KlassikWoche 44/2020

Klassik auf der Inten­siv­sta­tion

von Axel Brüggemann

26. Oktober 2020

Der Hilfeschrei der Kultur, das Schweigen Grütters', die Causa Levit und die „Global Ode to Jo“ für Beethoven.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit einem Hilfe­schrei der bis zum Kinn unter Wasser stehenden Theater- und Kultur­schaf­fenden. Dagegen wirkt die Causa Levit fast schon lächer­lich banal. Kann wenigstes Beet­hoven uns noch Freude bereiten?

DER ANFANG VOM ENDE

Wir können leider nicht mit einem Intro der Ärzte beginnen (gemerkt? – dieses ist die unter­schwel­lige Bitte um ein klas­sisch-poli­ti­sches News­letter-Intro) – aber das Thema ist das gleiche wie bei den tages­themen am Freitag und bei den Demons­tra­tionen in am vergan­genen Samstag. Der Warnruf, dass die Kultur vor die Hunde geht! Auch wenn die Lage brenz­liger wird, wird die Argu­men­ta­tion auch in dieser Woche nicht logi­scher. Im heute journal erklärte Berlins Regie­render Bürger­meister Michael Müller zunächst, dass Nahver­kehr, Restau­rants und Theater mit guten Hygiene-Konzepten kein Herd neuer Corona-Neuin­fek­tionen seien (sondern in erster Linie der Fami­li­en­kreis und Partys). Dennoch werden bundes­weit die Besu­cher­zahlen in der Kultur weiter redu­ziert. Beson­ders dras­tisch ist (mal wieder) Markus Söder in . Bei einer Inzi­denz von mehr als 100 Infi­zierten pro 100.000 Einwoh­nern will er nur noch 50 Zuschauer (in Worten FÜNFZIG) in Theater lassen. Das hat zumin­dest die baye­ri­schen Inten­danten und Inten­dan­tinnen vereint: Staats­oper, Resi­denz­theater, , und Münchner Volks­theater sowie Gasteig, Thea­ter­aka­demie und Lust­spiel­haus (stell­ver­tre­tend für die freie Szene), außerdem die Inten­danten der Staats­theater und erklärten gemeinsam: „Wir haben nach­weis­lich grei­fende Hygie­ne­kon­zepte für den laufenden Spiel­be­trieb für diese sehr beson­dere Situa­tion. Es besteht keine Infek­ti­ons­ge­fahr, da der Mindest­ab­stand von 1,50 m und der Frisch­luft­aus­tausch im Zuschau­er­raum bei uns allen gewähr­leistet ist. Bisher hat es keine nach­weis­liche Infek­tion durch einen Thea­ter­be­such gegeben. Darum insis­tieren wir, auch bei einem hohen Inzi­denz­wert von 100 oder mehr unseren Spiel­be­trieb mit 200 bzw. 500 Zuschauern aufrecht­erhalten zu dürfen. Alles andere käme einem zweiten Lock­down gleich und bedeutet eine Exis­tenz­be­dro­hung für alle Bühnen in Bayern.“ Die Behörden in Salz­burg haben derweil eine Auffüh­rung am Landes­theater abge­sagt, da eine Nach­ver­fol­gung von Infek­tionen aus Über­las­tung nicht mehr geleistet werden kann. Und auch Italien hat gerade beschlossen, Theater, Opern- und Konzert­häuser zu schließen.

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Inzwi­schen wissen nicht einmal mehr subven­tio­nierte Häuser, wie sie weiter machen sollen. hat seine Vorstel­lungen abge­sagt, ebenso wie viele andere Häuser in , postete das Aus der „Toten Stadt“ in der „toten Stadt. Für die erklärte derweil in der Zeit: „Ich weiß nicht, welche Corona-Auflagen wir 2021 haben werden. Wir müssen extrem flexibel planen. (…) Der Bayreu­ther Werk­statt­ge­danke, die Sorg­falt, die wir auf jede Wieder­auf­nahme verwenden, das kommt uns in der Krise entgegen“, sagte Wagner. „Denn anders als ein ’normaler« Opern­be­trieb haben wir genug Proben­zeit, um Verän­de­rungen seriös umzu­setzen.

Kultur­in­vest-Kongress November 2020

Und unsere Freundin, Kultur­staats­se­kre­tärin Monika Grüt­ters? Die gibt in der Neuen Zeit­schrift für Musik ein Inter­view, in dem sie einfach mal alle und jeden lobt. Ob das reicht, um verlo­renes Vertrauen wieder­zu­ge­winnen? Kost­probe gefällig?: „Ich fand es bewun­derns­wert, mit wie viel Fantasie und Esprit so viele Künst­le­rinnen und Künstler auf die Krise reagiert haben. Gerade im digi­talen Bereich sind span­nende Formate entstanden, wie zum Beispiel die Haus­kon­zerte von .“ Ein biss­chen dieser künst­le­ri­schen Krea­ti­vität hätte man Monika Grüt­ters in den letzten Monaten gewünscht. Aber, wenn es ernst wird, schweigt sie umso lauter.

ENDLICH EIN GRUND ZUR BEET­HOVEN-FREUDE

Unter dem Motto „Global Ode to Joy“ laden Orchester aus der ganzen Welt (u.a. Cleve­land Orchestra, El Sistema, , etc.) und BTHVN2020 nun zur virtu­ellen Geburts­tags­feier ein: Jeder ist aufge­for­dert, seine indi­vi­du­elle Freude mit allen zu teilen, sie bei Face­book hoch­zu­laden. Mit ein biss­chen Glück wird das Video Teil der großen, virtu­ellen Abschluss-Insze­nie­rung, begleitet vom Stay At Home Choir und dem ORF Radio-Sympho­nie­or­chester. All das begleitet von einem neuen Text der Neunten von der Pulitzer-Preis­trä­gerin Tracy K. Smith. Wie all das geht? Mehr: hier. Viel­leicht eine gute Idee für den Musik­un­ter­richt (wenn er an Ihrer Schule noch statt­findet).

KÜNSTLER ALS VIRO­LOGEN

Auch diese Woche waren die Viro­logen unter den Künst­lern wieder unter­wegs: Bass hat versucht, in seinem YouTube-Inter­view mit seine radi­kale Anti-Corona-Haltung zu erklären und sich einen neuen Shit­s­torm einge­fangen. Auch die gerade von COVID-19 gene­sene Sopra­nistin hat ihre Sicht der Dinge erklärt: „Ich sehe die Opern­welt wie ein kleines Tier, das in einem Loch voller Wasser versucht, nicht zu ertrinken“, sagte die 49-Jährige im Inter­view. „Jeder Tag kann für einen Künstler die Strei­chung eines Konzerts, einen Programm­wechsel, eine Ände­rung bringen. Es ist schwierig, opti­mis­tisch zu sein.“ Einer geht noch? Na gut! „Ohne Unter­stüt­zung der Staaten und des Publi­kums wird es für Theater und Kinos eine Kata­strophe oder gar den Tod bedeuten. Man darf nicht schließen“, sagte Jonas Kauf­mann in Mailand. „Es hat in der Vergan­gen­heit Krisen­zeiten gegeben, doch die Theater blieben immer offen. Wenn man schließt, wird das für viele kleine Thea­ter­häuser und Orchester für immer sein.

LOST MIT LEVIT 

Svenja Flaßpoehler erwidert Carolin Emcke zum Fall Igor Levit.

Die Causa Igor Levit hat sich in der letzten Woche verselbst­stän­digt. Das Thema scheint inzwi­schen zu einer Refle­xions- und Selbst­dar­stel­lungs­fläche für jeden geworden zu sein: Chef­re­dak­teure, Kritiker, Psycho­logen und Philo­so­phen haben das Blatt immer wieder in neue Rich­tungen gedreht, so dass man am Ende ein wenig müde war, zu groß das Chaos einer eigent­lich wich­tigen Debatte. Levit selbst hat getwit­tert, dass der SZ-Artikel ihn getroffen habe. Die beiden wohl wich­tigsten (und besten) Posi­tionen der letzten Woche waren diese: Eben­falls in der Süddeut­schen hat Levits zeit­wei­lige Bühnen­part­nerin Carolin Emcke den Pianisten in Schutz genommen und forderte Respekt für Levit als Betrof­fenen von reli­giöser Verun­glimp­fung: „Es geht auch nicht darum, jede Refle­xion über die Frage, wie sich der Huma­nismus human vertei­digen lässt, zu verhin­dern. Ich halte es ethisch und poli­tisch für exis­ten­ziell zu über­legen, wie sich rassis­ti­schen, anti­se­mi­ti­schen Bewe­gungen begegnen lässt, ohne sich von ihrem Hass anste­cken und defor­mieren zu lassen. Aber das gelingt nur, wenn man die Menschen, die diesem Hass unter­worfen sind, nicht allein lässt.“ Eine span­nende Erwi­de­rung verfasste Svenja Flaß­poehler im Philo­so­phie-Magazin: „Mir geht es hier viel­mehr um die Geste der schüt­zenden Hand, die Carolin Emcke über Igor Levit legt. Gewiss in bester Absicht, zumal Levit real mit dem Tod bedroht wird; aber eben mit einer Kehr­seite: Wird der welt­be­rühmte Pianist doch nolens volens auf eine wandelnde Wunde redu­ziert, die, wie Emcke schreibt, seine subjek­tive Perspek­tive nicht zu über­schreiten vermag und weit­räumig abge­schirmt werden muss auch vor solchen Äuße­rungen, die über­haupt keine anti­se­mi­ti­schen Inten­tionen verfolgen.“ 

UNTER­RICHT IN ZEITEN VON CORONA

So wenig Aufnah­me­prü­fung war noch nie. Wir Profes­soren wussten schon lange, dass es dieses Jahr anders werden würde“ – mit diesen Worten beginnt ein Text von Kompo­nist , der in der nmz die Frage beant­wortet, wie Musik­un­ter­richt in Zeiten von Corona aussehen könnte und über die Aufnah­me­prü­fungen unter ganz beson­deren Bedin­gungen in München schreibt: „Die beiden Aufnah­me­prü­fungs­tage waren dann genauso, wie ich es mir vorge­stellt hatte. Die Münchener Musik­hoch­schule war so leer wie noch nie. Allge­mein herrschte große Unsi­cher­heit ange­sichts der Coro­na­re­geln: verun­si­cherte Studenten, die nicht wissen, ob sie nun bei der Prüfung die Maske abnehmen können oder nicht (die auffal­lend wenigen asia­ti­schen Bewerber*innen behielten sie alle eisern auf), lange Pausen, um zu lüften, den Flügel zu desin­fi­zieren usw.“ 

NEUE STIMMEN DIGITAL

Der Inter­na­tio­nale Meis­ter­kurs der NEUEN STIMMEN erlebt in seiner 13. Auflage eine Première: Vom 26. bis 30. Oktober bekommen elf junge Opern­sän­ge­rinnen und ‑sänger aus neun Ländern zum ersten Mal die Möglich­keit, in einem voll­ständig digi­talen Format sowohl ihre künst­le­ri­schen als auch karrie­re­be­glei­tenden Fähig­keiten weiter­zu­ent­wi­ckeln. Per Video tauschen sie sich unter­ein­ander aus und lernen sowohl in der Gruppe als auch in Einzel­trai­nings von renom­mierten Künst­lern und Dozenten, darunter der Mezzo­so­pra­nistin Bernarda Fink, Vocal Coach John Norris, dem Tenor , der Regis­seurin Martina Gredler sowie der Casting Direk­torin der Evamaria Wieser. Außerdem wird es einen Podcast mit Experten geben. Und da wir gerade beim Nach­wuchs sind: Die Oper schreibt erneut einen Wett­be­werb für junge Kompo­nis­tinnen und Kompo­nisten unter 35 Jahren aus – in dieser Spiel­zeit zu dem mehr­schich­tigen und heraus­for­dernden Thema „Wahr­heiten“.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

feierte eine große Gala im Bolschoi – seine Mitstreiter (siehe oben) wurden dafür eigens mit Privatjet aus West­eu­ropa einge­flogen. Ganz nebenbei sagte Domingo, dass er noch nicht ans Aufhören denke: „Solange ich mich stimm­lich gut fühle und das Publikum zufrieden ist, so lange singe ich weiter“, so der Sänger gegen­über der Deut­schen Presse-Agentur nach einem Konzert in . Na denn. +++ Eine der trau­rigsten Nach­richten der letzten Woche: Der Pianist Keith Jarrett wird nicht mehr öffent­lich auftreten. Einer seiner letzten Auftritte war 2017 in der Carnegie Hall, damals noch mit einem enga­gierten Appell gegen Donald Trump. Dann wurde es still. Nun die Nach­richt der New York Times, dass der 75-Jährige 2018 einen Schlag­an­fall erlitten hätte, danach einen weiteren. Und dass es unwahr­schein­lich sei, dass er jemals wieder in der Öffent­lich­keit auftrete. +++ Die wollen als erstes Orchester wieder nach Asien fliegen: Vor der Gast­spiel-Reise nach will das Ensemble sich in Wien zunächst in eine Quaran­täne im Hotel begeben, bevor es, weit­ge­hend abge­schirmt, zu den Auftritten fährt. Der Phil­har­mo­ni­ker­ball wurde derweil offi­ziell abge­sagt.

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE #2? 

Es ist inzwi­schen zur Gewohn­heit geworden, diesen News­letter in schweren Tagen mit etwas Lustigem aufzu­hören (da wir ja auch keine Ärzte hatten, um ihn einzu­leiten – was ist los: Mark Scheibe?!). Hier ein neuer Streich der Sängerin Sara Hersh­ko­witz – dieses Mal die inter­na­tio­nale Back­stage-Gratu­la­tion nach dem Konzert. 

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de