KlassikWoche 47/2020

Kauf­manns Ausver­kauf und Mutters Gottes­dienste

von Axel Brüggemann

16. November 2020

Das irritierende Verhalten von Politikern, die Pläne von Jonas Kaufmann und die Idee von Anne-Sophie Mutter

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

puhhhh: Morgen beginnt der Voll-Lock­down in Öster­reich (Orchester dürfen weiter proben), und die Corona-Zahlen in stimmen wenig opti­mis­tisch. Es zeichnet sich ab, dass der Winter schwer wird – vor allem für Musi­ke­rinnen und Musiker. Aber: Es gibt auch Opti­mismus, entdeckt zum Beispiel die Kirchen als neue Bühnen – jede Messe ein Konzert. Könnte ein Trend werden! 

CORONA-KLASSIK-TICKER I

Es ist Mal wieder Lock­down-Zeit, und obwohl uns dieses Mal alles anders vorkommt, entwi­ckeln wir doch so etwas wie Routinen: von heute Abend an wird Igor, die Hantel, Levit (er hebt inzwi­schen 100 Kilo!) wieder streamen, Daniel Hope ist schon wieder auf Sendung bei (dieses Mal mit Nach­wuchs­künst­lern), und die übli­chen Verdäch­tigen fangen allmäh­lich an, auf ihren Social-Media-Kanälen durch­zu­drehen. Wir wollen diesen Lock­down ein biss­chen anders sein. Opti­mis­ti­scher viel­leicht. Und: uns die Leiden­schaft­li­chen nicht verderben lassen.

+++ Viele Künstler – allen voran der desi­gnierte Inten­dant des Beet­ho­ven­festes in , Steven Walter, – sind irri­tiert über ein Video, das -Würt­tem­bergs Minis­ter­prä­si­dent Winfried Kret­sch­mann online gestellt hat: Ein deut­scher Tänzer, der es bis zur Zürcher Oper gebracht hat, erklärt dort, dass er durch die Corona-Krise erst seine eigent­liche Beru­fung gefunden habe: Er hat den Tanz ad acta gelegt und studiert nun Medizin. Eine Ohrfeige für die Kultur­szene. Walter schreibt: „Dieses ausdrück­lich und höchst­staat­lich als ‚Kampagne der Landes­re­gie­rung‘ gela­belte Video hinter­lässt bei denen, die trotz allem Kunst machen wollen, weil sie müssen – und damit sehr viel zwar nicht zum Über­leben, aber zum LEBEN beitragen (können) – ein sehr ungutes Gefühl. Es ist meinet­wegen gut und richtig, was Mike hier für sich entschieden hat – aber was genau soll hier die Kampagne« sein?“ +++ Während die Schlie­ßung von Fitness-Studios in Bayern gekippt wurde, konnte sich Dieter Haller­vorden mit seinem Eilan­trag gegen die Schlie­ßung seines Schloss­park Thea­ters nicht durch­setzen. In Öster­reich streben nun der Diri­gent und Pianist Florian Krump­böck, Florian Dittrich und Rechts­an­walt Wolfram Proksch eine Verfas­sungs­klage gegen die Schlie­ßung der Kultur­be­triebe an.+++ Corona-Warn­stufe in Mailand: Zahl­reiche Mitglieder des Chores und des Orches­ters der Mailänder Scala sind an Corona erkrankt. Insge­samt sind mindes­tens 50 Künst­le­rInnen betroffen, Konzerte wurden abge­sagt, die Saison verschoben.

DAS POLI­TI­SCHE EXTRA­WÜRST­CHEN

Nordrhein-Westfalens Kultusministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen

Extra­wurst“, dieses Wort hat Nord­rhein-West­fa­lens Kultus­mi­nis­terin Isabel Pfeiffer-Poensgen diese Woche geprägt – die Kultur dürfe in der Corona-Zeit keine „Extra­würste“ braten, sagte jene Frau, die eigent­lich Anwältin von Künst­le­rInnen sein sollte und erklärte der Welt, warum Inten­dan­tInnen endlich aufhören sollten, sich gegen Schlie­ßungen ihrer Häuser zu wehren. Eine ihrer absurden Forde­rungen ist, die Szene solle sich „nicht zu sehr aus dem gesell­schaft­li­chen Konsens heraus­be­wegen“. Maul halten! Still stehen? Merk­wür­dige Ansage für eine Kultur­mi­nis­terin.

Mir gefiel der Kommentar von Detlev in der Deut­schen Bühne: „Gerade komplex orga­ni­sierten künst­le­ri­schen Insti­tu­tionen wie den Thea­tern würde es viel­leicht sogar gut tun, wenn sich die Politik hier zu länger­fristig dimen­sio­nierten und damit bere­chen­ba­reren Entschei­dungen entschließen könnte. Aber sie muss diese Entschei­dungen auf Augen­höhe mit dem Wert begründen, den das Grund­ge­setz der Kunst beimisst, und mit einer argu­men­ta­tiven Klar­heit, die den tempo­rären Ausnah­me­zu­stand mit der prin­zi­pi­ellen Unver­zicht­bar­keit der Kunst und mit ihrer essen­ti­ellen, auch juris­tisch begrün­deten Beson­der­heit in Bezie­hung setzt.“ Manuel Brug beklagt in der Welt dagegen fehlende Inno­va­ti­ons­kraft vieler Häuser und feiert die Kompo­nistin Sofia Gubai­du­lina, die mit ihrem Stück für Beet­hoven bei „ Modern“ als eine der wenigen ein musi­ka­li­sche State­ment gesetzt hätte. 

I’M DREA­MING OF A „WISE“ CHRISTMAS

Wahn­sinn, was sich da im Netz zusam­men­braut, egal, ob auf Face­book oder auf YouTube. Das neue Weih­nachts­album „White Christmas“ von , in dem er sich als herz­er­wär­mender Locken-Schnee­mann mit ollen US-Songs präsen­tiert, spaltet die Klassik-Welt: Muss das nach „Dolce Vita“ und „Wien“ wirk­lich sein? Und stimmt es, dass Kauf­mann als nächstes Strauss« „Vier letzte Lieder“ (kompo­niert für Frau­en­stimmen) aufnehmen will – nur weil er der erste Star-Tenor sein möchte, der das tut? Klassik als neue olym­pi­sche Diszi­plin: popu­lärer, höher und exzen­tri­scher? Ich jeden­falls finde in meinem Kommentar für den SWR, dass Kauf­mann nicht nur mit seiner amazon-prime Home­story und seinen aktu­ellen Projekten all jenen Künst­lern in die Suppe spuckt, die gerade darum kämpfen, dass ihre Kunst eben nicht als seichte Unter­hal­tung abge­schafft wird. Die schönste Persi­flage: Jemand hat eine neue Mariah Carey-CD ins Netz gestellt, beim Label singt sie „Italian Soprano Arias“, unter anderem O mio babbino caro“ – große Klasse!

DER VERLO­GENE SCHWAN 

https://​www​.youtube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​_​H​E​u​C​3​r​8​IxM

Ich muss zugeben: Mir ging es ähnlich wie FAZ-Ballett-Kriti­kerin Wiebke Hüster, als ich das Video einer an Alzheimer erkrankten Balle­rina auf meiner Face­book-Seite sah. Ich schaute wie bei einem Auto­un­fall zu: berührt, neugierig, gleich­zeitig im vollen Bewusst­sein, dass mir all das zu intim erschien und sich im Hinter­kopf die Zweifel formierten! Die Ex-Tänzerin Marta C. González hört in dem Video angeb­lich „Schwa­nensee“ (in Wahr­heit „Der ster­bende Schwan“) und beginnt, sich an alte Bewe­gungen zu erin­nern. Eine Charity-Orga­ni­sa­tion, die Alzheimer-Pati­enten mit Musik hilft, hat mit diesem Video geworben und dabei González sogar als Tänzerin des legen­dären City Ballet ausge­geben, was falsch war, und Bilder einer Balle­rina einge­blendet, die auch nicht González war. Am Ende hagelte es Entschul­di­gungen: „Die Stif­tung ‚Música para despertar‘ entschul­digte den Fake: Man habe über keine Tanz­auf­nahmen von González verfügt. Der Zweck, mit Empa­thie und Schön­heit Geld für Gutes zu sammeln, heiligt nicht das Mittel des Dieb­stahls von Lopat­kinas Iden­tität. Wer mit einem bewe­genden indi­vi­du­ellen Schicksal wirbt, sollte die Rechte des Indi­vi­duums am eigenen Bild respek­tieren. Lopat­kina ist welt­be­rühmt und bestens zu erkennen. Für manche ist es eine Neuig­keit, dass eine Balle­rina gar nicht wie die andere aussieht.

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CORONA-KLASSIK-TICKER II

Und wie steht es um die Hilfen für Künst­le­rInnen und Solo-Selbst­stän­dige? Tja, Monika Grüt­ters ist wieder aufge­taucht und erklärt, dass wir all das nur ihrem Kampf zu verdanken hätten. Abge­sehen davon, dass es in erster Linie eine Idee des Wirt­schafts­mi­nis­ters war, ist immer noch offen, ob es dieses Mal denn klappt. Seit fast einem Jahr klappt es nämlich nicht! Allein die Absur­dität, dass Hilfen allein für November ange­dacht sind (was war mit den vorhe­rigen Ausfällen?). Unklar, wann sie endlich abrufbar sind. Das ist für prekär lebende Künst­le­rInnen ein Unding! Und das neue 5.000-Euro-Hilfs-Versprechen? Bislang eben­falls nur eine Ankün­di­gung. In diesem News­letter werden wir uns Euphorie erst wieder leisten, wenn der erste Musiker Hilfe auf dem Konto hat. Aber hier noch ein Service: Der BR hat über­sicht­lich aufge­listet, wie Betrof­fene in um Hilfen anfragen können. +++ Am Sonntag haben Anne-Sophie Mutter und andere Künstler ihre Idee Wirk­lich­keit werden lassen: Wenn Gottes­häuser geöffnet sind, so ihre Über­le­gung, dann müssten wir eben jede Messe zu einem Konzert mit bezahlten Musiker machen! Der Anfang fand gestern in der Thomas­kirche in statt. Ein Modell das Schule macht? Auch Cellist war dabei. Er sagt: „Die Aktion ist ein musi­ka­li­scher Hinweis darauf, dass wir Künstler noch da sind, soli­da­risch mitein­ander sind, helfen wollen und gerade auch die Politik darauf aufmerksam machen wollen, in welch miss­li­cher Lage sich die Kunst, Kultur und alle Künstler befinden. Es geht uns aber auch darum zu zeigen, dass wir Musik teilen müssen, weil das der mensch­li­chen Psyche sowie Gesund­heit dient und Kultur eben nicht nur eine reine Frei­zeit­be­schäf­ti­gung ist, sondern wirk­lich essen­tiell und lebens­wichtig.

SPAREN AM GASTEIG

Philharmonie im Münchner Gasteig

Uns sind Steu­er­ein­nahmen von fast einer Milli­arde wegge­bro­chen, die Ausgaben sind stark gestiegen“ – das hat Münchens SPD/­Volt-Frak­ti­ons­vor­sit­zende Anne Hübner zu bedenken gegeben. Und so hat die rot-grüne Regie­rungs­ko­ali­tion sich darauf verstän­digt, bis zu 15 Prozent der Kosten für die Gasteig-Sanie­rung einzu­sparen und die Ausgaben von derzeit einer geschätzten halben Milli­arde auf 450 Millionen Euro zu deckeln. Man kann darüber denken, was man will, deut­lich wird schon jetzt: Corona-Defi­zite werden in Zukunft noch viele Kultur-Projekte treffen.

DIE ENDLOSEN AFFÄREN

Der Komponist Hans-Jürgen von Bose in jungen Jahren, heute vor Gericht wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung.

Vorletzten Sonntag schrieb Thilo Komma-Pöllath noch in der FAZ: „Seit der Verur­tei­lung von Sieg­fried Mauser wegen sexu­eller Nöti­gung kämpft die Musik­hoch­schule in um ihr welt­weites Renommee. Nun beginnt ein neuer Prozess gegen einen weiteren Professor. Der Vorwurf: Verge­wal­ti­gung.“ Am 13. November begann der Prozess gegen den Kompo­nisten Hans-Jürgen von Bose. Die Münchner Musik­hoch­schule wollte einen eigenen Beob­achter schi­cken. Und tat es dann doch nicht. Der Grund: „Der dafür vorge­se­hene Professor der Ludwig-Maxi­mi­lians-Univer­sität München hat in diesem Jahr auch AfD-Mitglieder in Verfahren in Sachen Partei­spenden vertreten. Als Fach­ver­treter im Sexu­al­straf­recht ist er eher bislang nicht hervor­ge­treten.“ Inzwi­schen gibt es einen aktua­li­sierten Stand, und all das brachte den Blog musik/​kultur/​unrat auf die Palme, der fragt: „Kann sich irgendwer erklären, warum die einfach ihre Vergan­gen­heit nicht auf die Kette bekommt. Erst die ganzen Verfahren um Sieg­fried Mauser, der zwar verur­teilt, irgendwo jenseits Bayerns versucht, den Antritt seiner Haft­strafe zu verhin­dern. Natür­lich kann man im Nach­hinein nichts dafür, was passiert ist, aber im Zuge der Aufar­bei­tung sind so viele unse­lige Probleme neu aufge­worfen worden, dass diese rück­gängig gemachte Bestel­lung des Prozess­be­oach­ters nur das Tüpfel­chen auf dem i zu sein scheint, viel­leicht ist es aber auch mehr und viel­leicht nicht das letzte Fett­näpf­chen dieser ganzen rutschigen Ange­le­gen­heit. Ist es wirk­lich nur Versagen, Unfä­hig­keit oder Absicht, was dahinter steht?

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Gestorben mit nur 37 Jahren: der Cellist Jan Brachmann

Eine gute Nach­richt für das Jugend­or­chester. Gerade erreicht uns exklusiv die Nach­richt, dass Sarah Wedl-Wilson zur neuen Präsi­dentin gewählt wurde, die Rektorin der Musik­hoch­schule „“: „Das Gustav Mahler Jugend­or­chester bildet einen wich­tigen Meilen­stein für junge Künstler:innen, für den Weg in eine profes­sio­nelle Musik­lauf­bahn, quasi das goldene Band zwischen der studen­ti­schen und profes­sio­nellen Bühne“, sagte Wedl-Wilson. +++ Linda Marks, einst Agentin bei Harri­sonPar­rott macht sich selbst­ständig und eröffnet ihre eigene Agentur, unter anderem mit den Diri­genten David Zinman, Robert Spano und Rumon Gamba. +++ Der Konzert­meister der MET in New York, Benjamin Bowman, hat erklärt, dass er bei einem deut­schen Orchester anfangen würde. Er schrieb mit Blick auf Inten­dant Peter Gelb: „In einem Land, das seine Künstler nicht unter­stützt, muss auch das Manage­ment für Werte stehen und darf sie nicht verkaufen. Wir brau­chen eine glaub­wür­dige Führung mit Visionen. Ein Drittel der Orches­ter­mit­glieder hat New York inzwi­schen verlassen.“ +++ Traurig und voller Mensch­lich­keit ruft Jan Brach­mann dem Cellisten Alex­ander Buslow in der FAZ nach, der mit nur 37 Jahren verstorben ist: „Er war ein Wunder­kind auf dem Violon­cello, über­flü­gelte schon mit drei­zehn Jahren die inter­na­tio­nale Konkur­renz und riss sein Publikum immer wieder durch sein Können und seine Herz­lich­keit hin.“

UND WO BLEIBT DAS GUTE?

Wiener Konzerthaus

Am Ende ein wenig Entspan­nung gefällig? Viel­leicht hier: Die „New York Times“ bittet ihre Leser, sich fünf Minuten Zeit zu nehmen, danach würde man Soprane lieben. Mit von der Partie: , , , und andere. Die waren eines der wenigen Orchester, das nie in Kurz­ar­beit war. Sie verstehen es – auch im neuen 247 Lock­down in Öster­reich – als Aufgabe, die Menschen mit Kultur zu versorgen. Koste es, was es wolle. Dafür hat Inten­dant Jan Nast nun das Format der „Wohn­zim­mer­kon­zerte“ erfunden: Jeden Freitag um Viertel nach acht auf der Face­book-Seite des Orches­ters. „Von zu Hause für zu Hause“ ist das Motto, unter dem Chef­di­ri­gent Haydn-Sinfo­nien präsen­tiert und seine Musiker in entspannter Atmo­sphäre als Solisten vorstellt. Ich bin an dieser Stelle – Sie ahnen es – befangen, denn ich war auch dabei. Hier gibt es unser Konzert vom letzten Freitag, und viel­leicht sehen wir uns ja diese Woche am Freitag um 20:15 auf der Seite der Wiener Sympho­niker? Ich würde mich sehr freuen.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de