Uhr, Arthauskino Cinema Frankfurt +++ 06. November 2021 – 17:00 Uhr, Harmonie Freiburg. Wie gesagt: Ich würde mich freuen, wenn wir uns sehen. Übrigens: Der israelische Komponist Avner Dorman hat die Musik einer neuen Oper geschrieben, die sich kritisch mit dem Werk Wagners befasst. Die Uraufführung von „Kundry“ soll am Donnerstagabend in der Tel Aviver Oper stattfinden. Das Libretto stammt von Yael Ronen, Regie führt die Niederländerin Lotte de Beer.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
brueggemann@crescendo.de
P.S.: Nach unserer Debatte über den Publikumsschwund an deutschen Häusern schickte mir ein Leser eine Empfehlung, den Essay „Die Musik ist tot“ von Jazz-Musiker Georg Breinschmid. Ein unterhaltsam-streitbarer Text, den ich an dieser Stelle gern weiter empfehle.