Giorgio de Chirico
Die Vision der verlassenen Plätze
von Ruth Renée Reif
20. Januar 2021
Giorgio de Chirico und Carlo Carrà schufen mit einem neuen Blick auf die Wirklichkeit die Pittura Metafisica. Die Hamburger Kunsthalle geht dem Phänomen sowie dessen Quellen und Weiterwirken nach.
Ein Militärhospital bei Ferrara ist der Geburtsort der Pittura Metafisica. 1917 trafen hier Carlo Carrà und Giorgio de Chirico zusammen. Carrà, der zu den führenden Futuristen zählte, war aufgrund neurologischer Störungen in das Krankenhaus gekommen. De Chirico, der sich mit Max Klinger und Arnold Böcklin auseinandergesetzt hatte, ehe er in Paris im Salon d’Automne und bei den Indépendants ausstellte, war nach seiner Rückkehr vom italienischen Militär in das Krankenhaus abkommandiert worden.
In den leeren Räumen des Klosters, in dem das Krankenhaus eingerichtet worden war, begannen die beiden zu malen. Die Entmenschlichung durch den Krieg und die von diesem hervorgerufene beunruhigende Stimmung sowie die Atmosphäre der Stadt Ferrara mit ihren weiten, verlassenen Plätzen, über die die Denkmäler lange Schatten warfen fanden in ihren Werken bildnerischen Ausdruck.
Eine weitere Quelle bildete Friedrich Nietzsche, in dessen Briefe sich de Chirico vertiefte. In seiner Autobiografie erläutert er, was ihn am Sehen Nietzsches so bewegte. Es sei die seltsame und tiefe, unendlich geheimnisvolle und einsame Poesie. Sie ruhe auf der Stimmung eines herbstlichen Nachmittags, wenn das Wetter klar sei und die Schatten länger als im Sommer seien. Nietzsches Beschreibung der gespenstischen, verlassenen Plätze Turins, umstellt vom Gleichmaß der Arkaden und bewohnt von Statuen, verfolgte de Chirico wie eine Vision weiter. Auch fand er bei Nietzsche das Gefühl der Leere und die Empfindung der inneren Bedeutung der gewöhnlichen Dinge in dieser Leere.
Es ist der neue Blick, der die Malerei der Pittura Metafisica kennzeichnet. Das Ding tritt dem Betrachter als noch nie Erfahrenes neu und magisch gegenüber. Auch der Raum wird als magisches Gegenüber erfahren. Ein Mann sitze in einem Zimmer mit Büchern usw., alles scheine gewöhnlich, weil die Erinnerungskette alles logisch erkläre, erläutert de Chirico, „aber nehmen wir an, dass für den Augenblick und aus unerklärbaren und vom Willen unabhängigen Gründen ein Glied dieser Kette bricht … welch erschrecktes Staunen… Die Szene selbst wäre indessen nicht verändert. Ich wäre es, der sie unter einem anderen Blickwinkel sehe.“ Das sei der metaphysische Aspekt der Dinge. „Wir wissen“, betont de Chrico, „was für Freuden und Schmerzen in einem Torbogen, an einer Straßenecke, zwischen den Wänden von Zimmern oder im Innern einer Kiste verborgen sind.“
Unter dem Titel „DE CHIRICO. Magische Wirklichkeit“ stellt die Hamburger Kunsthalle 80 Werke der Pittura Metafisica und ihres Umfeldes aus. Mit Werken von de Chirico, Carrà, Giorgio Morandi, Alberto Magnelli, Alexander Archipenko, Pablo Picasso sowie Arnold Böcklin und Max Klinger sollen die Quellen sowie das Nachwirken der Pittura Metafisica aufgezeigt werden. Der Livestream zur Eröffnung ist über die Website der Hamburger Kunsthalle abrufbar. Dort sind auch weitere digitale Angebote zu finden.
Zur Website der Hamburger Kunsthalle: www.hamburger-kunsthalle.de