Paul Hindemith
Der große Unverstandene – Paul Hindemith zum 125. Geburtstag
von Ruth Renée Reif
13. November 2020
Paul Hindemith löste mit seinen Kompositionen stets Kontroversen aus. Am 16. November 2020 jährt sich sein Geburtstag zum 125. Mal.
Am 1. August 1957 fand im Münchner Prinzregententheater die Uraufführung von Paul Hindemiths Oper Die Harmonie der Welt statt. Am Pult stand der Komponist selbst. Im Publikum saßen die Dirigenten Herbert von Karajan, Dimitri Mitropoulos, Karl Böhm und Rudolf Kempe. Von Rundfunkanstalten in Großbritannien, Frankreich, Italien, der Tschechoslowakei und der DDR wurde die Aufführung übertragen. Hindemith stand im Mittelpunkt stürmischer Ovationen. Der Nachhall allerdings fiel enttäuschend aus. Die 150 Kritiker, die aus aller Welt angereist waren, um über das Ereignis zu berichten, konnten sich nicht für die Aufführung begeistern. Hindemiths Werk stieß weitgehend auf Unverständnis oder sogar Ablehnung.
Unverständnis und Gegensätzlichkeit kennzeichnen die gesamte Rezeption von Hindemiths Kompositionen. In den 1920er-Jahren stand er an der Spitze der Avantgarde in Deutschland. Er arbeitete mit Künstlern wie Oskar Schlemmer und Oskar Kokoschka, dem Schriftsteller Bertolt Brecht sowie Kurt Weill und Fritz Busch. Als Rebell der Musikszene stellte er sich dar und wurde auch so wahrgenommen. Vor allem gegen den Geniekult und Bekenntnischarakter der Musik des 19. Jahrhunderts rebellierte er. Er wollte loskommen „von dem ganzen Conservatoriumskram“ und Musik schreiben „und keine Lied- und Sonatenformen“. Für die Aufführung seines leider verschollenen Quintetts e‑Moll für Klavier und Streichquartett op. 7, erteilte er in einem Brief die Spielanweisung, es müsse losgehen, „als ob der Teufel Trommelfeuer machte. Die Streicher müssen wie wahnsinnig ins Zeug gehen… Die Stelle muss ungeheuer roh und ungesittet klingen… Ihr müsst das Stück so spielen, dass die Zuhörer von einer Raserei ergriffen werden.“ Einen Skandal löste die Uraufführung des Triptychons von Operneinaktern aus, die Sexualität als unberechenbare, existenzielle Bedrohung darstellten: Mörder, Hoffnung der Frauen nach einem Text des Malers Oskar Kokoschka, Das Nusch-Nuschi, in dem Hindemith mit Zitaten aus Wagner die spätromantische Musik parodierte, und Soneta Susanna.
„Ich bin 1895 zu Hanau geboren. Seit meinem 12. Jahre Musikstudium, habe als Geiger, Bratscher, Klavierspieler oder Schlagzeuger folgende musikalische Gebiete ausgiebig ‚beackert‘: Kammermusik aller Art, Kino, Kaffeehaus, Tanzmusik, Operette, Jazz-Band, Militärmusik. Seit 1916 bin ich Konzertmeister der Frankfurter Oper. Als Komponist habe ich meist Stücke geschrieben, die mir nicht mehr gefallen: Kammermusik in den verschiedensten Besetzungen, Lieder und Klaviersachen. Auch drei einaktige Opern, die wahrscheinlich die einzigen bleiben werden, da infolge der fortwährenden Preissteigerung auf dem Notenpapiermarkt nur noch kleiner Partituren geschrieben werden können. Analysen meiner Werke kann ich nicht geben, weil ich nicht weiß, wie ich mit wenigen Worten ein Musikstück erklären soll (ich schreibe lieber ein neues in der Zeit)“, schrieb Hindemith 1922 anlässlich der Donaueschinger Kammermusik-Aufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst.
Nach der Oper Cadillac, die 1926 unter der Leitung von Fritz Busch in Dresden uraufgeführt wurde, verursachte Hindemith 1929 abermals einen Skandal. Er verwirklichte zwei Projekte mit Bertolt Brecht: das experimentelle Radiolehrstück Der Lindberghflug und das oratorische Lehrstück. Die Uraufführung mündete in einen beispiellosen Tumult, wozu vor allem die Clown-Szene im Lehrstück beitrug: In dieser „Untersuchung, ob der Mensch dem Menschen hilft“ zersägen zwei Clowns stückweise den Riesen Herrn Schmitt, eine überlebensgroße Holzfigur, unter dem Vorwand, ihm helfen zu wollen.
Den politischen Weg Brechts wollte Hindemith zwar nicht weitergehen. In der Folge erntete er mit der Oper Mathis, der Maler jedoch abermals Unverständnis. Anhänger der Avantgarde betrachteten die Oper als opportunistische Anbiederung an das NS-Régime, während Joseph Goebbels Hindemith 1934 als „atonalen Geräuschemacher“ brandmarkte. Damit war sein Wirken in Deutschland beendet. Es half auch nichts, dass sich Wilhelm Furtwängler, der die Sinfonie Mathis, der Maler dirigiert hatte, für die Aufführung der Oper einsetzte. Hindemith hatte keine Chance mehr. Er wurde als „kulturbolschewistisch“ angeprangert und erhielt nach Goebbels Worten keinerlei Aufführungsangebote. Es blieb ihm nur noch die Emigration.
1938 emigrierte Hindemith in die Schweiz. Dort erfolgte auch die Uraufführung der Oper. Der Roman Là-Bas von Joris-Karl Huysmans über den Renaissance-Maler Matthias Grünewald hatte Hindemith als Anregung für die Oper gedient, in der er die Frage nach der Autonomie der Kunst in politischen Krisenzeiten stellte. In Deutschland wurde er unterdessen in der Düsseldorfer Ausstellung „Entartete Kunst“ verunglimpft. Von 1937 bis 1938 unternahm Hindemith drei ausgedehnte Konzertreisen durch die USA, und 1940 übersiedelte er nach New Heaven. 1946 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Als Reaktion auf die Greuel des Nationalsozialismus komponierte er das Vokalwerk When lilacs last in the door-yard bloom’d. A Requiem ‚For those we love« (Als Flieder jüngst mir im Garten blüht«. Ein Requiem ‚Für die, die wir lieben‘). Der Text stammte von Walt Whitmans Trauerode auf den Tod Abraham Lincolns.
Paul Hindemith: „Die Harmonie der Welt“, als Album vergriffen,
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Für sein Opernprojekt Die Harmonie der Welt, mit dem Hindemith sich 20 Jahre lang herumgetragen hatte, ließ er sich von jenen fünf Büchern Harmonices mundi inspirieren, in denen Johannes Kepler 1619 den Schöpfungsplan der Welt darlegte. Über den geistigen Inhalt des Stücks schrieb Hindemith 1940 in einem Brief an den expressionistischen Maler Hans Böttcher, es solle „sich um die Suche nach Harmonie in allen Welt- und Lebensdingen drehen und um die Einsamkeit desjenigen, der sie findet… Die Unharmonie des Zeitgeschehens und der Mitmenschen werden dazu dienen, die Samenhaftigkeit künstlerischer und wissenschaftlicher Gedanken und Taten darzustellen.“ Hindemiths letztes Bühnenwerk The Long Christmas Dinner fußte auf einem Drama von Thornton Wilder und entstand 1961. Als Hindemith am 28. Dezember 1963 starb, hinterließ er ein Œuvre, das noch lange leidenschaftliche Kontroversen auslöste und in weiten Teilen immer noch der Widerentdeckung harrt.
Hindemith holte sich nicht nur wiederholt Anregungen in der Kunst für seine Kompositionen, sondern war auch selbst ein begabter Zeichner. Seine Arbeiten entstanden allerdings eher beiläufig auf Speisekarten, Zeitungspapieren oder Servietten. Jedes Jahr aber zeichnete er Weihnachtskarten.
Als Hindemith am 28. Dezember 1963 starb, hinterließ er ein Œuvre, das noch lange leidenschaftliche Kontroversen auslöste und in weiten Teilen immer noch der Widerentdeckung harrt.