Bob Dylan
Wahre Magie und die Last des Mythos
von Ruth Renée Reif
23. Mai 2021
Bob Dylan befruchtete die Folkmusik mit zeitgenössischer Lyrik und philosophischem Gedankengut. Am 24. Mai 2021 begeht er seinen 80. Geburtstag.
„Die meisten literarischen Werke Dylans sind heute Klassiker“, stand bereits 1982 in der Propyläen Geschichte der Literatur zu lesen. 2016 wurde Bob Dylan nach dem Pulitzer-Sonderpreis für sein Lebenswerk und der Aufnahme in die American Academy of Arts and Letters für seine „neuen poetischen Ausdrucksformen innerhalb der großen amerikanischen Songtradition“ mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Der Musikkritiker Ralph Gleason sah in ihm gar Amerikas größten Dichter. Und Salman Rushdie nannte ihn „einen brillanten Erben der bardischen Traditionen von Orpheus bis Faiz“.
Die literarischen Einflüsse, die Bob Dylan in seine Texte aufnahm, reichen von Homers Odyssee und der Bibel über William Blake, Arthur Rimbaud, Bertolt Brecht und Robert Browning bis den Beat-Literaten. Vor allem mit Allen Ginsberg verband ihn eine lebenslange Freundschaft. 1964 wurden die beiden einander vorgestellt. Ginsberg bewunderte Dylans ausgezeichnete Lyrik und freute sich, diesen persönlich kennenzulernen. Bob Dylan hatte damals bereits zwei Alben herausgebracht. „Bob Dylan“ enthielt vorwiegend traditionelle Folk-Songs, von denen lediglich zwei der insgesamt 13 Stücke aus Bob Dylans Feder stammten: Talkin« New York und Song to Woody, ein Gruß an sein todkrankes Idol Woody Guthrie. 1963, nach dem ersten großen Auftritt in der New Yorker Town Hall, war die zweite Platte „The Freewheelin« Bob Dylan“ erschienen. Sie bestand ausschließlich aus Eigenkompositionen, darunter neben Down the Highway und A Hard Rains A‑Gonna Fall auch den mittlerweile legendären Song Blowin« in the Wind.
Bob Dylan kannte Ginsbergs Texte, die er ebenso wie die von Jack Kerouac, Gregory Corso und Lawrence Ferlinghetti auf der High School in Minnesota gelesen hatte. Seine aus Bildketten, Assoziationen und Traumsequenzen bestehenden Songs Like a Rolling Stone, Tombstone Blues und Desolation Row waren den Texten der Beat-Literaten sehr nahe. Wie der Ginsbergs Biograf Michael Schumacher erläutert, gelang Bob Dylan genau das, wovon Ginsberg träumte, nämlich ein Massenpublikum für Lyrik zu begeistern. Zudem hatte Dylan auf dem Album „Blood on the Tracks“ 1975 eine Methode gefunden, Elemente der Meditation in seine Musik einzuführen. Es war das, was Ginsberg anstrebte, und er beglückwünschte ihn dazu. „Was für ein unerwarteter Triumph für Dylan“, schrieb er. „Ich möchte die Worte auf Papier geschrieben sehen, in Versen, durch Pausen und Atemzüge in abhängige hängende Symmetrien getrennt.“
Eine Show im Stil fahrender Sänger
Eines Tages erhielt Ginsberg einen Anruf von Bob Dylan mit dem Vorschlag, an seiner bevorstehenden Tournee mitzuwirken. Er wollte diesmal nicht in großen Arenen auftreten, sondern in kleinen Theatern und Hallen, um wieder die Intimität zwischen Musiker und Publikum zu erfahren. Eine Tour durch Greenwich Village hatte ihn auf die Idee gebracht. Rolling Thunder Revue nannte er das Projekt. Die Truppe, die daran beteiligt war, sollte ebenfalls klein sein. Dylan stellte sich eine Show im Stil fahrender Sänger vor, die unangekündigt von Ort zu Ort ziehen. Als aber Gerüchte über das Projekt die Runde machten, wollten so viele dabei sein, dass es schließlich über 70 Künstler waren. Das Ergebnis war ein mitreißendes Musikspektakel. Auch ein Film sollte daraus entstehen, zu dem der Dramatiker Sam Shepard das Drehbuch schrieb und der die Musiker in fiktiven Rollen zeigen sollte. Dylan selbst wollte Songs von seinem geplanten Album „Desire“ singen.
Am 27. Oktober 1975 fuhr die Truppe los. Vor der ersten Vorstellung am 30. Oktober gab es im Hotel Seacrest in Falmouth, Massachusetts, einem Ferienort am Meer, eine erste Live-Probe vor Publikum. Da es außerhalb der Saison war, befanden sich im Hotel nur 200 alte jüdische Damen, die an einem Mah-Jongg-Wettbewerb teilnahmen, was der Unternehmung einen unerwartet skurrilen Rahmen gab. Allen Ginsberg las das Gedicht Kaddish. Darauf folgte Joan Baez mit einer A‑cappella-Version von Swing Low, Sweet Chariot.
Lebensspendende Begeisterung
Nach einer Violineinlage von David Mansfield setzte Dylan sich an das ramponierte Klavier, das auf der Bühne stand, und spielte eine Mitklatsch-Version von Simple Twist of Fate. „Das ist Dylans wahre Magie“, schrieb Sam Shephard. „Lassen wir mal den genialen Dichter einen Augenblick außen vor und beobachten nur, wie er die Energie umsetzt, die er mitbringt. Nur wenige Augenblicke vorher waren Spannung und Verlegenheit im Saal zum Schneiden dick, und jetzt geht mit einem Mal die Post ab. Er hat dem Raum eine Spritze lebensspendender Begeisterung verpasst. Es ist nicht die Art von Energie, die die Leute durchdrehen lässt, sondern die Art, die Mut und Hoffnung gibt und das pulsierende Leben in den Vordergrund stellt. Wenn er das hier schafft, mitten im Winter, in einem Seebad voller Menopause außerhalb der Saison, dann braucht es nicht zu wundern, dass er die ganze Nation zum Rocken bringt.“
Die USA bereiteten die Feiern ihres 200. Geburtstages vor, und die Revue leistete ihren eigenen Beitrag zu dem Thema, indem am Ende eine Mitsing-Version von Woody Guthries Hymne This Land is Your Land stand. Die ersten Auftritte der Revue fanden in Plymouth und North Dartmouth statt. Am 2. November gastierte die Truppe in Lowell, der Geburtsstadt von Jack Kerouac, der 1969 verstorben war. Ginsberg und Dylan begaben sich mit der Filmcrew zu Kerouacs Grab. Im Film ist zu sehen, wie Ginsberg einige Verse aus Kerouacs Mexico City Blues liest und Bob Dylan einen Blues auf der Gitarre spielt.
Das Gefühl der Erneuerung
Die Tour, die 1976 landesweit fortgesetzt wurde, war, wie Ginsberg in seinem Tagebuch festhielt, von einem inspirierenden Gemeinschaftsgefühl geprägt. Das Gefühl der Erneuerung sei sowohl auf wie hinter der Bühne spürbar gewesen. Eine bewegende Szene ereignete sich, als Bob Dylan unter einem großen Kruzifix stand und darüber sinnierte, was man für einen Typen wie den auf dem Kreuz wohl tun könne. „Wir hatten diese brillante komische Situation, als Dylan sich mit Christus unterhielt“, erinnerte er sich. „Es war, als spiele Dylan humorvoll mit dem schrecklichen Potenzial seiner eigenen mythologischen Bilderwelt… Das schien so charakteristisch für die Tour: dass Dylan bereit war, die Last des Mythos zu tragen, die man ihm aufbürdete.“
Bob Dylans Film über die Tour mit der Rolling Thunder Revue kam im Januar 1978 unter dem Titel Renaldo and Clara heraus. Er dauerte knapp vier Stunden. Einen Verschnitt aus dem Filmmaterial verfertigte Martin Scorsese 2019 unter dem Titel Rolling Thunder Revue.
Martin Scorsese Film Rolling Thunder Revue kann bei dem Medienunternehmen Netflix angeschaut werden: www.netflix.com
Bei Arte kann man bis 30. Mai 2021 Jennifer Lebeaus Film Bob Dylan: Trouble No More über die Jahre 1979 bis 1981 sehen, als Bob Dylan zur evangelikalen Kirche The Vineyard Fellowship konvertierte und die christlich inspirierte LP-Trilogie „Slow Train Coming“, „Saved“ und „Shot of Love“ herausbrachte: www.arte.tv