Georges Mathieu

Tanz vor der Lein­wand

von Ruth Renée Reif

26. Januar 2021

Georges Mathieu war der Schöpfer der lyrischen Abstraktion. In seinem Malprozess verband er spontanen Ausdruck mit theatralischem Ritual. Am 27. Januar 2021 jährt sich sein Geburtstag zum 100. Mal.

brachte das thea­tra­li­sche Element in die Malerei. Mit dem Schwung und der Grazie eines Ballett­tän­zers wirbelte er Linien, Kurven und verschlun­gene Arabesken auf die riesige Lein­wand. Am Beginn stand zumeist eine lange wellen­för­mige Hori­zon­tale, die er unmit­telbar darauf mit einer Verti­kalen kreuzte. Damit nahm der Malpro­zess Fahrt auf und strebte mit drän­gender Kraft seinem Höhe­punkt zu. „Endlich ein abend­län­di­scher Kalli­graf“, rief der Schrift­steller André Malraux vor einem der Bilder Mathieus aus.

Georges Mathieu malte 1971 zu den Klängen von Vangelis, dem Pionier der elek­tro­ni­schen Musik.

Mathieu arbei­tete, ohne eine Vorstel­lung davon zu haben, wie das Gemälde am Ende aussehen werde. An erster Stelle stand für ihn die Schnel­lig­keit. Mit ihr komme ein neues Element in die abend­län­di­sche Kunst­auf­fas­sung. „Die Schnel­lig­keit bedeutet die endgül­tige Aufgabe hand­werk­li­cher Verfahren in der Malerei zugunsten rein schöp­fe­ri­scher Methoden“, erläu­terte er.

Geschwin­dig­keit und Impro­vi­sa­tion

Durch die Schnel­lig­keit und ihre Verbin­dung mit der Impro­vi­sa­tion erweise sich „die Verwandt­schaft des schöp­fe­ri­schen Verfah­rens dieser Malerei mit den Formen befreiter, unmit­tel­barer Musik wie dem Jazz“. Zu der Notwen­dig­keit von Geschwin­dig­keit und Impro­vi­sa­tion fügte Mathieu „als subli­mierte Kondi­tion die Konzen­tra­tion psychi­scher Energie und gleich­zeitig den Zustand völliger Leere“ hinzu.

Georges Mathieu: Évanescence
Eine Offen­ba­rung für Georges Mathieu Évane­s­cence (Vergäng­lich­keit) aus dem Jahr 1945 – sein erstes abstraktes Werk

Georges Mathieu kam in Boulogne-sur-Mer zur Welt. Während seines Philo­so­phie- und Jura­stu­diums begann er zu malen. 1944 entstanden seine ersten nicht­fi­gu­ra­tiven Bilder. Nach einem Aufent­halt in über­sie­delte er 1947 nach Paris, wo er sich an zahl­rei­chen Mani­festen betei­ligte. So verkün­dete er den Triumpf der „lyri­schen Abstrak­tion“ und des Tachismus als eine Reak­tion auf den abstrakten Forma­lismus. 1949 veröf­fent­lichte er die Schrift Anagogie de la Non-figu­ra­tion. Mit seinen Bildern betei­ligte er sich am Salon des Réalités Nouvelles und dem Salon des Surin­dé­pen­dants. Er orga­ni­sierte auch selbst eine Ausstel­lung mit Werken jener Maler, die Einfluss auf sein eigenes Schaffen hatten, wie Willem de Kooning, Arshile Gorky, Jackson Pollock, Mark Rothko und Mark Tobey sowie Hans Hartung und Wols.

Die unge­heure Anzie­hungs­kraft der ameri­ka­ni­schen Maler

Nachdem Peggy Guggen­heim 1947 nach Europa zurück­ge­kehrt war und in zahl­rei­chen Städten ihre Samm­lung zeigte, wurde auch die euro­päi­sche Kunst­welt mit der ameri­ka­ni­schen Malerei bekannt. Pollock, Gorky und de Kooning waren 1950 auf der Bien­nale in vertreten und übten eine unge­heure Anzie­hungs­kraft auf die junge Gene­ra­tion aus. Mathieu fühlte sich vor allem von Pollock ange­regt. Ein weiterer wich­tiger Künstler für ihn war Wols. „Sehen, das heißt, die Augen schließen“, lautete Wols« Credo, der die Bilder malte, die aus den seeli­schen Verwun­dungen seines Lebens­schick­sals strömten.

Georges Mathieu beim Malen
Stellte den Malpro­zess öffent­lich dar: Georges Mathieu

1950 hatte Mathieu eine Einzel­aus­stel­lung in der Galerie von René Drouin an der Place Vendôme. 1952 folgte seine erste Ausstel­lung in . Vermut­lich unter dem Einfluss von Pollock ließ er sich ab dieser Zeit beim Malen foto­gra­fieren.

Öffent­liche Darstel­lung des Malpro­zesses

In der Folge begann er, den Malpro­zess auch öffent­lich darzu­stellen und zu ritua­li­sieren. 1956 führte er im Rahmen des d’Art drama­tique auf der Bühne des Théâtre Sarah Bern­hardt den Entste­hungs­pro­zess eines vier mal 12 Meter großen Gemäldes öffent­lich vor. 800 Farb­tuben verar­bei­tete er für das Bild, das unglück­li­cher­weise bei einem Brand in seiner Werk­statt zerstört wurde. Im Jahr darauf reiste er nach , wo seine Bilder in einer Ausstel­lung gezeigt wurden. Zugleich befasste er sich mit japa­ni­scher Kalli­grafie, die er in seine spon­tane Ecri­ture einfließen ließ.

Film­do­ku­ment vom Live-Pain­ting des Gemäldes Hommage au Conné­table de Bourbon, auteur du sac de am 2. April 1959 in

Ein frühes Doku­ment einer solchen Vorfüh­rung ist ein leider stummer Schwarz-Weiß-Film, der am 2. April 1959 in Wien aufge­nommen wurde. Mathieu trat im Theater am Fleisch­markt auf, einem Zentrum der Wiener Aktio­nisten.

Direkt aus den Tuben, mit Kannen, Pinseln und Lappen

Zu den Klängen von Pierre Henry, einem Wegbe­reiter der elek­tro­ni­schen Musik, trug er direkt aus den Tuben, mit Kannen, großen Pinseln und Lappen die Farben auf die zwei­ein­halb mal sechs Meter große Lein­wand auf, die zunächst auf dem Boden lag. Da Unruhe im Publikum aufkam, weil es nichts sah, wurde sie im Verlauf des Malpro­zesses aufge­stellt.

Georges Mathieu:Hommage au Connétable de Bourbon
Wurde in vielen Ausstel­lungen gezeigt: Georges Mathieus Gemälde Hommage au Conné­table de Bourbon, auteur du sac de Rome

Hommage au Conné­table de Bourbon, Auteur du sac de Rome beti­telte Mathieu sein Gemälde, in dem er sich wie in vielen seiner Bilder auf eine Schlacht im Mittel­alter bezog. „Conné­table von Bourbon“, wie Charles III., der Herzog von Bourbon-Mont­pen­sier, genannt wurde, war der Heer­führer bei der Plün­de­rung Roms und des Kirchen­staates im Jahr 1527. Er habe den Papst und all die Künstler raus­ge­worfen, die zur dama­ligen Zeit da gear­beitet hätten, erklärte Mathieu. „Ich wollte ein Fest dieses Raus­wurfs aller Maler der klas­si­schen Schule zum Ausdruck bringen. Denn es war diesen spek­ta­ku­lären Maßnahmen zu verdanken, dass die barocke und später die moderne Malerei in Erschei­nung traten.“ Mathieus Gemälde wurde in vielen großen Ausstel­lungen gezeigt. In jenem Jahr nahm Mathieu auch an der docu­menta II in teil.

die von Georges Mathieu entworfene Transformatorenfabrik in Fontenay-le-Comte
Wie ein Funken: die von Georges Mathieu entwor­fene Trans­for­ma­to­ren­fa­brik in Fontenay-le-Comte

1973 erteilte ihm der Indus­tri­elle Guy Biraud den Auftrag, eine Fabrik zur Herstel­lung elek­tri­scher Trans­for­ma­toren in Fontenay-le-Comte zu entwerfen. Mathieu ließ sich von dem Begriff Elek­tri­zität zu einem Gebäude in Form eines Funkens inspi­rieren. Die Arbeits­plätze der in dem Gebäude tätigen Menschen waren auf diese Weise mit der umge­benden Natur verbunden.

Georges Mathieu
Insze­nierte und ritua­li­sierte den Malpro­zess: Georges Mathieu, der Schöpfer der lyri­schen Abstrak­tion

Um 1980 erwei­terte Mathieu seine Farb­pa­lette. Auch die Kompo­si­tion seiner Bilder gewann an Frei­heit. Die Kreu­zung von Verti­kale und Hori­zon­tale, die Zentrum und Ausgangs­punkt des Malpro­zesses bildete und seinen Gemälden eine klas­si­sche Strenge verlieh, wich einer lyri­schen Verspielt­heit.

Retro­spek­tive in Mann­heim bei Marga­rete Lauter

Durch die Vermitt­lung des Kunst­händ­lers Paul Facchetti und des Gale­risten und Kunst­samm­lers Rodolphe Stadler kam Mathieu in Kontakt zu dem Kunst­his­to­riker Rolf Lauter in . Dieser arbei­tete damals noch als Kurator in der Galerie für inter­na­tio­nale Gegen­warts­kunst seiner Mutter Marga­rete Lauter in Mann­heim. So fand 1980 in der Galerie eine umfang­reiche Retro­spek­tive von Mathieus Œuvre statt. Über 60 Gemälde aus den Jahren 1944 bis 1989 wurden gezeigt. Die Verbin­dung zu Rolf Lauter, aus der im Laufe der Jahre weitere Projekte hervor­gingen, hielt an bis zu Mathieus Tod am 20. Juni 2012 in Paris.

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Weitere Informationen zu Georges Mathieu auf der Website, die das von Édouard Lombard ins Leben gerufene Georges Mathieu Committee betreibt: georges-mathieu.fr

Fotos: Daniel Frasnayakg-images