Die digitale Plattform 3e Scène
Keine Furcht vor dem Tode
von Ruth Renée Reif
24. April 2020
3e Scène ist die digitale Plattform der Opéra Garnier und der Opéra Bastille in Paris. Sie versammelt erstaunliche Filmkunstwerke. die bezaubernde Sichtweisen auf Oper und Ballett eröffnen.
3e Scène ist die digitale Plattform der Opéra Garnier und der Opéra Bastille in Paris. Sie versammelt erstaunliche Filmkunstwerke, zu denen sich Künstler verschiedener Bereiche inspirieren ließen. Komprimiert auf wenige Minuten Dauer, öffnen diese Clips bezaubernde Sichtweisen auf das Thema Oper und Ballett.
„Woher, frag ich dich, stammt die Freiheit der Willensbestimmung, / Die uns lebenden Wesen auf Erden hier überall zusteht, / Und die jedem zu gehen gestattet, wohin er Lust hat, / Die uns Bewegungsänderung erlaubt und weder dem Orte, / Noch auch der Zeit nach beschränkt ist, vielmehr dem Verstand es anheimstellt?“
Quelle der Inspiration: der römische Dichter Lukrez
Die Verse aus dem Epos Von der Natur der Dinge des römischen Dichters Lukrez lässt Hugo Arcier seinem Film Clinamen nachfolgen.
Lukrez versuchte mit dem der Vernunft und Humanität verpflichteten Aufklärungswerk, den Menschen in schwieriger Zeit die Angst vor dem Tod zu nehmen. Die ersten beiden Bücher handeln von der Welt der Atome und ihren Bewegungen.
Die Bewegungen der Atome im Rhythmus von Trommelschlägen
Und so beginnt auch Hugo Arcier seinen Film. Er lenkt den Blick in den Welttraum, in dem sich im Rhythmus von Trommelschlägen die „Atome“ bewegen. Clinamen bezeichnet jene Abweichung, mit der Lukrez das Element des Zufalls einbezieht.
Hugo Arcier ist Digitalkünstler. Für seinen Film verwendet er dreidimensionale Computergrafiken, mit denen er fantastische Sichten auf das Opernhaus sowie dessen Verwandlungen schafft.
Die sich bewegenden „Atome“ lassen nach und nach drei Tänzer ahnen – Anna Chirescu, Simon Fetz und Pierre Guilbault. Zur Musik von Xavier Thiry tanzen sie durch das Opernhaus, das Hugo Arcier in immer neuen Verwandlungen zeigt.
Eine neue Sicht auf die Oper
Clinamen ist einer der Filme von 3e Scène. 2015 haben die Opéra Garnier und die Opéra Bastille in Paris die Plattform ins Leben gerufen. Geschaffen wurden dafür Filme, mit denen Künstler aus verschiedenen Bereichen jeweils eine eigene Sicht auf die Oper eröffnen.
Vers la silence ist der Titel eines Films von Jean-Stéphane Bron. Er zeigt eine Orchesterprobe mit Gustav Mahlers Neunter Sinfonie und die Anstrengung des Dirigenten Philippe Jordan, das Orchester pianissimo spielen zu lassen, wenn die Sinfonie am Ende erstirbt. Sein Ziel ist eine Stille, die so spannungsvoll wirken soll, dass auch das Publikum sie nicht mit Geräuschen durchbrechen kann.
Was die Filme auszeichnet, ist ihre Ästhetik, die dem Internet angepasst ist. Die meisten haben den Charakter von Clips. Komprimiert auf wenige Minuten Länge, erzählen sie eine lyrische und emotional ergreifende Geschichte. In Zeiten wie diesen, da Opernhäuser nach Wegen suchen, im Internet zu wirken, kann die Plattform ein Vorbild und Anregung sein.
Zwei Tanzwelten treffen aufeinander
In Grand Hôtel Barbès lässt der Filmregisseur Ramzi Ben Sliman zwei Tanzwelten aufeinander treffen: den auf den Straßen der schwarzen Ghettos von New York entstandenen Breakdance, der mit dem Kopf nach unten wütend in den Boden hineingetanzt wird und das klassische Ballett mit seinen aufsteigenden Bewegungen und seiner Betonung von Leichtigkeit und Erhabenheit.
Ein junger Schwarzer, großartig dargestellt und getanzt von Lorenzo Da Silva Dasse, wird frühmorgens aus einem schäbigen Hotel im Norden von Paris auf die Straße geworfen.
Als das Viertel allmählich erwacht, trifft er auf Breakdancer, die einen Wettstreit um den besten Tänzer ausfechten. Mit seinen letzten Münzen kauft er sich ein, und es erklingt Mozarts Musik…
Kritisiert wurde anfangs die Dominanz des Balletts auf 3e Scène. Tatsächlich nehmen die Filme, die sich mit dem Tanz befassen, breiten Raum ein. Zum einen stand die Plattform bei Ihrer Gründung unter der Leitung des damaligen Ballettdirektors Benjamin Millepied. Zum anderen aber erscheint der Tanz ohne konkrete in Worte gefasste Geschichte, wie sie die Oper meist erzählt, eine inspirierende Projektionsfläche abzugeben für andere Künstler.
Das romantischste Projekt
Ascension betitelt der Fotograf Jacob Sutton seinen Film. Die Idee dazu sei ihm während einer Probe gekommen, erzählt er. Als der den beiden Tänzern Hannah O’Neill und Germain Louvel zusah, habe er den Wunsch verspürt, die Choreografie zur sphärischen Musik des elektronischen Musikers Jon Hopkins in verschiedenem Umfeld zu zeigen.
Sein Film setzt ein in der Dunkelheit der Unterbühne, erhebt sich zum üppig mit Gold beladenen Grand Foyer und steigt schließlich auf das Dach, von wo das Paar in den Himmel zu entschwinden scheint. Es sei das romantischste Projekt, an dem er jemals gearbeitet habe, betont Sutton.
Noch vieles gibt es auf der Plattform zu entdecken: www.operadeparis.fr/en/3e-scene/