KlassikWoche 06/2023
Flimms Leben und Utopias Geheimnisse
von Axel Brüggemann
6. Februar 2023
Zum Tod von Jürgen Flimm, der drohenden Einstellung der Briefausgabe von Richard Wagner, dem Münchner Gasteig und weiteren Kulturruinen im Freistaat Bayern.
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit Wagners Briefen, bayerischen Bausünden, einem Nachklapp zu Kai Uwe und Erinnerungen an Jürgen Flimm …
Erinnerungen an Jürgen Flimm
Die vielleicht schönste Erinnerung an Jürgen Flimm erinnere ich gar nicht selber. Regie-Titan Hans Neuenfels hat sie für mich erinnert, als wir vor einigen Jahren ein Interview für die FAZ geführt haben. Vor gut sieben Jahren waren Neuenfels und Flimm im gleichen Krankenhaus, beiden ging es nicht gut. Oder wie Neuenfels sagte: „Wir schauten dem Tode in die Augen.“ Die Männer machten einen Spaziergang auf einen Hügel, unten lag ein Friedhof. Flimm ging hinter Neuenfels her, das Gehen fiel ihm schwer. „Hans“, sagte er dann, atmete tief ein, blieb stehen und schaute über den Friedhof, „weißt du, was mir wirklich Angst macht?“ Neuenfels drehte sich um, erwartete nun eine Lebensbeichte. Und Flimm fuhr fort: „Ich weiß nicht, was ich nach den Salzburger Festspielen machen soll.“ Neuenfels sagte damals: „So ist er, der Jürgen: große Show, und ich dachte, es geht um alles – aber es ging nur um den Job.“
Dieses Wochenende ist Jürgen Flimm gestorben, mit 81 Jahren. Ein Macher, ein Strippenzieher, einer für den die Bühne eine kreative Management-Aufgabe war. Wir lernten uns kennen, als er noch Chef des Thalia Theaters war, damals schwärmte er mir in Hamburg von seinen Visionen vor, von einem Theater für alle Menschen. Wir stritten über seinen – wie ich fand – eher platten Bayreuther Ring im Kanzleramt. Überhaupt stritt er gern! Auch als Ruhrtriennale-Chef oder als Intendant der Salzburger Festspiele. Ich vergesse nicht, wie er mir in einer Talkshow des ORF einmal über den Arm strich, als ich in Rage war, und mir zuflüsterte: „Sie haben ja recht, Herr Brüggemann, aber ich mache das trotzdem anders.“
Jürgen Flimm war ein Menschenzusammenbringer. Einer, der die KünstlerInnen mindestens so liebte wie die Kunst. Einer, der zwar eitel war, seine Eitelkeit – wie im Staatsopern-Schatten hinter Daniel Barenboim – aber auch zurückstellen konnte. Einer, der langfristig und strategisch dachte. Jürgen Flimm war ein Intendant von gestern – vom guten Gestern, aber auch vom Gestern der Netzwerke und Freundschaftsdienste, aus jenem Gestern, das für Markus Hinterhäuser noch ein Heute zu sein scheint. Ich werde seine Hand auf meinem Arm immer mal wieder spüren, wenn ich meine, recht zu haben und gleichzeitig verstehe: Vieles in dieser Kultur ist nur ein großes und großartiges Spiel. Das habe ich von ihm gelernt, von Jürgen Flimm. Und vielleicht flaniert er weiter mit Hans Neuenfels, und die beiden schauen hin und wieder mal auf uns herab – und erzählen sich gegenseitig, dass sie alles anders und natürlich viel besser gemacht hätten als wir. Zum Wohl, Sie beiden da oben!
Der Machtkampf in Salzburg beginnt
Vor diesem Sommer müsste eigentlich noch entschieden werden, ob der Intendant der Salzburger Festspiele, Markus Hinterhäuser, über 2026 hinaus verlängert wird. Jetzt scheint er seinen Bewerbungskampf begonnen zu haben. Und zwar zunächst einmal in den eigenen Reihen. Die Kronenzeitung in Österreich berichtet von Verwerfungen zwischen Festspiel-Präsidentin Kristina Hammer und Hinterhäuser. Angeblich habe Salzburgs Landeshauptmann Wilfried Haslauer als Vermittler vorgeschlagen, dass Hammer sich aus einigen Verantwortungsbereichen zurückziehen soll, die Hinterhäuser nun selber übernehmen soll, etwa die Informationspolitik gegenüber den Medien.
Nun, die Art und Weise, wie Hinterhäuser und seine Pressesprechrin in der Vergangenheit mit Medien-Kritik umgegangen sind oder die Causa Currentzis gehandhabt haben, war eher: hanebüchen. Im April sind Wahlen in Salzburg, der Landeshauptmann will vorher Ruhe. Offen sind auch die juristischen Verfahren gegen Hinterhäusers Vertrags-Politik. Ziemlich sicher, dass in der Zeit zwischen April und Juli allerhand los sein wird in Salzburg! Ob Hinterhäuser am Ende noch so lacht wie nach diesem Krone-Bericht kann eher bezweifelt werden.
Wagner-Briefausgabe vor dem Ende
Die Gesamtausgabe der Briefe von Richard Wagner wurde vorerst gestoppt. Wahnfried- und Nationalarchivdirektor Sven Friedrich erklärte, dass die zuletzt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Arbeitsstelle für die kommentierte Gesamtausgabe von Richard Wagners Briefen an der Universität Würzburg vor dem Aus stünde – und das, nachdem der Verlag Breitkopf & Härtel bereits 25 Bände veröffentlicht hat – noch fehlen die Jahrgänge 1874 und 1876 bis 1883. Es gibt eine Petition gegen diese Streichung.
Aus bayerischen Ruinen
Der Münchner Stadtrat hat das Vergabeverfahren für die Generalsanierung des Kulturzentrums Gasteig aufgehoben. Innerhalb der Frist sei nur eine einzige Bewerbung eingegangen, die zudem die Anforderungen nicht erfülle und ausgeschlossen werden musste, teilte die Stadt mit.
In einem lesenswerten Beitrag für den Bayerischen Rundfunk fasst Peter Jungblut die weiteren Bau-Probleme des Freistaates Bayern zusammen: vom neuen Münchner Konzertsaal, der nach zwanzigjähriger Debatte momentan abermals einer „Denkpause“ der Staatsregierung unterliegt, oder der Situation in Coburg. Hier verzögerte sich die Eröffnung der Ausweich-Spielstätte, bekannt als Globe-Theater, um ein ganzes Jahr, auch hier wird damit gerechnet, dass das Landestheater selbst mindestens zehn Jahre saniert werden muss. In Augsburg muss sich das Staatstheater seit 2016 mit einer ehemaligen Fabrikhalle im Textilviertel begnügen. In Würzburg muss sich Intendant Markus Trabusch ebenfalls mit einem provisorischen Quartier behelfen, der Blauen Halle in einem Gewerbegebiet am Stadtrand. Das Landestheater Niederbayern muss seit fast neun Jahren in einem Theaterzelt auf dem unwirtlichen Messegelände spielen.
Die Geheimniskrämerei von Utopia
Letzte Woche hatten wir es an dieser Stelle mit Teodor Currentzis« neuem Orchester Utopia zu tun. Unter anderem habe ich den Kulturmanager Andreas Richter gefragt: „In welcher Weise stehen Sie mit Utopia und/oder musicAeterna in Verbindung?“ Seine Antwort lautete: „Die Andreas Richter Cultural Consulting (ARCC) arbeitet als Dienstleister für das Utopia Orchester, also für die Euphonia gGmbH, und hat die Konzerte des Orchesters in Mitteleuropa im Oktober organisiert.“ Es hat sich gezeigt, dass Fragen gut ist, Nachrecherchieren sich aber durchaus lohnt. Richter scheint die Karten bei Utopia nicht klar auf den Tisch legen zu wollen. Denn ein einfacher Blick ins Berliner Handelsregister zeigt: Andreas Richter ist mit 25 Prozent an der „Euphonia gGmbH“, die, wie er selber schreibt, eigentlich Utopia ist, beteiligt – mit einer Einlage von 6.250 Euro. 50 Prozent hält Currentzis-Intimus und musicAeterna-„Gehirn“ Ilja Chakhov, und weitere 25 Prozent gehören Teodor Currentzis selber. Auch hier also: Es steckt sehr viel musicAeterna in Utopia. An all dem ist eigentlich gar nichts Anrüchiges, aber umso spannender wird die Frage: Warum die ganze Geheimniskrämerei?
Wer zahlt neben der DM Privatstiftung des ehemaligen Red-Bull-Chefs Dietrich Mateschitz, dem immer wieder eine rechtsnationale Haltung nachgesagt wurde, bei Utopia ein? Handelt es sich wirklich allein um westliche Quellen? Spricht Russland mit? Richter, der mir bereits bei der letzten Nachfrage erklärte, dass er die Pressefreiheit schätze, aber auch die Möglichkeit, nicht auf jede Frage antworten zu müssen, ließ auch diese Frage von mir unbeantwortet. Wahrscheinlich werden sie in Zukunft jene beantworten müssen, die Utopia verpflichten. Uneindeutigkeit scheint zum Geschäftsmodell des neuen Orchesters zu gehören. Erinnerungen an die Liechtensteiner musicAeterna-Stiftung, in der Wiens Konzerthauschef Matthias Naske zeichnungsberechtigt war, werden wach.
Auf unseren Bühnen
In Wien lief eine Première der Salome – nun ja: offenbar keine wirkliche Weiterentwicklung des Stamm-Repertoires, sondern – wenn man den Kritiken glaubt – eine eher minimalistische, langweilige und im wahrsten Sinne vom Odeur-Sponsor finanzierte, parfümierte Neuproduktion von Regisseur Cyril Teste. In Berlin sorgte derweil Simon Boccanegra an der Deutschen Oper für Diskussionen: Das Publikum in der Deutschen Oper wird „mit einer ambitionierten und streitbaren Inszenierung verwöhnt“, schreibt Volker Blech in der Morgenpost. „Vasily Barkhatov verlegt die Handlung aus dem 14. Jahrhundert ins Heute und versucht, eine Schneise durch all die Machtkämpfe und Familienverwicklungen zu schlagen. Zuerst erzählt er die Genueser Geschichte des Dogen Simon Boccanegra in einer Folge von mächtigen Männern, die letztlich nur wie singende Avatare in ihre hohen Ämter gelangen und irgendwann einsam scheitern müssen.“ Im rbb jubelt Andreas Göbel: „Mit Jader Bignamini steht ein absoluter Experte für italienische Oper am Pult. Er kann das begleiten, stützt Sängerinnen und Sänger, weiß Akzente zu setzen und ein paar schöne Farben aus dem Orchester herauszukitzeln.“
Kai Uwes Welt in Wiesbaden
Manchmal ist es einfach auch nervig, Dinge ernst zu nehmen. Letzte Woche ging es hier um die Internationalen Maifestspiele in Wiesbaden: Intendant Kai Uwe Laufenberg hatte Anna Netrebko (die FAZ berichtet für 100.000 Euro) eingeladen, Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende und Ministerpräsident Boris Rhein waren wenig begeistert, und die ukrainischen KünstlerInnen wollten nicht gemeinsam mit ihr auftreten. Dann legte Kai Uwe nach: In einer Mail an Kulturstaatsministerin Claudia Roth hätte der ukrainische Kollege Oleksandr Tkachenko die Einladung Netrebkos zu den Maifestspielen thematisiert, und Kai Uwe befürchtete eine Einflussnahme von Seiten der deutschen Politik. Also habe ich Claudia Roth um Stellungnahme gebeten: Sie verstehe die Kritik am Netrebko-Auftritt, hieß es aus ihrem Ministerium, habe aber keinen Brief von ihrem ukrainischen Amtskollegen erhalten (hier der ausführliche Wortlaut der Antwort). Auf meine erneute Nachfrage in Wiesbaden schickte man mir schließlich besagten Brief. Ich also wieder zu Claudia Roth. Die erklärte mir nun, der Brief, über den Kai Uwe schon am 30. Januar in seiner Pressemitteilung berichtet hatte (weil er ihm von Andreas Richter (sic!) zugespielt worden sei), wäre bei ihr erst am 2. Februar eingegangen – also erst nach der ganzen Aufregung aus Wiesbaden. Aus dem Bundeskanzleramt hieß es: „Die Kulturstaatsministerin kann die Bedenken des ukrainischen Kulturministers gegenüber einem gemeinsamen Auftritt ukrainischer Künstlerinnen und Künstler in einem Festival mit Anna Netrebko nachvollziehen. Anna Netrebko als Person hat in der Vergangenheit eine Unterstützung des Putin-Regimes sowie der sogenannten Separatisten der Donbass-Region gezeigt. Allerdings sollten die Künstlerinnen und Künstler in der Ukraine selbst darüber entscheiden können, ob sie gemeinsam mit Anna Netrebko in einem Festival auftreten wollen oder nicht, das wird Claudia Roth auch gegenüber ihrem Amtskollegen in der Ukraine deutlich machen.“ (Hier unsere aktuelle Nachrichten-Meldung dazu.) Wir fassen zusammen: Der Kulturminister der Ukraine hat – das ist sein Job – um Verständnis gebeten, dass ukrainische KünstlerInnen nicht mit Netrebko auftreten sollen. Die deutsche Politik hat unabhängig reagiert: Stadt und Land haben Empfänge zurückgezogen und Kai Uwe seine künstlerische Planung nicht verboten. Und Claudia Roth hat den Dialog mit ihrem Amtskollegen Tkachenko gesucht. Am Ende also viel Sturm in einem kleinen Wasserglas. Weniger ernsthafte Debatte, sondern billige Aufmerksamkeit für Kai Uwe auf Kosten von Kultur und Politik. Und ein weiterer, nachhaltiger Schaden für das Stadttheater. Übrigens: Am Samstagabend stand die Nabucco-Aufführung mit Anna Netrebko noch nicht auf der Seite der Maifestspiele. (Anmerkung der Red.: das Theater Wiesbaden hat mitgeteilt, dass das Programm der Maifestspiele erst nach der Pressekonferenz am 13. Februar online gestellt wird.)
Personalien der Woche
Die künstlerische Leiterin Ulrike Niehoff verlässt das Concertgebouworkest in Amsterdam überraschend. Nachdem sie Klaus Mäkelä als Chefdirigenten verpflichtet hatte, wird sie seinen Amtsantritt nicht mehr als Chefin erleben. Sie will sich anderen Aufgaben widmen, heißt es in einer Presserklärung. Ulrike Niehoff ist hier in meinem Podcast „Alles klar, Klassik?“ zu hören. +++ Wir haben es vor drei Wochen geahnt, nun ist es offiziell: Lahav Shani wird neuer Chefdirigent der Münchner Philharmoniker – allerdings erst ab 2026. Dann sind ja alle Wege für Daniel Harding beim italienischen Orchester Santa Cecilia frei. +++ Dirigent Omer Meir Wellber setzt im Konzert mit dem Tonhalle-Orchester eine experimentelle Programmcollage an die Stelle von Prokofjews Huldigungskantate Alexander Newski. Gut so, denn das Ergebnis ist das Gegenteil einer propagandistischen Heldenfeier, schreibt Christian Wildhagen in der NZZ. +++ Der Weimarer Student Friedrich Praetorius wird Zweiter Kapellmeister und Assistent des Generalmusikdirektors an der Deutschen Oper Berlin. Der 27-Jährige studiert derzeit noch in der Dirigierklasse der Musikhochschule Franz-Liszt.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Es gibt sie noch die verrückten Geschichten aus der Klassik-Welt. Diese hier spielte an der Wiener Volksoper: Der Tenor für die Orpheus-in-der-Unterwelt-Aufführung war ausgefallen, als die Mezzosopranistin Katia Ledoux kurzentschlossen erklärte: „Das übernehme ich!“ Und so kam es dann auch: Mit Hilfe des Dirigenten, der Intendantin Lotte de Beer und der Souffleuse übernahm sie gleich beide Rollen, Venus und Orpheus – auf Facebook beschreibt sie diesen wahnsinnigen Horror- und Freuden-Trip mit allen Höhen und Tiefen! Am Ende: brandender Applaus, und die Freude darüber, dass das Unmögliche auf Bühnen mit gutem Geist möglich werden kann.
Ach ja, in der aktuellen Folge von „Alles klar, Klassik?“ geht es dieses Mal im Talk mit Dorothea Gregor um eine Umfrage bei Hamburger Kulturbetrieben, um den Streit in Wiesbaden und darum, wie wir zur Musik gekommen sind. Außerdem: Ein Tannhäuser aus dem Chatbot und ein Nachklang zur Bildungsdebatte. Am Ende prickelt es! Viel Spaß beim Reinhören.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
brueggemann@crescendo.de