Boris Giltburg

Einen Saal zum Klingen bringen

von Klaus Kalchschmid

4. Januar 2020

Boris Giltburg stellt alle Beethoven-Sonaten ins Internet. In CRESCENDO erzählt er vom Klang im Raum, Fazioli-Flügel und der Lust an allem Russischen.

CRESCENDO: Herr Gilt­burg, was heißt es, im Gegen­satz zu Geigern oder Klari­net­tisten jeden Abend auf einem anderen Flügel spielen zu müssen? Wie lange braucht man, sich auf die Eigen­heiten eines Instru­ments und der Saala­kustik einzu­stellen?
: Das ist selten ein wirk­li­ches Problem, aber immer eine Heraus­for­de­rung. Auf einem guten Instru­ment braucht man sehr wenig Zeit, auf einem weniger guten umso mehr. Gestern in der Stadt­halle war es span­nend. Ich konnte drei Stunden üben, kam aber mit dem Instru­ment, einem vor 15 Jahren gebauten Steinway D, nicht restlos zurecht. Im Konzert verän­derte sich dieses Empfinden total. Beson­ders in der zweiten Hälfte, bei den Rach­ma­ninow-Préludes war alles perfekt.

»Ein gutes Instru­ment kann den Pianisten in ganz andere Rich­tungen führen als vorge­sehen.«

Wie man warten muss, bis sich die Augen an einen dunklen Raum gewöhnt haben, so ist es mit den Ohren auch. Man darf nichts forcieren und muss dem Gehör Zeit geben zu erfassen, wie sich der Klang in einem Raum ausbreitet. Dann können Sie alles machen, was das Instru­ment und der Raum erlauben! Ein gutes Instru­ment kann den Pianisten in ganz andere Rich­tungen führen als vorge­sehen. Gestern geschah das nach der Pause. Der Ton besaß nach dem Anschlag noch lange „Körper“, und so blieb der Klang quasi stehen oder besser: Er schwebte!

CRESCENDO: Sie haben Ihre letzten Alben auf einem Fazioli einge­spielt. Was ist für Sie der Vorzug gegen­über Bösen­dorfer oder Steinway, ja auch Yamaha?
Boris Gilt­burg: Für die tägliche Arbeit ist ein Yamaha ideal: hand­werk­lich ausge­reift, man kann sich auf diese Instru­mente verlassen. Faziolis begegnet man in , Italien oder häufiger, aber in habe ich noch nie auf einem Fazioli gespielt. Was das Mecha­ni­sche angeht, sind Faziolis heute die besten Klavier­in­stru­mente! Viel besser als Steinway, Yamaha oder Bösen­dorfer. Die Tasten haben eine große Leich­tig­keit und kehren schnell zurück nach dem Anschlag, sind aber auch nicht zu leicht­gängig. Ein gut regu­lierter Fazioli spielt sich fast von selbst, und man kann mit nur halber Kraft eine große Klang­ent­fal­tung erzielen.

»Bei einem Top-Fazioli ist die Klar­heit phäno­menal und verbindet sich mit einem schönen, singenden Ton.«

Neulich im Concert­ge­bouw in hatte ich ein so gutes Instru­ment, dass ich so leise spielen konnte wie bei mir zu Hause, und doch war der Klang groß genug für den ganzen Saal. Und wenn mehr nötig wurde, konnte man eine fast erschre­ckende Laut­stärke erzielen. Bei einem Top-Fazioli ist die Klar­heit phäno­menal und verbindet sich mit einem schönen, langen, „singenden“ Ton.

CRESCENDO: Wie oft wird Ihnen von einem Veran­stalter ein Fazioli ange­boten?
Boris Gilt­burg: In England hat die Firma , Louis Lortie, und mir ange­boten, ein Instru­ment auszu­su­chen, das wir dann für Konzerte in zur Verfü­gung gestellt bekommen. Da könnten wird dann immer auf „unserem“ Flügel spielen. Auf ihm habe ich die Schost­a­ko­witsch-Konzerte, zweites und drittes Rach­ma­ninow-Konzert aufge­nommen – und jetzt folgen mit ihm alle Beet­hoven-Konzerte.

»Emil Gilels ist mein großer musi­ka­li­scher Held.«

CRESCENDO: Sie haben 75 Jahre nach den Concours Reine Elisa­beth gewonnen. Wie erlebt man einen so anspruchs­vollen Wett­be­werb?
Boris Gilt­burg: Emil Gilels, mein großer musi­ka­li­scher Held, war einer der Gründe, warum ich über­haupt teil­ge­nommen habe, und dieser Monat war enorm anstren­gend.

CRESCENDO: Ein ganzer Monat?
Boris Gilt­burg: Ja, der Wett­be­werb erstreckt sich über drei Runden in vier Wochen. Es beginnt mit nur 20 Minuten Recital mit Bach, einem Satz aus einer klas­si­schen Sonate, dazu vier Etüden; dann folgt die Hälfte eines 90-minü­tigen Reci­tals plus ein Mozart-Klavier­kon­zert und endlich die letzte Runde. Da gibt es die Tradi­tion, dass alle Fina­listen in einem Haus unter­ge­bracht sind, in dem jeder ein Zimmer mit Flügel hat. Eine Woche hatten wir Zeit, das zeit­ge­nös­si­sche Klavier­kon­zert, das für den Wett­be­werb kompo­niert wurde, einzu­stu­dieren und an seinen beiden anderen Stücken zu feilen. Das Schöne war, dass wir Pianisten uns gut verstanden, ja, es sind sogar Freund­schaften entstanden. Wir arbei­teten oft bis tief in die Nacht hinein zusammen an dem neuen Werk und aßen auch immer zusammen.

CRESCENDO: Auf Ihrer Website kann man 18 Videos ankli­cken, die Sie „Five Minutes Library“ nennen. Darin erklären und spielen Sie promi­nente Klavier­stücke. Sie spazieren viel im Grünen, aber einmal ist auch das Meer zu sehen. Wo war das?
Boris Gilt­burg: Das ist der Ausblick aus der Villa des Direk­tors des Loui­siana Museums für Moderne Kunst im däni­schen Humlebæk, wo wir vieles aufnehmen durften.

CRESCENDO: Dieses Jahr pausiert das Projekt wie auch Ihr Foto-Blog www​.bgilt​photos​.word​press​.com, warum?
Boris Gilt­burg: Ein anderes Projekt wird jenseits der Konzerte meine ganze Aufmerk­sam­keit bean­spru­chen. Ich übe, spiele und stelle alle Beet­hoven-Sonaten chro­no­lo­gisch vor, lasse auf www​.beet​ho​ven32​.com wie in einem Tage­buch, aber auch am Entste­hungs­pro­zess, an den Schwie­rig­keiten und Heraus­for­de­rungen teil­haben. Das Ganze beginnt am 1. Januar 2020 und alle zehn oder 14 Tage später gibt es eine neue Sonate.

»Ich liebe dieses ursprüng­liche Rondo von Beet­ho­vens Zweitem Klavier­kon­zert

CRESCENDO: Inner­halb einer Gesamt­auf­nahme aller Klavier­kon­zerte mit und dem Royal Liver­pool Phil­har­monic Orchestra haben Sie die ersten beiden veröf­fent­licht, dazu das ursprüng­liche Finale des Zweiten Konzerts. Warum hat Beet­hoven es neu kompo­niert?
Boris Gilt­burg: Das ursprüng­liche Finale ist eine Mozart-Hommage mit einem Andante-Mittel­teil wie im letzten Satz des KV 482, viel­leicht war das Beet­hoven später zu viel, oder er spürte, dass nach dem vergeis­tigten, medi­ta­tiven lang­samen Satz, wo am Ende die Zeit stehen bleibt, etwas kommen muss, was uns wieder auf die Erde holt – frecher, direkter, auch in seinem Humor, und nicht so viel mit der Form spielt. Aber ich liebe dieses ursprüng­liche Rondo.

CRESCENDO: Als gebür­tiger Russe pflegen Sie ausgiebig das russi­sche Reper­toire. Sie haben die Kriegs­so­naten Prokof­jews, viel Rach­ma­ninow und die Schost­a­ko­witsch-Konzerte aufge­nommen.
Boris Gilt­burg: Ja, ich lese auch viel russi­sche Lite­ratur, denn Sprache, Poesie und Musik sind sehr verwandt mitein­ander, und ohne das alles könnte ich mir mein Leben nicht vorstellen.

»Ich bin nach Musik von Schost­a­ko­witsch süchtig, nach dieser nackten Kraft.«

CRESCENDO: Sie haben das Dritte und Achte der Schost­a­ko­witsch-Streich­quar­tette für Klavier bear­beitet, kommt da noch etwas?
Boris Gilt­burg: Ja, gerade arbeite ich am Zweiten Quar­tett, einen Satz habe ich schon fertig. Ich bin nach Musik von Schost­a­ko­witsch süchtig, nach dieser nackten Kraft, diesem Grim­migen. Selbst ein exzel­lenter Pianist, hat er zwei Konzerte, sehr eigen­stän­dige Klavier­parts für seine Lieder wie die Michel­an­gelo-Sonette und groß­ar­tige Kammer­musik mit Klavier kompo­niert, die dieselbe psycho­lo­gi­sche Tiefe und emotio­nale Kraft besitzen wie die Sinfo­nien und Streich­quar­tette. Aber an Solo-Klavier­werken gibt es nichts ähnlich Bedeu­tendes, deshalb mache ich diese Tran­skrip­tionen. Ich liebe aber auch Prokofjew, er besitzt diese unglaub­liche Fantasie und einen geist­sprü­henden Humor. Bei Schost­a­ko­witsch – und auch Mussorgsky – äußern sich Gefühle dagegen oft sehr schmerz­haft.

CRESCENDO: Ein Name fehlt noch: Tschai­kowsky!
Boris Gilt­burg: Oh ja, ich habe alle drei Klavier­kon­zerte sehr gern gespielt, bei ihm liebe ich das, was man „Rein­heit der Seele“ nennen könnte und eine gewisse – ich möchte es fast „Unschuld“ nennen; denken Sie nur an diese scheue und doch so inten­sive Liebe Tatjanas in Eugen Onegin. Aber ich will mich nicht entscheiden müssen zwischen ihm, Rach­ma­ninow, Mussorgsky, Prokofjew, Schost­a­ko­witsch oder – ich liebe und verehre sie alle!

Über Boris Gilt­burg und seine Einspie­lung von Rach­ma­ni­novs „Zweitem Klaver­kon­zert“: crescendo​.de