Mulo Francel

Sich entführen lassen in eine Welt von Klängen

von Ruth Renée Reif

6. November 2019

„Mythos“ ist ein nachdenkliches Album großer musikalischer Schönheit. Der Saxofonist Mulo Francel und der Pianist Chris Gall widmen sich den Mythen, die von Flucht, Schicksal und Hoffnung erzählen.

CRESCENDO: Herr Francel, Mythen sind Weis­heits­quellen, die Orien­tie­rung geben in schweren Zeiten. Bangen Sie um die Welt?
: Wie viele Menschen, die mit wachen Augen auf unsere Welt schauen, bin ich besorgt. Aber es gibt auch Anlass zur Ermu­ti­gung. Auf einer Tournee gerieten wir in im Breisgau zufällig in eine Fridays-for-Future-Veran­stal­tung hunderter junger Menschen. Dass eine junge Gene­ra­tion aufsteht und Verän­de­rungen verlangt, war eine emotional aufwüh­lende Erfah­rung für uns. Meine Hoff­nung ist, dass es gelingt, ihre Forde­rungen umzu­setzen. Vor diesem Hinter­grund ist das Thema Mythos ein gedank­li­cher Leit­faden, dem wir mit unserem musi­ka­li­schen Konzept folgen.

In Palinuro über Aeneas und in Dido’s Lament zieht sich auch das Thema Flucht durch Ihr Album…
Da gibt es eine Paral­lele zu heute. Man muss nur einen Blick in Homers Epos „Ilias“ werfen. Aeneas flieht mit anderen Troja­nern aus dem bren­nenden Troja. Ungüns­tige Winde treiben sie an die Küste Nord­afrikas. Dort bekommen sie Asyl. Königin Dido verliebt sich sogar in Aeneas. Wir sehen genau die umge­kehrte Situa­tion zu heute. Dieses uralte Epos erin­nert uns daran: Es ist zu aller­erst ein Gebot der Mensch­lich­keit, Asyl zu gewähren. Danach kann man natür­lich Über­le­gungen anstellen, ob und wie und wie lange jemand bleiben darf.

Mulo Francel: „Der Anblick der sonnen­be­schie­nenen Ägäis und die bild­liche Vorstel­lung dieses Fluges und der Gedanken Ikarus« beim Absturz waren für mich ein inspi­rie­render Augen­blick.“
(Foto: © Mulo Francel)

Ikarus« Dream nennen Sie als auslö­sende Inspi­ra­tion für das Album. Ikarus wollte seinem Schicksal entfliehen und stürzte ins Meer. Ist der große Mensch­heits­traum uner­füllbar?
Das hängt davon ab, ob man an eine Vorbe­stim­mung glauben will oder an die Frei­heit, seinen Weg selbst zu bestimmen. Ich neige eher zu letz­terer Sicht­weise. Ikarus und sein Vater Dädalus sind gefangen im Laby­rinth des Mino­taurus, welches Dädalus bauen musste. Und sie schaffen es auszu­bre­chen, mit List, aber auch mit Wissen, Gedan­ken­kraft und hand­werk­li­cher Fähig­keit. Dass die Flucht dennoch tragisch endet, lag an Ikarus« Übermut. Viel­leicht wäre sie anders ausge­gangen, wenn er kontrol­lierter gehan­delt hätte. Chris Gall und ich unter­nahmen den aben­teu­er­li­chen Aufstieg auf den Berg Kerkis. Er ist der höchste Gipfel der Ost-Ägäis auf der Insel Samos. Von dort oben sieht man hinüber zur Insel Ikaria und im Süden zur Eiland­gruppe Fourni. Irgendwo dazwi­schen stürzte der alten Sage nach Ikarus ins glit­zernde Meer. Der Anblick der sonnen­be­schie­nenen Ägäis und die bild­liche Vorstel­lung dieses Fluges und der Gedanken Ikarus« beim Absturz waren für mich ein inspi­rie­render Augen­blick. Die starke Emotion, die er auslöste, habe ich in den Song Ikarus« Dream umge­setzt.

Mulo Francel: „Chris ist ein wunder­barer Partner.“
(© Annette Hempf­ling)

Musi­ka­lisch ist das Album eine Duo-Aufnahme. Sie haben schon mehrere Duo-Alben veröf­fent­licht, mit Harfe, sogar mit Orgel. Was ist das Beson­dere am Duo?
Das Duo-Spiel ist ein Dialog, in dem man lebendig aufein­ander eingehen kann. Chris« hoch­vir­tuoses Klavier­spiel ist so rhyth­misch und fein­gliedrig, dass man in kleinste Details gehen kann. Das entflammt mich. Es regt mich dazu an, über seine rhyth­mi­schen und harmo­ni­schen Struk­turen weite Melo­die­bögen zu legen. Chris war häufig Mitglied bei Quadro Nuevo, wir zogen näch­te­lang gemeinsam durch Buenos Aires. Er spielt ein Stück jeden Abend anders und gibt einfalls­reiche . Für mich als Musiker, der viel auf der Bühne steht, ist es wichtig, nicht in eine Routine hinein­zu­ge­raten, sondern mich jeden Abend musi­ka­lisch heraus­zu­for­dern. Chris ist dabei ein wunder­barer Partner.

Entwi­ckeln Sie die Kompo­si­tionen auch aus dem gemein­samen Spiel heraus?
Eine Kompo­si­tion entsteht in drei Schritten. Da gibt es das Noten­blatt, auf dem ich kompo­si­to­ri­sche Ideen skiz­zen­haft notiere. Dann treffen wir uns zu Proben, bei denen wir uns über viele Stunden in die Stücke hinein­be­geben und alles Mögliche versu­chen. Der dritte Schritt ist die Erpro­bung im Schein­wer­fer­licht vor dem Publikum, der noch die Impro­vi­sa­tion des Augen­blicks hinein­bringt. Danach schält sich ganz von allein die ideale Version heraus, die später auf das Album kommt.

Sie geben der Impro­vi­sa­tion viel Raum?
Ja, das macht es für uns als Spieler überaus span­nend.

Die 7 Weisen haben Sie gemeinsam kompo­niert. Wie geht die Umset­zung einer solchen Idee in Musik vor sich?
Da kamen zwei Stücke zusammen. Ich hatte eine Reise durch den Iran unter­nommen, mit vielen Menschen gespro­chen, mit einhei­mi­schen Musi­kern gespielt und Instru­mente erworben, darunter ein altes persi­sches Santur. Aus der Reise entstand 2018 das Hörbuch „Goethes persi­sche Reise“. Goethe begeis­terte sich in seinen späten Jahren für die persi­sche Kultur. Ange­regt von dem persi­schen Dichter Hafis, dich­tete er seinen „West-östli­chen Divan“. Während der Reise durch diese alte Hoch­kultur und diesen reli­giös gelenkten Staat stellte sich mir immer wieder die Frage, was eine gute Regie­rungs­form auszeichnet und wie man ein soziales Gebilde aufbaut. Diese Über­le­gungen und meine Eindrücke der Reise verar­bei­tete ich in dem Stück Der Weise. Chris wiederum hatte ein Stück im Sieben­viertel-Takt, das er In 7 nannte. Die beiden zusammen ergaben Die 7 Weisen. Wir stellten uns vor, wie es wäre, wenn sieben Weise, ältere Menschen mit viel Lebens­er­fah­rung, die keinen Ruhm und Reichtum mehr anhäufen müssen und denen man vertrauen kann, sich zusam­men­setzen, gesell­schaft­liche Fragen disku­tieren und anschlie­ßend abstimmen. Aufgrund der unge­raden Zahl käme es zu einem klaren Ergebnis. 

Mulo Francel: „Vom Publikum erwarte ich die Bereit­schaft, sich aus den Problemen
des Alltags
entführen zu lassen in eine Welt von Klängen.“
(© Annette Hempf­ling)

Erwarten Sie vom Publikum ein Einlassen auf die Themen?
Vom Publikum erwarte ich die Bereit­schaft, sich aus den Problemen des Alltags entführen zu lassen in eine Welt von Klängen. Die inhalt­liche Inspi­ra­tion muss man nicht mitnehmen. Aber man kann sich darauf einlassen und viel­leicht manches umsetzen in seinem Leben. Man kann sich etwa den Flug des Ikarus vorstellen, um sich selbst anders zu verhalten, nicht zu tief zu fliegen und auch nicht zu hoch.

Chris Gall spielt Klavier, und Sie bringen verschie­dene Saxo­fone und Klari­netten zum Einsatz. Beein­dru­ckend sind die tiefen, raunenden Töne im Stück Sket­ches of Styx.
Da spiele ich eine Kontra­bass­kla­ri­nette aus den 1920er-Jahren. Sket­ches of Styx widmet sich diesem Über­gangs­fluidum zwischen Leben und Tod. Der Fluss Styx trennt in der grie­chi­schen Mytho­logie das Reich der Toten von den Lebenden. Der Fähr­mann Charon setzt die Toten über. Die Münze zu seiner Bezah­lung wird den Verstor­benen unter die Zunge gelegt. Verbunden mit dieser Vorstel­lung einer Über­fahrt ist natür­lich die Hoff­nung auf eine Rück­fahrt. Nicht nur in der grie­chi­schen Antike, auch in anderen Vorstel­lungs­welten gibt es diese Hoff­nung, und die dürfen wir uns auch nicht nehmen lassen.

Mulo Francel, Chris Gall: „Mythos“ (GLM) 

Mulo Francel und Chris Gall auf Tournee:

22. November 2019 , Anker­saal

26. November 2019 , -Hofkirche

8. Januar 2020 , Harmonie

9. Januar 2020 , A‑trane

31. März 2020 Rosen­heim, Apos­tel­kirche

Weitere Termine und Infor­ma­tionen: www​.mulo​francel​.de