Andrei Kovacs
»Man muss sich auch mal gemeinsam freuen!«
von Maria Goeth
5. Februar 2021
Andrei Kovacs, der Initiator von #2021JLID – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, ist Geschäftsführer des Vereins, der das Festjahr mit über 1.000 Veranstaltungen ausrichtet.
CRESCENDO: Herr Kovacs, im Jahr 321 erließ Kaiser Konstantin ein Gesetz, das die erste jüdische Gemeinde in Köln nachweist. Deshalb feiern wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Wie lässt sich diese Geschichte zusammenfassen?
Andrei Kovacs: Ein kluger Kopf hat einmal gesagt, die Geschichte jüdischen Lebens im heutigen Deutschland in diesen über 1700 Jahren gleiche einer Aktienkurve. Sie läuft nicht linear und war sehr wechselvoll. 1700 Jahre Jüdisches Leben bedeuten auch 1700 Jahre Antisemitismus und Verfolgung. Einige Phasen ragen positiv heraus, etwa die der mittelalterlichen SchUM-Städte, ein einzigartiger Ort und sehr wichtiger Bestandteil des Aschkenasischen Judentums, in der Lehre und Schule gediehen, Freiräume bestanden und großer internationaler Einfluss genommen wurde – besonders auf die Religion, aber auch auf die Philosophie und Wissenschaft außerhalb des Judentums. Denken Sie nur an den mittelalterlichen Rabbiner und Gelehrten Schlomo ben Jitzchak, auch bekannt als Raschi, einer der vielleicht bedeutendsten Persönlichkeiten des Mittelalters!
»Anfang des 20. Jahrhunderts blühte jüdisches Leben in Deutschland und vor allem in Berlin mit Namen wie Kurt Weill, Franz Schreker, Hans Eisler, Arnold Schönberg, Richard Heymann, aber auch Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Ernst Bloch und Kurt Tucholsky auf. Sie waren Teil der Gesellschaft und wollten Teil der Gesellschaft sein.«
Auch in der Zeit der Aufklärung und der Romantik gab es zahlreiche jüdische Wissenschaftler, Schriftsteller und Musiker, die das heutige Deutschland prägten. Familien wie die der Mendelssohns im 18. und 19. Jahrhundert: Der berühmte jüdische Philosoph Moses Mendelssohn entstammte dieser Familie und natürlich seine Enkel, die Geschwister Fanny und Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Familie Mendelssohn war Anfang des 19. Jahrhunderts mit ihren sonntäglichen Hauskonzerten und ihrer Vernetztheit in der intellektuellen Szene ein wunderbares Beispiel, wie sich jüdische Menschen zu manchen Zeiten auch in die deutsche Gesellschaft integriert haben – oft auch assimiliert.
Außerdem sind da große Namen wie Giacomo Meyerbeer, Jacques Offenbach und Heinrich Heine. Bis dann Anfang des 20. Jahrhunderts jüdisches Leben in Deutschland und vor allem in Berlin aufblühte, unter anderem mit Namen wie Kurt Weill, Franz Schreker, Hanns Eisler, Arnold Schönberg, Richard Heymann aber auch Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Ernst Bloch, Kurt Tucholsky und vielen mehr. Sie waren Teil der Gesellschaft und wollten Teil der Gesellschaft sein – das ist dann leider ziemlich schnell durch die Nationalsozialisten und die Shoa unterbrochen worden. Jüdisches Leben in Deutschland wurde in wenigen Jahren völlig ausgelöscht. Heute leben Antisemitismus und Verschwörungsmythen trotzdem weiter in den Köpfen der Menschen.
Sie sagten einmal, Antisemitismus sei das älteste böse Virus der Menschheitsgeschichte. Er ist also kein neues Phänomen. Worin hat er denn seinen Ursprung, seinen Auslöser?
Antijudaismus und Antisemitismus ziehen sich wie ein roter Faden durch die über 1700 jährige Geschichte jüdischen Lebens im heutigen Deutschland. Wo das ursprünglich herkommt, ist von der Wissenschaft wohl noch nicht eindeutig belegt. Das Judentum ist eine der ältesten monotheistischen Religionen. Es durfte nur einen Gott geben. Der war im Vergleich zu den Naturgottheiten damals sehr abstrakt! Gott ist allgegenwärtig, aber nicht fassbar. Zudem basierte der Alltag der Juden auf vielen Geboten und Verboten. Das alles hat viele Menschen sicherlich gestört. Außerdem führte der Glaube wohl oft zu Widerstand seitens der jüdischen Gemeinde gegen die Herrscher. Man denke nur an das Buch Esther, die Purim-Geschichte. Das Judentum selbst hat sich zwar immer weiterentwickelt, das Fundament blieb jedoch bestehen. Das Christentum kam dazu, später dann auch die muslimische Religion, also große monotheistische Religionen. Das Judentum könnte man als die Mutter der großen, heute existierenden monotheistischen Religionen bezeichnen! Wahrscheinlich musste sich die christliche Kirche damals vom Judentum abgrenzen, und das war mit einer der Gründe für den frühen Antijudaismus. Es entstand der frühe Verschwörungsmythos des sogenannten „Gottesmordes“ oder „Christusmordes“, der angeblichen Kollektivschuld der Juden am Tod Jesu – ein Irrtum, von dem die Kirche erst nach 1945 abrückte.
»Ich könnte es uns allen nicht vergeben, wenn wir dieser gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nicht nachkämen und es zuließen, dass der Antisemitismus – und auch der Rassismus – in Deutschland weiter erstarkt und die Gesellschaft vergiftet.«
Sie haben selbst eine sehr bewegende Familiengeschichte: Ihr Großvater, ein berühmter ungarischer Schauspieler, konnte nur aus dem Konzentrationslager gerettet werden, weil er mit anderen Persönlichkeiten von Otto Adolf Eichmann gegen LKWs eingetauscht wurde. Wie prägt das Ihre Familie?
Es bleibt in unserer Familie immer eine gesunde Portion Misstrauen. Dass mein Großvater deportiert wurde und dabei Menschen am Straßenrand klatschten – das sind Bilder, die man über Generationen nicht mehr vergisst, wenn man sie von Eltern und Großeltern in den Kopf gesetzt bekommt. Wobei meine Großeltern das Thema – wie viele andere Juden dieser Generation – eher gemieden haben.
Können Sie das Geschehene vergeben?
Interessante Frage: Den sinnlosen, brutalen und systematisch ausgeführten Massenmord kann ich nicht vergeben. Die heutige Generation trägt natürlich keine direkte Schuld an dem, was geschehen ist. Aber sie trägt eine große Verantwortung. Die Nationalsozialisten etablierten ein minutiös durchdachtes, sadistisch organisiertes und geduldetes System der Vertreibung und Vernichtung in Deutschland und Europa. Der gesellschaftsfähige Antisemitismus und Verschwörungsmythen boten den fruchtbaren Boden dafür.
Heute, nur 76 Jahre nach der Shoa, scheint der Antisemitismus in Deutschland und Europa in einer mutierten Form nicht nur weiter zu existieren, sondern auch noch zu erstarken. Und Antisemitismus fängt mit Stereotypen und Verschwörungsmythen an. Sie sind übrigens ein Unikum: Man sagt über jüdische Menschen, sie seien besonders mächtig, intelligent, erfolgreich, sie hätten besonders viel Geld und lenken die Weltwirtschaft. Das ist ein großer Unterschied zum üblichen Rassismus. Der Antisemitismus suggeriert sowohl eine Gefahr durch das Negative als auch durch das Positive. Solche antisemitischen Vorurteile zu identifizieren und früh zu bekämpfen ist deshalb oft schwer. Genau da sehe ich heute unsere Verantwortung. Ich könnte es uns allen nicht vergeben, wenn wir dieser gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nicht nachkämen und es zuließen, dass der Antisemitismus – und auch der Rassismus – in Deutschland weiter erstarkt und die Gesellschaft vergiftet.
»Trotz der Shoa leben wieder rund 150.000 Juden in Deutschland. Wenn wir wollen, dass es für sie hier eine Zukunft gibt, müssen wir einen Weg finden, wie wir das – neben der Aufarbeitung dieser schrecklichen Ereignisse – ermöglichen.«
Was bedeutet das Festjahr für Sie persönlich?
Ich selbst bin deutscher Jude. Es wäre mein Wunsch, dass jüdisches Leben in Deutschland für meine Kinder eine Zukunft hat! Dafür gibt es bestimmte Voraussetzungen. Ich hoffe, dass wir mit dem Festjahr jüdisches Leben sicht- und erfahrbar machen können. Das Kennenlernen ist ein wichtiger Weg, dem offenkundiger werdenden Antisemitismus etwas entgegensetzen. Wir müssen auch sicherstellen, dass jüdisches Leben hier stattfinden kann. Dazu muss man jüdischen Menschen zuhören. Wenn man in Deutschland über jüdisches Leben spricht, spricht man über die Shoa, über Verfolgung, vielleicht noch über Geschichte und Religion, man spricht aber selten über reell stattfindendes jüdisches Leben. Es ist wichtig, dass das jetzt passiert, dass man eine Empathie entwickelt, dass man einen leichten Zugang findet und zu kommunizieren beginnt, dass man sich respektiert – im Anderssein, aber auch im Gleichsein, denn wir haben ja viele Gemeinsamkeiten. Wir wollen ein Stück Normalität!
Was ist das Besondere der deutschen Situation im Vergleich zum Ausland?
Wir leben jetzt 76 Jahre nach der Shoa – nach historischem Maßstab ist das nicht lang. Und die Shoa ist eine Erfindung der Deutschen, das wird auch international so gesehen. Deshalb ist es wichtig, was wir in Deutschland und Europa tun, und viele Menschen aus anderen Ländern beobachten, was wir hier in Deutschland und in Europa, tun und wie wir eine Lösung finden um als Gesellschaft zusammenzukommen. Ob wir es schaffen, nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft zu schauen. Wir müssen zwei Dinge trennen: Die Shoa war das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte! So etwas hat es noch nie gegeben. Deshalb wird darüber geredet, sie ist ein wichtiges Bildungsthema, und man muss weiter darauf hinarbeiten, sie zu verarbeiten. Aber parallel dazu gibt es jüdisches Leben heute. Trotz der Shoa leben wieder rund 150.000 Juden in Deutschland. Wenn wir wollen, dass es für sie hier eine Zukunft gibt, müssen wir einen Weg finden, wie wir das – neben der Aufarbeitung dieser schrecklichen Ereignisse – ermöglichen.
Wie kann das gelingen?
Es ist wichtig, auch den positiven Beitrag, den jüdische Menschen zur deutschen Geschichte und Gegenwart herauszustellen. Ich habe noch nie eine Beziehung gesehen, die funktioniert, wenn man nur gemeinsam weint. Man muss sich auch mal gemeinsam freuen! Das Miteinander scheint mir heute oft sehr verkrampft. Auf der einen Seite haben wir jüdische Familien wie meine, wo die Großeltern noch aus den Konzentrationslagern kamen! Bei den Kindern ist es etwas anders, die gehen etwas unbedarfter damit um. Auf der anderen Seite haben wir nichtjüdische Gesprächspartner, für die es auch nicht einfach ist, weil sie vielleicht Vorfahren hatten, die an der Shoa beteiligt waren. Und viele kamen schlicht noch wenig oder gar nicht mit jüdischen Menschen in Berührung, weil es hier nur noch so wenige gibt. Ich nehme gerne das Beispiel eines Nachbarn: Es ist natürlich möglich, seinen Lebenslauf zu studieren, ihn mit dem Fernglas zu beobachten und wenn er nicht zu Hause ist, eine Führung durch sein Wohnzimmer zu bekommen. Besser aber ist, zwei Flaschen Wein zu nehmen, rüberzugehen und zu sagen: Komm mal vorbei, und wir trinken einen zusammen!
Das Festjahr #2021JLID – 1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland ist ein Mammutprojekt mit hunderten Veranstaltungen in allen Bundesländern. Wie schaffen Sie es, dabei die Fäden in der Hand zu behalten?
Das ist natürlich eine große gesamtgesellschaftliche und auch organisatorische Herausforderung. Das Wichtigste ist es zu akzeptieren, dass man die Fäden eben NICHT in der Hand behalten kann! Man muss loslassen können. Unsere Aufgabe ist nicht, auf alles Antworten zu finden, sondern Fragen zu stellen. Manchmal wissen wir nicht einmal, ob es auf die Fragen, die wir stellen, Antworten gibt. Ich sehe mich als Fragensteller. Man muss einfach mutig sein! Wir werden viel Kritik bekommen, und das soll auch so sein!
Ihr Wunsch ans Universum?
Dass ich meine Kinder ohne Sorge um ihre Gesundheit und Sicherheit in den jüdischen Religionsunterricht schicken kann. Ganz ohne Polizeibewachung. Und dass meine Enkelkinder vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte sagen können: Es ist normal, gleichzeitig deutsch und jüdisch zu sein!
Weitere Informationen zum Festjahr #2021JLID – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland unter www.2021jlid.de