KlassikWoche 05/2023

Wer steckt hinter Utopia?

von Axel Brüggemann

30. Januar 2023

Der Skandal um Anna Netrebkos geplanten Auftritt bei den Maifestspielen in Wiesbaden, die Umwandlung von musicAeterna zu Utopia, die Warnhinweise des Theaters Dortmund.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute lade ich Sie ein, etwas länger zu lesen, beson­ders was die neuen Recher­chen zum Curr­entzis-Orchester Utopia betrifft – geniales Marke­ting oder Mogel­pa­ckung? Außerdem nehmen wir vor unserem Freund Kai-Uwe in Schutz und thema­ti­sieren eines der wich­tigsten Themen über­haupt: die kata­stro­phale musi­ka­li­sche Bildung in Deutsch­land. 

Wie Kai-Uwe Anna zum Skandal macht 

Anna Netrebko als Tosca

Wer diesen News­letter aufmerksam liest, wird fest­ge­stellt haben, dass wir Anna Netrebkos Posi­tio­nie­rung gegen­über Russ­land und Putin intensiv begleitet und durch unsere Recher­chen auch zur Debatte gestellt haben. Als sie sich halb­herzig (zuletzt in der Zeit) vom Krieg distan­zierte, haben wir das zwar als Eier­tanz einge­ordnet, aber die Causa weit­ge­hend ruhen lassen. Denn Anna Netrebkos Naivität ist kaum geeignet, um an ihr eine poli­ti­sche Debatte aufzu­ziehen. Umso absurder ist es, dass ausge­rechnet unser Freund und Wies­baden-Inten­dant Kai-Uwe Laufen­berg es nun geschafft hat, Netrebko doch wieder als Skan­dalon zu instal­lieren. Dass sie an seinem Haus auftreten soll: geschenkt! (Das ist sie auch in Wien, Mailand und Posemuckel.) Aber Laufen­berg verkaufte ihren Auftritt bei den Maifest­spielen als poli­ti­schen Akt, da die Fest­spiele „allen poli­ti­schen Gefan­genen in dieser Welt gewidmet“ sind.

Netrebko als Kämp­ferin für Frei­heit war nun auch den poli­tisch Verant­wort­li­chen in Hessen zu viel: Der Chef der hessi­schen Staats­kanzlei, Axel Winter­meyer (CDU), kündigte an, dass Minis­ter­prä­si­dent Boris Rhein (CDU) seine Schirm­herr­schaft bei den Maifest­spielen ruhen lassen werde. Außerdem werde man den Voremp­fang absagen. Wies­ba­dens Ober­bür­ger­meister Gert-Uwe Mende und Kultur­de­zer­nent Axel Imholz (beide SPD) bedau­erten, dass man „in dieser sensi­blen Frage kein Einver­nehmen mit dem Inten­danten“ habe erzielen können. Auch die ukrai­ni­schen Künst­le­rInnen weigern sich inzwi­schen, mit Netrebko aufzu­treten.

Tja: Kai-Uwe schafft es selbst als Inten­dant auf Abruf noch, ein Opern­haus in Schutt und Asche zu legen (ganz zu schweigen von der Anti­se­mi­tismus-Debatte am Haus, in der der bulga­risch-jüdi­sche Musiker Ilia Jossifov nun gekün­digt hat – er wirft Geschäfts­führer Holger von Berg Mobbing vor). Und, ja, es ist inzwi­schen ein wenig anstren­gend, wie Kai-Uwe all das nutzt, um seinen eins­tigen Corona-Wahn nun auch noch als Frei­heits­kampf zu stili­sieren. Da steigen nun selbst seine eins­tigen Sympa­thi­santen aus. Auch in Russ­land debat­tiert man die Causa Netrebko inzwi­schen neu und verteu­felt die Sängerin. Ich persön­lich bin da ganz bei Dominic Konrad vom SWR – Netrebko hat sich all das auch ein biss­chen durch ihre Haltungs­lo­sig­keit selber zu verdanken. Gerade in diesen Zeiten kann Haltung nicht schaden, aber: Es gibt auch wich­ti­gere Themen!

Wer steckt hinter Utopia?

Teodor Currentzis

Die Aufre­gung über Anna Netrebko ist, wie einem Verkehrs­un­fall zuzu­schauen. Doch wo bleibt die Aufre­gung über jene, die bewusst und voll­kommen ohne Wider­rede im Dienste von stehen? Orchester Musi­cAe­terna nimmt bis heute kommen­tarlos Geld von der VTB Bank, arbeitet im Dienste von Gazprom und hat sich als Chef des Orches­ters musi­cAe­terna bislang nicht von den Ausfällen seiner Musi­ke­rinnen und Musiker distan­ziert (und natür­lich auch nicht vom russi­schen Angriffs­krieg auf die Ukraine). Curr­entzis scheint weder ein Problem mit den Kampf­lie­dern seiner Ensemble-Mitglieder für die russi­sche Front zu haben, noch mit deren Verbal-Angriffen auf euro­päi­sche Jour­na­listen, die sie als „Faschisten“ bezeichnen. Musi­ke­rInnen, die in Baden-Baden und Dort­mund kurz­fristig und medi­en­wirksam (und wohl auf Druck der Inten­danten) „suspen­diert“ wurden, stehen noch immer auf der Website des Orches­ters und spielen in Russ­land weiter. Curr­entzis ist als Chef für all das verant­wort­lich. Doch er schweigt und tanzt weiter auf den Hoch­zeiten in Russ­land und Europa. 

Immerhin verzichten west­liche Veran­stalter (von Baden-Baden bis Salz­burg) inzwi­schen auf das Enga­ge­ment von musi­cAe­terna, doch statt­dessen program­mieren sie Curr­entzis« neues Orchester: Utopia! Nach eigenen Angaben zu 50 Prozent von der Privat­stif­tung finan­ziert (also indi­rekt von Red Bull, bei dessen Sender Servus-TV nicht nur sehr rechte Talk­shows laufen, sondern immer wieder seine Russ­land-Liebe bekunden durfte), zur anderen Hälfte von nicht benannten „Mäzenen“. Es ist schwer, die genauen Struk­turen des Orches­ters zu recher­chieren. Derzeit sieht alles so aus, als würde aus dem „Raider“-Orchester musi­cAe­terna das „Twix“-Orchester Utopia werden. Viele der handelnden Personen sind die glei­chen geblieben. Ein Groß­teil der Utopia-Geschäfte wird offen­sicht­lich von der „Euphonia gGmbH“ abge­wi­ckelt. Sie wird geleitet von Ilja Chakhov, der auch „Chief Execu­tive Officer and Artistic Plan­ning Director“ von musi­cAe­terna ist und zu den engsten Curr­entzis-Vertrauten gehört. Auf mehr­fache Anfrage nach seiner Rolle und der konkreten Unter­neh­mens­struktur von Utopia hat er mir bislang nicht geant­wortet. 

Die Geschäfts­adresse der „Euphonia gGmbH“ ist die gleiche Adresse wie jene von „Andreas Richter Cultural Consul­ting“ in Berlin. Auf weitere Nach­fragen antwor­tete Richter im Curr­entzis-Style: „Ich schätze die Pres­se­frei­heit sehr und bin froh, in einem Land zu leben, in dem sie geachtet und respek­tiert wird. Diese Frei­heit impli­ziert aber auch, nicht a priori auf jede Frage zu antworten. In Ihrem Fall nehme ich gerne davon Gebrauch.“ 

Ob das lang­fristig reichen wird? Es werden wohl noch viele Frage gestellt werden über die magi­sche Verwand­lung von musi­cAe­terna zu Utopia – beson­ders, was die andere Hälfte der Geld­geber betrifft! Aber auch, was das Personal betrifft. An einigen Pulten saßen bislang durchaus proble­ma­ti­sche, russi­sche musi­cAe­terna-Mitglieder, die 2014 die Anne­xion der Krim oder den Abschuss des Fluges MH17 im Donbas verharm­lost haben. Proble­ma­tisch wird es wohl auch beim neu zu grün­denden Utopia-Chor, der laut Salz­burger Fest­spiele vorge­sehen ist. Sind auch Namen wie musi­cAe­terna-Chor­leiter Vitaly Polonsky und Evgeny Vorobyov im Gespräch? Doch es gibt auch Abkehr­be­we­gungen. Nicht nur der Inten­dant der Kölner Phil­har­monie, Louw­rens Lange­voort, will Curr­entzis nicht mehr enga­gieren. Die Berliner Phil­har­mo­niker ließen wissen (nachdem Hornistin mit Utopia aufge­treten war), dass man den Musi­ke­rInnen in der derzei­tigen Lage nicht unbe­dingt raten würde, bei diesem Orchester mitzu­spielen. Und auch die Agentur forar­tists von Maren Borchers (sie vertritt auch und hatte den Jubel-Pres­se­text für Utopia zu verant­worten) erklärt nun: „Ich bin für die Pres­se­ar­beit des Orches­ters seit Dezember nicht mehr verant­wort­lich.“ Es scheint langsam vielen klar zu werden, dass Utopia zum großen Teil musi­cAe­terna in anderer Verpa­ckung ist. Nur Sabrina Haane vom SWR Sympho­nie­or­chester scheint all das nicht zu stören – sie macht derzeit eine so selbst­be­wusst strot­zende Figur wie der Inten­dant der Münchner Phil­har­mo­niker, Paul Müller, als er noch mit allen Mitteln an als Chef­di­ri­genten fest­ge­halten hatte. Wir bleiben dran – verspro­chen.

Drin­gende Warnung vor dem Theater!

Das Theater Dort­mund nimmt es ganz genau und warnt sein Publikum ab sofort, bevor die Auffüh­rung beginnt im Internet mit eigenen Warn­hin­weisen.

Warn­hin­weise liegen derzeit vor für: 1. Die Zauber­flöte (Sexismus und Stro­bo­skop­licht), 2. Cabaret („in der Szene vor der Pause werden Haken­kreuze und NS-Uniformen gezeigt sowie offenes Feuer von getra­genen Fackeln“) und 3. La Juive („Zu Beginn des Stückes steigt im hinteren Bühnen­ab­schnitt kurz Nebel auf.“) Ja, die Oper ist gefähr­lich: Mord und Totschlag jeden Abend, Inzest, Geschichts-Bewäl­ti­gung und – ACHTUNG, liebe Leute – es wird an allen Abenden gesungen statt gespro­chen! 

Auf unseren Bühnen

Manuela Leonhartsberger

Vor zwei Wochen haben wir an dieser Stelle über das Regie­theater debat­tiert. Schon damals haben mir einige geschrieben, dass Altmeister in Linz mit Verdis Macht des Schick­sals zeigen wird, wie frisch das gute alte Regie­theater sein kann. Leider habe ich die Auffüh­rung (noch) nicht gesehen – aber Rein­hard Kager hat in der FAZ eben­falls geschwärmt: „Die Wurzel des Übels ist das auto­ri­täre, patri­ar­cha­li­sche Gefüge: Peter Konwit­schny streicht Verdis Macht des Schick­sals auf das Nötigste zusammen. Das Ergebnis ist ein beklem­mender Thea­ter­abend in Linz.“ Auch Der Stan­dard ist begeis­tert.

Ich selber war gestern in Bremen in Ariadne auf Naxos (mit Diri­gent Stefan Klin­gele und Regis­seur Frank Hilbrich), ausnahms­weise voll­kommen privat, deshalb nur diese kleine Bremen-Expe­ri­ence: Nach zehn Minuten kommt eine Frau zu spät an ihren Platz (zwei Reihen vor mir), in Parka, mit Kapuze auf dem Kopf. Sie schmeißt sich auf ihren Sitz, wankt wie in Trance von rechts nach links und von links nach rechts, dann beginnt es in unseren Reihen langsam nach Hanf-Plan­tage zu riechen. Aber, hey: Wahr­schein­lich hatte sie mehr Spaß als wir bei dieser Auffüh­rung, die mich ganz nebenbei das Wort „Belang­lo­sig­keits­theater“ erfinden ließ.

Perso­na­lien der Woche

Thomas Guggeis

Milo Rau wird Leiter der Wiener Fest­wo­chen. Wiens Kultur­stadt­rätin sagt: „Als poli­tisch denkender Künstler arbeitet Milo Rau in verschie­denen Berei­chen von Theater über Oper bis Film und ist inter­na­tional bestens vernetzt. Somit steht nun wieder eine strah­lende Künst­ler­per­sön­lich­keit an der Spitze der Wiener Fest­wo­chen.“ +++ Nach dem Verzicht von auf den Posten des Gene­ral­mu­sik­di­rek­tors der Berliner Staats­oper sind dort Diri­gate für die ursprüng­lich mit dem 80-Jährigen geplanten Opern neu besetzt worden. Der noch immer gesund­heit­lich ange­schla­gene Baren­boim ist nach Angaben der Oper nur für zwei Konzerte am 26. und 27. Februar mit Werken von vorge­sehen. Bei Georges Bizets Carmen über­nimmt die Leitung. Samson et Dalila wird Thomas Guggeis diri­gieren. +++ Die Gene­ral­sa­nie­rung Münchner Gasteig verzö­gert sich weiter, die Stadt findet offenbar keinen Investor. Das geht aus einer nicht-öffent­li­chen Vorlage hervor, die am 1. Februar in der Voll­ver­samm­lung bespro­chen wird, wie der Münchner Merkur berichtet. +++ Meinen lustigsten Tweet habe ich diese Woche einem Foto von Eric Dieten­meier zu verdanken. Es zeigt die Baye­ri­sche Staats­oper auf der Suche nach jungem Publikum unter 0,8 Diop­trien.

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

https://​www​.youtube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​A​E​s​S​D​x​g​h​5​0​Q​&​t​=​36s

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Sicher­lich nicht beim Musik­un­ter­richt in Deutsch­land – denn der fällt an unseren Grund­schulen zur Hälfte aus. Aber immerhin: Wir reden drüber und schaffen ein Bewusst­sein. Ich bewerbe meinen Podcast „Alles klar, Klassik?“ oft an dieser Stelle – aber selten war mir ein Thema so wichtig wie dieses. Zumal meine Gäste wich­tige Thesen aufstellen: Andreas Lehmann-Wermser, der an der ersten großen Bertels­mann-Studie von 2020 mitge­ar­beitet hat, sieht schwarz: „Damals haben wir gedacht, dass sich die Situa­tion an den Schulen ab 2028 wieder verbes­sern könnte. Diese Entwick­lung sehe ich derzeit nicht – es sieht dunkel aus!“ (direkt zum Gespräch) Auch der Geiger warnt: „Ich begeis­tere mich für Jugend­pro­jekte, und mein Zürcher Kammer­or­chester ist ein Vorreiter – aber wir dürfen von der Politik nicht allein­ge­lassen werden. Die Poli­ti­ke­rInnen dürfen sich nicht aus der schu­li­schen Verant­wor­tung schlei­chen und alles den Orches­tern über­lassen.“ (Direkt zum Gespräch) Die Land­tags­prä­si­dentin in Bran­den­burg und SPD-Bildungs­po­li­ti­kerin Ulrike Liedtke stellt fest, dass das größte Problem der Mangel an Lehre­rInnen ist. Man habe die Ausbil­dungs­zahlen verdop­pelt, aber die hohen Anfor­de­rungen schre­cken viele ab, auf Lehramt zu studieren. „Ich könnte mir vorstellen, dass wir die Eingangs­vor­aus­set­zungen verschieben – mehr von der Theorie zur Praxis.“ (Direkt zum Gespräch) Außerdem erklärt Mustafa Akça von der Komi­schen Oper in Berlin über seine Begeg­nungen mit Menschen in den Rand­be­zirken von Berlin. Ich würde mich freuen, wenn Sie mal rein­hören (bei apple oder Spotify) – und darüber spre­chen.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

Fotos: Reinhard Winkler, Marco Borrelli / Salzburger Festspiele, Nadia Romanova