National Gugak Center

Die Labung der Ahnen­seelen im Land der Morgen­stille

von Ruth Renée Reif

8. Juni 2022

Rituelle Ahnenmusik aus dem 14. Jahrhundert eröffnet kurioserweise am 23. September 2022 in München die Spielzeit 2022/23 der musica viva, eines der weltweit bedeutendsten Foren der Gegenwartsmusik.

Ein Gast­spiel des National Gugak Center aus Seoul bringt die könig­lich-ritu­elle Ahnen­musik Jongmyo­jeryeak der Joseon-Dynastie zur Auffüh­rung. Mit dieser Dynastie wurde 1392 der Buddhismus als reli­giöse Grund­lage verdrängt und der Neo-Konfu­zia­nismus als staats­tra­gende Ideo­logie Koreas einge­setzt. Die korea­ni­sche Gesell­schaft musste sich fortan dem konfu­zia­ni­schen Moral-Codex unter­werfen. Das bedeu­tete die Unter­ord­nung des Sohnes unter den Vater, des Jüngeren unter den Älteren, der Frau unter den Mann und des Volkes unter den Herr­scher.

Ange­sichts der strengen Durch­set­zung dieses Codex galt Korea sogar in China, wo der Konfu­zia­nismus seinen Ursprung hat, als „Reich der Sitt­lich­keit“. Der Kult der Ahnen­ver­eh­rung, der in den Fami­lien und am Königshof durch­ge­führt wurde, entwi­ckelte sich zum wich­tigsten Zere­mo­niell.

, der erste Herr­scher der Joseon-Dynastie, der Hanyang, das heutige Seoul, zur neuen Haupt­stadt erkor, ließ 1394 östlich seiner neuen Palast­an­lage einen großen könig­li­chen Ahnen­schrein Jongmyo errichten. Dieser wurde im Laufe der Jahre mehr­fach umge­baut und erwei­tert, blieb aber in seiner Struktur erhalten. 1995 regis­trierte die UNESCO die Kult­stätte als Welt­kul­tur­erbe. 1999 wurden erst­mals ritu­elle Geräte und Gewänder, goldene Siegel und Jade­bü­cher aus dem Schrein in Europa gezeigt. Und 2008 wurde das Ritual in die Liste des Imma­te­ri­ellen Welt­kul­tur­erbes der Mensch­heit ausge­nommen.

Die Macht der Seelen verstor­bener Herr­scher und deren Wohl­wollen sind von höchster Bedeu­tung. Bereits in der Zeit der Drei König­reiche von 57 bis 668 v.u.Z. nahm der Ahnen­kult seinen Anfang. Die feier­li­chen Zere­mo­nien zur Vereh­rung und Anbe­tung der Ahnen­herr­scher wurde „Großes Ritual“ genannt und fand fünfmal im Jahr statt. Dem König kam dabei die Rolle des Ober­pries­ters zu. Auch der Minis­ter­prä­si­dent und die Hofbe­amten führten Pries­ter­auf­gaben aus. Über den Ablauf des großen Rituals gibt das 1976 veröf­fent­lichte Riten­buch Auskunft. Es enthält Beschrei­bungen von 110 verschie­denen Hand­lungen.

40 der 110 Hand­lungs­schritte der großen Zere­monie wurden von ritu­eller Musik sowie Militär- und Zivil­tänzen begleitet. Viele Instru­mente wie die Zithern, Flöten, die Tiger­säge und Fass­trom­meln, wurden nur in diesem Ritual verwendet. Im 15. Jahr­hun­dert wurde der Ritus neu geschrieben und erhielt zwei neue Gesangs­suiten, das Erhalten des Frie­dens und Das Gründen des Dynastie.

Zunächst gilt es einen glück­ver­hei­ßenden Tag für die Feier­lich­keiten zu bestimmen. Sodann müssen alle Teil­neh­menden sich einem drei­tä­gigen körper­li­chen und seeli­schen Reini­gungs­pro­zess unter­ziehen. Am Tag vor der Zere­monie zieht der Herr­scher mit allen Teil­neh­menden in einer stillen Prozes­sion zum Schrein. Im Ahnen­ge­denk­pa­villon Mang­myoro gedenkt der Herr­scher der Ahnen­seelen, bevor er im König­li­chen Raum ein Bad nimmt.

Die eigent­liche Zere­monie glie­dert sich in drei Teile, dem Empfang der Ahnen­seelen, ihrer Labung und Vereh­rung sowie ihrer Verab­schie­dung. Zum Empfang der Seelen werden Kerzen entzündet, die Seelen­ta­feln aufge­stellt und mit Weih­rauch die Seelen aus dem Himmel herbei­ge­lockt. Ihre Labung erfolgt durch die Opfer­speisen und Getränke. Dabei rezi­tiert der Mode­rator einen Text, der den Anlass der Zere­monie erklärt. Sodann wird den Ahnen­seelen für ihre Fürsorge gedankt, und sie werden gebeten, die Opfer­gaben anzu­nehmen. Als Zeichen, dass sie dies tun, leert der Ober­priester einen Becher, und die Spei­se­ge­fäße werden sacht bewegt. Zur Verab­schie­dung der Ahnen­seelen räumen die Priester die Ahnen­ta­feln wieder weg und verbrennen einen Teil der Opfer­speisen, damit deren Rauch die Seelen in den Himmel begleitet. Mit dem Ober­priester an der Spitze verlassen alle Teil­neh­menden den Schrein.

National Gugak Center Seoul

Auch wenn die Joseon-Dynastie seit 1910 nicht mehr an der Regie­rung ist, spielt der konfu­zia­nisch geprägte Ahnen­kult weiterhin eine große Rolle. So ist der Jongmyo bis heute ein Ort der Ehrerbie­tung gegen­über den Seelen der Verstor­benen. Und nach wie vor finden auch die Ritu­al­ze­re­mo­nien statt.

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Weitere Informationen zum Gastspiel des National Gugak Center am 12. September 2022 beim Musikfest Berlin auf: www.berlinerfestspiele.de

Weitere Informationen zum Gastspiel des National Gugak Center am 17. September 2022 in der Hamburger Elbphilharmonie auf: www.elbphilharmonie.de

Weitere Informationen zum Gastspiel des National Gugak Center am 23. September 2022 im Münchner Prinzregententheater auf: www.br-musica-viva.de

Weitere Informationen zum Gastspiel des National Gugak Center am 26. September 2022 in der Kölner Philharmonie auf: www.koelner-philharmonie.de

Fotos: National Gugak Center