KlassikWoche 09/2024

Manche können‘s, manche lernen‘s nie

von Axel Brüggemann

26. Februar 2024

Ein bewe­gendes Konzert aus der Ukraine, klas­si­schen Film­welten, ein munteres „Weiter so“ aus Wies­baden, eine kleine Kritik über zwei große Konzerte.

Will­kommen in der neuen Klassik-Woche,

heute mit einem bewe­genden Konzert aus der Ukraine, mit klas­si­schen Film­welten, einem munteren „Weiter so“ aus Wies­baden und meiner Lust auf eine kleine Kritik über zwei große Konzerte. 

Zu viel: Zwei Jahre Krieg

Zwei Jahre lang wird die Ukraine nun schon von Russ­land ange­griffen, die Bedeu­tung der Kultur im Krieg wurde an dieser Stelle oft genug thema­ti­siert – eine Frage, die Künst­le­rinnen und Künstler bewegt. „Ich frage mich oft, wie kann ich als Künst­lerin zum Frieden beitragen?“, schrieb mir vorges­tern, am 24. Februar, „wie kann die Musik die Ereig­nisse wider­spie­geln?“ Und sie schickte mir ein Video: Die Urauf­füh­rung der Kantate „Vaters Buch“. Der ukrai­ni­sche Schrift­steller Volo­dymyr Vaku­lenko hat viele Texte und Kinder­ge­dichte geschrieben, war allein­er­zie­hender Vater eines Sohnes mit einer Autismus-Spek­trum-Störung. Er wurde während der russi­schen Okku­pa­tion verschleppt, gefol­tert und getötet. Oksana Lyniv hat nach seinem Tod eine Kantate bei Evgeni Orkin in Auftrag gegeben, die nun von ihrem ukrai­ni­schen Jugend­or­chester und zwei Kinder­chören, die selbst vom Krieg betroffen sind, aufge­führt wurde. „Viele der Ausfüh­renden haben selber ihre Väter oder ihr Zuhause verloren“, schreibt Lyniv, „viele sind auf der Flucht.“ Was kann Kunst im Krieg? Viel­leicht das Unver­ständ­liche erfahrbar machen? Bitte, hören Sie einmal rein:

Klas­si­sche Film­welten

Als ich gelesen habe, dass Peter Shaf­fers „Amadeus“-Film 40 Jahre alt ist, habe ich gestutzt. Hat je ein Film mehr in die popu­läre Musik­ge­schichts­schrei­bung einge­griffen und gleich­zeitig so viele Menschen für Klassik begeis­tert? Ja, und warum gab es da noch kein Remake? Nun plant angeb­lich SKY eine neue Amadeus-Serie, die geschrieben werden soll von Joe Barton (Giri), Will Sharpe (White Lotus II) und dem Regis­seur Julian Farino (Giri/​Haji). Und dann gab es noch eine weitere Musik-Film-Neuig­keit, die an dieser Stelle genannt werden soll, da auch die Beatles inzwi­schen ja zu den Klas­si­kern zählen: Die Vier bekommen eben­falls ein neues Biopic. In Szene gesetzt von Sam Mendes (American Beauty, James Bond Skyfall und Spectre). Das ist das erste Mal, dass die lebenden Mitglieder der Band einem solchen Projekt zuge­stimmt haben. Erschei­nungs­jahr soll 2027 sein. 

Alles klar, Wies­baden?

Wie lang sind eigent­lich die Schatten eines Inten­danten? Kai Uwe Laufen­berg hat sein Staats­theater Wies­baden jahre­lang als Unru­he­herd betrieben und ist – nach aller­hand Skan­dalen – endlich frei­willig zurück­ge­treten. Das Aufatmen im Ensemble und in der Politik war groß. Aber es stellt sich als Kurz­at­mig­keit heraus. Denn der Neuan­fang lässt auf sich warten. Einer der größten Eklats Laufen­bergs war es, dass er – gegen den Willen der Politik – an seiner Einla­dung von bei den Maifest­spielen fest­hielt und damit nicht nur ukrai­ni­sche Ensem­bles, sondern auch die Punk-Band Pussy Riot vergraulte. Umso mehr reibt man sich die Augen, wenn man auf dem neuen Programm der Maifest­spiele wieder den Namen Anna Netrebko sieht. Und noch ein Projekt, das beson­ders unter Jour­na­listen-Kollegen für Unmut gesorgt hat, soll auch weiterhin statt­finden. Das Foyer­ge­spräch „Latte“, das Laufen­berg als Abrech­nung mit einem seiner größten Vor-Ort-Kritiker ange­legt hatte. Es steht nun ohne Laufen­berg, dafür aber mit Theater-Ur-Opi Hermann Beil auf dem Programm. Nein, das ist keine Satire! Absurd ist die Ankün­di­gung (oder ist es eine Drohung?) des Thea­ters, man wolle „eine Antwort auf die Frage liefern, ob die Pres­se­frei­heit dem auf sie befürch­teten Angriff stand­halten wird – oder eben nicht“. Ey, Wies­baden – Euch ist einfach nicht mehr zu helfen! Wollt Ihr all das wirk­lich, oder sucht Ihr noch nach der Notbremse?

Musik im Film: viele Rück­blicke

In Berlin fand im Februar neben der Berli­nale tradi­tio­nell die „Avant Première“ statt: ein Treffen von Produ­zenten, Sendern und Veran­stal­tern von klas­si­scher Musik in bewegten Bildern. Ausführ­lich werde ich darüber (mit zahl­rei­chen Gästen) nächste Woche im Podcast berichten. Auf den ersten Blick waren dieses Jahr weniger TV-Redak­teure anwe­send als sonst (weil es weniger Sende­plätze gibt?). Das Angebot an Filmen ist derweil weit­ge­hend klas­sisch: Viele Live-Mitschnitte von Opern und Konzerten und einige Bio-Doku­men­ta­tionen. Wenn über­haupt jemand, könnte Regis­seur Günter Atteln mit seinem geplanten -Film meinen Blick auf die Diri­gentin nochmal verän­dern (eine ZDF-Produk­tion). Ob der im Programm ange­kün­digte -Film über­haupt noch Abnehmer finden wird, ist eher frag­lich. Etwas nerv­tö­tend erschien mir die merk­würdig synchron aufge­nom­mene Tanz-Perfor­mance von zum „Deut­schem Requiem“. C Major setzt derweil auf die Wieder­ent­de­ckung alter Klassik-High­lights in Doku-Formaten, unter anderem über Grace Bumbrys Carmen (1966), Claudio Abbados Mahler am Anfang des Lucerne Festi­vals 2003, Rudolf Nureyevs „Schwansee“ von 1964 oder Sergiu Celi­bi­da­ches Berliner Phil­har­mo­niker-Konzert von 1992. Viele ehrwür­dige Rück­blicke, bei denen aller­dings die Frage bleibt, auf was von heute wir in 20 oder 30 Jahren zurück­bli­cken werden – doch wohl nicht auf die Groß­kon­zerte von , oder?

Perso­na­lien der Woche

Als Bayreuth-Regis­seur war Jan Philipp Gloger nicht sonder­lich erfolg­reich. Nun soll er das Volks­theater in Wien über­nehmen. Schade, denn der krea­tive Revo­luzzer-Geist von Kay Voges hat Wien durchaus gut getan. +++ Milo Rau will die Wiener Fest­wo­chen zur „Freien Repu­blik Wien“ verwan­deln. Mit Hymne, Fahne, Verfas­sung – und offen­sicht­lich mit Prozessen. Vorbild ist die Pariser Kommune. Pussy Riot soll auftreten, Rau selber will „La Clemenza di Tito“ insze­nieren. +++ Die Leip­ziger Oper hat die Südko­rea­nerin Yura Yang zur ersten Kapell­meis­terin ernannt. +++ Der Diri­gent Jan Latham-Koenig hat gegen­über einem Gericht in West­minster zuge­geben, dass er sexu­elle Hand­lungen mit einer Person hatte, von der er gedacht habe, sie sei ein Teen­ager – in Wahr­heit war es ein Under­cover-Poli­zist. Der Diri­gent wurde wegen verschie­dener Sexu­al­de­likte ange­klagt. Er soll sexu­ellen Verkehr mit einem Kind gehabt haben und sexu­elle Hand­lungen mit einem Kind einge­leitet haben. +++ Wir haben es bereits vor zwei Wochen an dieser Stelle ange­deutet, als Geflüster vom Wiener Phil­har­mo­ni­ker­ball: Nun schreiben immer mehr Medien in Öster­reich, dass , Inten­dant der Mailänder Scala, wohl Inter­esse hat, das Grafenegg Festival von zu über­nehmen. +++ Mit 93 Jahren ist Klavier-Legende nochmal als Mozart-Erklärer an der Schu­mann-Hoch­schule in Düssel­dorf aufge­treten. „Zärt­lich bis dämo­nisch“ seien die Klavier­kon­zerte, „wit­zig bis tra­gisch“ – kantabel müsse Mozart sein, und – bitte – mit Konzert- statt Hammer­flügel gespielt. +++ Jeder, der in Wien in die Oper oder ins Konzert gegangen ist, hat Peter Jarolin irgend­wann Mal gesehen – meist in einer Pause vor der Tür, mit einer Ziga­rette in der Hand. Und in der Regel: begeis­tert! Leiden­schaft­lich disku­tie­rend! Ein Klassik-Freak im besten Sinne. Einer, der für die Musik lebte. Ein Mensch, der sich begeis­terte und andere begeis­tern wollte. Ein Jour­na­list als Missionar. Ein guter Mensch. Nun ist Peter Jarolin mit 52 Jahren über­ra­schend gestorben. Seine Zeitung, der KURIER, hat ihm würdig nach­ge­rufen

Ein ganz Großer: zum Tod von Jan Assmann

Es gibt diese Menschen, die einen, auch in kurzer Zeit, ganz beson­ders impo­nieren und prägen. Mit dem Ägyp­to­logen und Kunst­theo­re­tiker Jan Assmann durfte ich an einer „Zauberflöten“-Doku für arte arbeiten – und das war eine solch prägende Begeg­nung, in der ich mich in der Rolle des Lernenden unend­lich wohl gefühlt habe. Was für ein feiner Mensch der Mann mit der Fliege und dem grauen Bart war! So leise. So klug. So besonnen. Wie nervös ich bei unserem ersten Tele­fonat war. Assmann hat maßgeb­liche Theo­rien entwi­ckelt, etwa – gemeinsam mit seiner Frau Aleida – jene des „Kultu­rellen Gedächt­nisses“, das Gesell­schaften beson­ders über ihre Brüche prägt wie das Unter­be­wusst­sein des Menschen. Und natür­lich die Theorie der „mosai­schen Unter­schei­dung“, eine Kern­these seiner reli­gi­ons­theo­re­ti­schen Schriften. Sie setzt mit dem Mono­the­ismus an, den Moses den Menschen brachte und damit den fami­liären, und viel­fäl­tigen Götter­himmel ablöste. Für Klassik-Menschen beson­ders span­nend ist Assmanns Blick auf die ägyp­to­lo­gi­schen Anspie­lungen in Mozarts „Zauber­flöte“ und dessen Versuch, die Gewalt der Reli­gion in Musik zu mäßigen. Nach­zu­lesen in seinem Buch „Oper und Myste­rium“. Übri­gens: Beim Dreh zum Film lösten wir verse­hent­lich einen Feuer­alarm im Salz­burger Puppen­theater aus, viele Einsatz­wagen kamen, Feuer­wehr­männer in neon­gelber Warn­klei­dung durch­querten die Szene. Allein Jan Assmann erzählte – voll­kommen unbe­ein­druckt vom Tumult – weiter über den tiefen Zauber der Musik Mozarts. Und wir hingen ihm dabei an den Lippen. 

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht ja hier – warum nicht Mal eine klas­si­sche Kritik! Zuge­geben, man könnte mir unter­stellen, ich wollte diese Abende in Wien einfach gut finden, weil ich mit an einem gemein­samen Buch gear­beitet habe. Aber was der Diri­gent da vor seiner USA-Tounee mit den Wiener Phil­har­mo­ni­kern hinge­legt hat, das war schon: bewe­gend. Mahlers Neunte als aus dem Mikro­kosmos der Minia­turen gebo­rener, ganz großer Bogen hinein in den Abge­sang, vom Suchen der ersten Klänge bis zum endgül­tigen Verstummen aller Musik. Dazwi­schen derbe Ländler, einzelne Noten als Ausru­fe­zei­chen und geflüs­terte Nuancen als entschei­dende Wegga­be­lungen – nichts mäan­dert hier, nichts wirkt aufge­setzt, alles ist: frisch, bissig – crisp. Am Ende auch im Publikum nichts als Stille und anschlie­ßende, stehende Ovationen. Am zweiten Abend dann ein Programm des abso­luten Schwan­kens: Hinde­miths „Konzert­musik für Blas­or­chester“ ist für die welt­weit einma­lige Bläser-Gruppe der Wiener Phil­har­mo­niker ein Parade-Stück, das gerade im klaren Marsch harmo­nisch zerbrech­lich wirkt, Schön­bergs „Varia­tionen“ op 31 werden zu einem stets anderen Ausdif­fe­ren­zieren des Immer­glei­chen. Allein in Strauss‘ „Frau ohne Schatten“-Fantasie fällt das Orchester kurz­weilig in Wiener Plüsch-Gemüt­lich­keit zurück, die aber in Maurice Ravels „La Valse“ wieder wie wegge­blasen ist. Musik, so exis­ten­ziell und haltlos wie unsere Gegen­wart. Mal spielen die Phil­har­mo­niker-Bläser gedämpft wie 20.000 Meilen unter dem Meer, dann imitieren die Strei­cher den Kitsch einer Samstag-Abend­show von Peter Alex­ander – eine so wache, auf Gegen­sätze getrimmte, mahnende Erosion aller Regeln, in der Welser-Möst seiner Klug­heit höchste Emotionen gönnt – das steht ihm sehr gut! Vor allen Dingen aber bleibt eine andere Erkenntnis: Beide Programme (im Wiener Konzert­haus und im Musik­verein) zeigen, dass man das Publikum nicht unter­schätzen soll. Eine Tugend, die wenige Tage zuvor bereits mit den Berliner Phil­har­mo­ni­kern unter Beweis gestellt hat, als er Brahms „Tragi­sche Ouver­türe“, Karol Szyma­now­skis Violin­kon­zert und Strauss‘ „Symphonia Dome­stica“ nach Wien mitbrachte. Es gibt derzeit gar nicht viele Diri­genten, bei denen ein Konzert­abend so viele Tage und Nächte nach­wirkt.

In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif.

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de 

Wenn Sie Lust haben, die Themen zu hören, wie ich mit Doro­thea Gregor über die Themen der Woche rede, unter anderem über Strei­chungen bei Klassik-Sendungen im Radio, über die abge­wandten der Klassik-Blase von den Problemen dieser Welt und über inno­va­tive Musik-Formate – all das gibt es im aktu­ellen „Update“ der „Klassik Woche“, dem Podcast der Stif­tung (hier auch für Apple Podcast).