KlassikWoche 05/2024
Viel Zoff und immer weniger Klassik im Radio
von Axel Brüggemann
29. Januar 2024
Die Klassik im Radio, die Lage in Erfurt und Wiesbaden, Kulturprogramm zur Fußball-EM, die rosarote Orchestebrille.
Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute ordnen wir die Ereignisse um unsere Alpha-Intendanten, kümmern uns um die Klassik im Radio und haben auch Mal wieder etwas Positives! Keine Lust zu lesen: Hier das Wichtigste im Video:
Weniger Klassik im Radio
Weniger Klassik im öffentlich-rechtlichen Radio. Letzte Woche haben wir berichtet, dass Markus Söder die Rundfunk-Orchester halbieren will (es gab erstaunlich wenig Protest). Nun hat das „Deutsche Musikinformationszentrum“ eine neue Studie vorgelegt. Besonders auffällig waren die Zahlen zur Klassik im Radio: Lag ihr Anteil am Gesamtprogramm 2021 mit 11,8 % etwas über dem Niveau der Vorjahre, so fiel ihr Anteil 2022 auf 9,9 %, den niedrigsten Wert im betrachteten Zeitraum seit 2006. In absoluten Zahlen bedeutet dies einen Rückgang um rund 564.000 Sendeminuten (das entspricht ungefähr der Sendezeit einer ganzen Radiowelle). Unbeantwortet bleibt auch die Frage, um welche „Klassik“ es sich hier überhaupt handelt. Sicher weniger um Schoenberg, Mahler oder Liszt, ganz zu schweigen von Wolfgang Rihm, Moritz Eggert oder Jörg Widmann. Der Anteil der als Unterhaltungsmusik ausgewiesenen Sendeminuten am Gesamtprogramm stieg indes von 16,2 % im Jahr 2021 auf 17,8 % in 2022. Der Musikanteil am Gesamtprogramm der Landesrundfunkanstalten lag 2022 bei 63 %. Die Sendeminuten für Klassik fielen zuletzt auf einen der niedrigsten Werte.
Die Lage der Nation in Erfurt und Wiesbaden
Da war Kai Uwe Laufenbergs Timing Mal wieder miserabel. Kurz nach dem Versenden des letzten Newsletters hieß es aus Wiesbaden: Nach dem ersten Treffen Laufenbergs mit Hessens neuem Minister für Kultur, Timon Gremmels (SPD), habe der Intendant seinen vorzeitigen und sofortigen Rücktritt bekannt gegeben. Nun könnten wir lange zurückblicken, auf Laufenbergs Corona-Videos, auf meine damalige Replik, auf Laufenbergs „Parasiten“-Beschimpfung, unseren Briefwechsel – und alles, was danach passierte. Aber, hey: das lohnt nicht und würde nur Kai Uwes Ego streicheln. Fakt ist: Der Intendant ist Geschichte, und ein neues Team in Wiesbaden steht bereit. Über die Rolle der Kulturpolitik habe ich aktuell noch einen Kommentar geschrieben. Ebenfalls turbulent geht es in Erfurt zu: Trotz Vorwürfen wegen sexueller Übergriffe und Machtmissbrauch haben sich Erfurts Stadtspitze, Bürgermeister Andreas Bausewein, und Intendant Guy Montavon nun – unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Stadtrates – darauf verständigt, dass der Intendant vorerst doch im Amt bleibt. Er wird im Sommer seinen Posten räumen. Dann soll auch die Organisation des Theaters grundlegend erneuert werden und das Amt des Generalintendanten entfallen. Absurd allerdings: Guy Montavon, der das Haus 20 Jahre lang geleitet hat, will weiterhin für die Transformation des Hauses beratend tätig sein. Die Stadtratssitzung, auf der all das entschieden werden soll, findet am 31. Januar statt. Grüne und die Fraktion Mehrwehrtstadt wollen gegen Montavon stimmen.
Rosarote Orchester-Brille
Manchmal fragt man sich wirklich, wie die Vertretung der Orchestermusikerinnen und ‑musiker Unisono die aktuelle Situation der Klassik bewertet und wie sie Schwerpunkte setzt. „Alles gut, keine Panik – läuft!“, so könnte man die aktuelle Meldung von Unisono-Chef Gerald Mertens zusammenfassen (genau, der „Wie viel General steckt in einer Generalmusikdirektorin“-Mann). Mertens feiert die aktuellen Zahlen und die Personalentwicklung der 129 Kulturorchester in Deutschland. Dort habe sich die Zahl der Planstellen im vergangenen Jahr leicht auf 9.770,5 Stellen erhöht. Der Frauenanteil, der aktuell bei rund 40 Prozent liegt, werde in naher Zukunft auf 50 Prozent steigen. Klar, das ist gut, aber: der Wandel kündigt sich überall an. Und ich frage mich, warum diese Jubelmeldung lauter transportiert wird als der Orchester-Protest gegen Markus Söders Rundfunkorchester-Kürzungs-Vorschlag. Merkt Unisono nicht, dass die Politik einen politischen Testballon aufsteigen lässt, der zum radikalen Abbau führt, wenn niemand reagiert? Mir scheint es, als würde Unisono sich die Welt von gestern heute noch ein wenig schön reden, statt den aktuellen Wandel der Orchesterlandschaft aktiv, kreativ und vorausschauend mitzugestalten. Das sture Festhalten an Privilegien einer Welt von Gestern könnte in Zukunft eher kontraproduktiv sein.
Kulturprogramm zur Fußball-EM
Philipp Lahm und Claudia Roth stellten das Kulturprogramm zur Fußball-EM in Deutschland vor: Es soll divers werden und partizipativ. Es gibt keine Tenor-Events und Giga-Konzerte. Im „Fat Cat“, dem Zwischennutzungsprojekt des Kulturzentrums Gasteig wird mit Schülerinnen und Schülern ein „Stadion der Träume“ gebaut, in dem Theater, Performance und vieles mehr aufgeführt wird. Es gibt 60 Projekte mit über 300 Veranstaltungen. Kosten: 13 Millionen Euro. Die Berliner Festspiele installieren einen „Skywalk“, der gleichzeitig Labyrinth, Skulpturenpark, Performance-Bühne und Kollaboration-Experiment ist. Das Theater Bremen beschäftigt sich mit dem Projekt „No Rain“ mit Fan-Gesängen. Und beim Projekt „Eurokik“ setzten sich Dritt- und Viertklässler von 150 deutschen Grundschulen mit Fußballkultur in europäischen Ländern auseinander.
MET erfindet sich weiter neu
Die Met in New York steckt noch immer in einer Giga-Krise: Gerade musste Intendant Peter Gelb wieder Millionen aus einem Rettungshaushalt aufnehmen, um die schlechte Situation auszugleichen. Dennoch hält er an der radikalen Erneuerung seines Hauses fest. Kommende Saison sollen unter anderem Grounded, eine Oper über Dronen im Krieg von Jeanine Tesori und George Brant, John Adams‘ letzte Oper Antony and Cleopatra, Jake Heggies Moby Dick und Osvaldo Golijov’s Ainadamar aufgeführt werden. Gleichzeitig soll Richard Strauss« Frau ohne Schatten wieder aufgenommen werden.
Personalien der Woche
Yusif Eyvazov, Ehemann von Anna Netrebko, ist nicht nur „der Tenor an ihrer Seite“, sondern auch Intendant im Aserbaidschan (gerade hat das Land europäischen Berichterstattern und Wahlbeobachtern den Zugang verwehrt). Und nun hat er noch einen weiteren Job. Eyvazov arbeitet von Wien aus auch als Künstler-Agent, der Name seine Agentur „Arena Artists Management“. Man darf gespannt auf seinen Kundenstamm sein. +++ Die Staatsanwaltschaft Salzburg hat eine Strafanzeige des Berufsverbands für Freischaffende der Darstellenden Kunst und Musik „art but fair UNITED“ gegen den Intendanten der Salzburger Festspiele, Markus Hinterhäuser, den Kaufmännischen Direktor Lukas Crepaz und Ex-Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler abgewiesen. Es gebe keinen Anfangsverdacht. Das Verfahren über die Rolle der Festspiele in Corona-Zeiten läuft derweil weiter. +++ Ein Freund von mir postete gerade eine Erinnerung an Klaus Nomi, die mich bewegte: Der Mann war in den 60er Jahren Platzanweiser an der Deutschen Oper in Berlin und sang in der Garderobe gern für seine Kollegen. Dann ging er in die USA, wurde ein Star der New Yorker Subkultur, trat sogar mit David Bowie auf und starb 1983 mit 39 Jahren an Aids. Hier ist er in einem YouTube-Video zu sehen. +++ Nach dem furiosen Auftritt von Klaus Florian Vogt als Tristan an der Semperoper haben ihn einige als „Neuen Jonas Kaufmann“ gefeiert. Ich finde, diesen Titel sollte man Vogt ersparen. Das Modell Kaufmann-Tenor mit Weihnachtsmucke war ein Phänomen des letzten Jahrzehnts und hat ausgedient. Es war ein Paradebeispiel, wie ein Label eine Stimme bis auf den letzten Seufzer auspresst. Können wir es nicht einfach dabei belassen: Vogt ist ein geiler neuer Tristan. Reicht doch. Apropos: Ein wenig lustig, was Angela Gheorghiu im VAN Magazin über den deutschen Tenor sagte. Klang ein bisschen so wie, er habe seine Karriere zum großen Teil auch ihr zu verdanken. Im italienischen Fach aber sei Roberto Alagna immer ihre Nummer eins gewesen!
Dirigentinnen und Dirigenten der Woche
Fast wäre sie Tennis-Profi geworden, aber sie suchte einen Team-Sport, bei dem es nicht ums Gewinnen geht. Also verließ die Französin Marie Jacquot den Court und konzentrierte sich auf das Podium. Seit dieser Spielzeit ist sie Erste Gastdirigentin der Wiener Symphoniker und designierte Chefdirigentin des Royal Danish Theatre in Kopenhagen. Nun wurde bekannt: 2026 tritt sie ihren neuen Job als Chefdirigentin des WDR Sinfonieorchesters an und folgt damit auf Cristian Măcelaru. Ich habe sie bei den Wohnzimmer-Konzerten kennengelernt und mich mir ihr auch über ihre Karriere und ihr Leben als Posaunistin geredet (siehe Video oben). +++ Chefdirigent Pietari Inkinen wird seinen Vertrag bei der Deutschen Radio Philharmonie nicht verlängern. Er verlässt sie im Sommer 2025. Seine Nachfolge übernimmt der Spanier Josep Pons. +++ Das Boston Symphony Orchestra hat Andris Nelsons nach 10 Jahren einen neuen Vertrag gegeben – und zwar ohne Enddatum! Das passiert auch nicht oft. +++ Chefdirigent Markus Poschner verlässt 2027 mit Ablauf seines Vertrages das Bruckner Orchester Linz (BOL). Der gebürtige Münchner kam 2017 zum BOL, davor war er ebenfalls zehn Jahre lang – seit 2007 – Generalmusikdirektor der Freien Hansestadt Bremen. „Als Künstler muss man immer wieder den Mut haben, neu aufzubrechen, nicht zuletzt, um den eigenen Horizont zu erweitern“, erklärte Poschner in einer Presseaussendung am Freitag. +++ Utopia und sein Dirigent Teodor Currentzis planen im Mai Auftritte mit Bruckners Neuter Symphonie beim Currentzis-Spezi Christoph Lieben-Seutter in der Elbphilharmonie und in der Berliner Philharmonie. Und, ja, vielleicht kann man es nicht mehr lesen, weil es so ermüdend ist wie die Nachrichen über russische Angriffe auf die Ukraine, aber man sollte eben auch nicht müde werden, es zu schreiben: Das gleiche Werk (Bruckner 9) will Currentzis vorher mit seinem Orchester MusicAeterna in Russland aufführen – unter anderem im russischen Orenburg, wo auf der Internetseite Gazprom als Sponsor gelistet wird. Außerdem wird Currentzis im Februar auch in Sotschi gastieren, beim Festival von Putin-Unterstützer Juri Bashmet. Dieses einfach nur, um den SWR und die Salzburger Festspiele irgendwann daran zu erinnern, dass das kein Geheimnis war.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es nur? Ich würde sagen, nach dem es schon wieder mit den Klagen los ging: hier!
In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif.
Ihr
Und hier – wie gewohnt – ein Blick auf die Geschehnisse der Klassik-Woche im Podcast „Alles klar, Klassik?“ mit Dorothea Gregor und mir: Wir diskutieren die Situation der Alpha-Intendanten in Erfurt und Wiesbaden. Was kann die Kulturpolitik tun? Wie entstehen hierarchische Systeme? Doro und Axel nähern sich von unterschiedlichen Seiten. Außerdem: Die Verhandlungen der GDBA, der NV-Soli-Vertrag, Markus Söders Vorschlag, Radioorchester zu streichen und Neubesetzungen beim WDR und der Deutschen Radio Philharmonie. Zwischendurch fallen die Mikros um, aber Doro und Axel lassen sich nicht ablenken.