Kurt Weill: Der Weg der Verheißung (The Eternal Road)

Mendelssohn Bartholdy - Arnold Schönberg - Kurt Weill

Was ist eigent­lich jüdi­sche Musik?

von Florian Amort

8. Februar 2021

Von Synagogalmusik bis zu Arnold Schönberg, Leonard Bernstein und Kurt Weill – die Geschichte der jüdischen Musik in Deutschland ist so vielfältig wie die Geschichte des jüdischen Lebens selbst.

Ein monu­men­tales Bibel­spiel als „jüdi­sche Antwort auf Hitler“ wollten sie schaffen! So kamen im Mai 1934 auf Schloss Leopolds­kron bei Salz­burg der Schrift­steller Franz Werfel, der Kompo­nist und der Thea­ter­re­gis­seur Max Rein­hardt erst­mals für das gemein­same Groß­pro­jekt Der Weg der Verhei­ßung zusammen. Sie folgten der Idee des US-ameri­ka­ni­schen Thea­ter­ma­na­gers Meyer Wolf Weisgal, „die geis­tigen Ursprünge, die frühere sagen­hafte Geschichte und das zeit­lose Schicksal des jüdi­schen Volkes [darzu­stellen], zu dem sie gehören.“

Franz Werfel, Max Reinhardt und Kurt Weill
Franz Werfel (links) und Kurt Weill (rechts) 1934 bei Max Rein­hardt (Mitte) auf dessen Schloss Leopolds­kron in Salz­burg
(Quelle: Weill-Lenya Rese­arch Center, Kurt Weill Foun­da­tion for Music. )

Noch auf Schloss Leopolds­kron schrieb der in gebo­rene Weill an seine Eltern, „doch alles an Noten, was für mich als Vorstu­dien in Frage kommt, umge­hend zu schi­cken, aber nur wirk­lich alte, echte, origi­nale Musik, keine neue, moderne“. Er selbst hatte unmit­telbar nach der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen „Macht­er­grei­fung“ verlassen und lebte zu dieser Zeit in Louve­ci­ennes, einem Pariser Vorort. Nicht nur seine vermeint­liche „Rasse“, sondern auch die sozi­al­kri­ti­schen Gemein­schafts­werke mit dem beken­nenden Kommu­nisten Bertolt Brecht waren den Nazis ein Dorn im Auge.

Kurt Weill, seine Brüder und sein Großvater
Kurt Weill (links) und seine Brüder Nathan und Hanns mit ihrem Groß­vater Daniel Acker­mann. Die Familie wohnte im Erdge­schoß des Jüdi­schen Gemein­de­zen­trums in Dessau.
(Quelle: , Stadt­ge­schicht­li­ches Museum)

Bereits in jungen Jahren kam Weill mit dem reli­giösen Leben der jüdi­schen Gemeinde in Dessau in Berüh­rung. Seine Mutter stammte aus einer alten Rabbiner-Familie, sein Vater war als Kantor und Reli­gi­ons­lehrer an der dortigen Synagoge ange­stellt. Doch anders als in den aller­meisten jüdi­schen Gemeinden, die bis heute das nach der Zerstö­rung des Jeru­sa­lemer Tempels 70 n. Chr. einge­führte Verbot von Musik­in­stru­menten wahren und ausschließ­lich vokal musi­zieren, hatte das 1908 eröff­nete Gottes­haus auch eine Orgel zur Gesangs­be­glei­tung.

Das Bedürfnis nach Assi­mi­la­tion

Mit 73 weiteren jüdi­schen Gemeinden in Deutsch­land (bis 1933) entsprach sie damit einem insbe­son­dere in (Groß-)Städten von libe­ralen Juden gefor­derten Bedürfnis nach Assi­mi­la­tion und einem zeit­ge­mäßen Synago­gen­got­tes­dienst. Das brachte auch eine radi­kale Erneue­rung der litur­gi­schen Musik mit sich. Chas­anim (Kantoren) wie Salomon Sulzer in , Louis Lewan­dowski in Berlin oder Samuel Naum­bourg in Paris orien­tierten sich dabei an der zeit­ge­nös­si­schen protes­tan­ti­schen und katho­li­schen Kirchen­musik.

Moses Mendelssohn
Trat ein für Tole­ranz und eine gleich­be­rech­tigte Stel­lung in der Gesell­schaft: Moses Mendels­sohn, Vordenker der jüdi­schen Aufklä­rung

Einer der geis­tigen Väter dieser Reform‑, aber auch Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung, die weniger auf die reli­giösen Grund­sätze als viel­mehr auf die Reli­gi­ons­praxis zielte, war der eben­falls aus Dessau stam­mende Philo­soph Moses Mendels­sohn. Als Vordenker der jüdi­schen Aufklä­rung, der Haskala, forderte er eine säku­lare Bildung unter den Juden, trat für Tole­ranz und eine gleich­be­rech­tigte Stel­lung in der Gesell­schaft ein. Moses, dem sein Freund Gott­hold Ephraim Lessing mit Nathan der Weise ein lite­ra­ri­sches Denkmal setzte, war auch der Groß­vater von Fanny und . Sein Sohn Abraham ließ 1816 alle seine vier Kinder taufen, konver­tierte sechs Jahre später selbst zusammen mit seiner Frau zum Protes­tan­tismus und nahm den Zusatz­namen „Bartholdy“ – und zwar nicht als Doppel­name mit Binde­strich! – an.

Fron­taler anti­se­mi­ti­scher Angriff

Felix Mendels­sohn Bartholdy war selbst nicht beschnitten, sondern ein gläu­biger protes­tan­ti­scher Christ mit großem Inter­esse an der jüdi­schen Reli­gion. Doch auch wenn er dank seiner enormen Musi­ka­lität und unge­achtet seiner Herkunft zu einem der erfolg­reichsten Kompo­nisten und Diri­genten Europas avan­cierte: Nach seinem frühen Tod 1847 machte ihn Richard Wagner zum Juden. Er griff ihn sowie die beiden deutsch-jüdisch­stäm­migen Kompo­nisten Giacomo Meyer­beer und – als gestei­gerten Ausdruck der Verach­tung nur in einem Neben­satz erwähnt – (Konver­sion zum Katho­li­zismus 1844) frontal anti­se­mi­tisch an. Unter dem Pseud­onym K. Frei­ge­dank veröf­fent­lichte er 1850 in der Neuen Zeit­schrift für Musik das Essay Das Judenthum in der Musik.

Wagners Pamphlet – ein unheil­volles Signal

„Der Jude, der an sich unfähig ist, weder durch seine äußere Erschei­nung, noch durch seine Sprache, am aller­we­nigsten aber durch seinen Gesang, sich uns künst­le­risch kund­zu­geben, hat nichts­des­to­we­niger es vermocht, in […] der Musik, zur Beherr­schung des öffent­li­chen Geschma­ckes zu gelangen.“ Und an anderer Stelle: „Gemein­schaft­lich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden aber zu aller­nächst so viel als: aufhören, Jude zu sein. […] Aber bedenkt, dass nur Eines eure Erlö­sung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlö­sung Ahas­vers – der Unter­gang!“ Wagners Anti­se­mi­tismus mag zwar an dieser einen Stelle noch seiner „mythen­ge­lei­teten Phan­tasie“, wie es Jens Malte Fischer einmal formu­lierte, entsprungen sein. Jedoch ist sein Pamphlet ein unheil­volles Signal, das wenig später – und durchaus auch in Korre­la­tion zur Popu­la­rität Wagners – in voller Laut­stärke wieder­erklingen sollte.

Kurt Weill
Kurt Weill: „Niemals wird ein Jude ein Werk wie die Mond­schein­so­nate schreiben können.“

Der immer stärker werdende Anti­se­mi­tismus in Deutsch­land stürzte jüdi­sche Kultur­schaf­fende in eine tiefe Iden­ti­täts- und vor allem Glau­bens­krise. Auch der junge Kurt Weill zählt zu ihnen, der mit 19 Jahren in einem Brief an seinen Bruder Hans verzwei­felt schreibt: „Ich war schon fast bei dem Entschluss ange­langt, die Schrei­berei aufzu­ste­cken, und mich nur auf die Kapell­meis­terei zu werfen. Wir Juden sind nun einfach mal nicht produktiv und wenn wir es sind, wirken wir zerset­zend und nicht aufbauend und wenn die Jugend in der Musik die Mahler-Schön­berg-Rich­tung für aufbauend, für zukunfts­brin­gend erklärt (ich tue es ja auch!), so besteht sie eben aus Juden oder aus jüdelnden Christen. Niemals wird ein Jude ein Werk wie die Mond­schein­so­nate schreiben können.“

Arnold Schönberg
„Aruns hat den Gedanken gefasst, die Befreiung der Juden nach dem Vorbild der Bibel mit Zuhil­fe­nahme zeit­ge­mäßer Macht­mittel zu bewirken“, erläu­tert sein Drama Der bibli­sche Weg.

Gleichsam als Gegen­be­we­gung zu den immer härter werdenden Angriffen begann auch eine inten­sive künst­le­ri­sche Ausein­an­der­set­zung mit dem Anti­se­mi­tismus. So thema­ti­siert Arnold Schön­berg, der sich einst aus Über­zeu­gung hat evan­ge­lisch taufen lassen und 1933 als Reak­tion auf Hitler rekon­ver­tierte, in seinem 192627 verfassten Sprech­drama Der bibli­sche Weg den Zionismus sowie die histo­ri­schen und reli­giösen Voraus­set­zungen. Wenig später wandte er sich der Kompo­si­tion seiner letzt­lich unvoll­endet geblie­benen Oper Moses und Aron zu.

Schreck­liche Vorah­nung auf das Kommende

Auch Paul Dessau, der wie Schön­berg, Weill und unzäh­lige andere 1933 nach und wenig später in die Verei­nigten Staaten fliehen musste, steht mit seinem hebrä­isch­spra­chigen Orato­rium Hagadah shel Pessach, das die Befreiung der Israe­liten aus der ägyp­ti­schen Gefan­gen­schaft zum Thema hat, in dieser Linie. Sie wird wiederum von fort­ge­setzt, der kurz nach dem Eintritt der in den zweiten Welt­krieg 1942 seine erste Sinfonie mit dem Beinamen Jere­miah voll­endete, die auf den Klage­lie­dern der Tanach, der hebräi­schen Bibel, sowie auf synago­galen Kantil­la­tionen beruht.

The Eternal Road
Der Auszug aus der Synagoge – Szene aus der Urauf­füh­rung von Franz Werfels Bibel­drama The Eternal Road mit der Musik von Kurt Weill am 7. Januar 1937 am Manhattan Opera House in New York
(Quelle: Weill-Lenya Rese­arch Center, Kurt Weill Foun­da­tion for Music. New York)

Das Bibel­spiel Der Weg der Verhei­ßung, das als The Eternal Road in schreck­li­cher Vorah­nung auf das Kommende nach mehreren Verschie­bungen 1937 endlich in New York seine Urauf­füh­rung feiern konnte, ist eben­falls diesem Strang zuzu­ordnen. In diesem Orato­rium rezi­tiert der Rabbi einer zeit­losen, aus Angst vor Pogromen in die Synagoge geflüch­tete Gemeinde episo­den­haft die Geschichte des ewig umher­wan­dernden jüdi­schen Volkes, um den anwe­senden Gläu­bigen die Furcht vor dem kommenden Leidensweg zu nehmen.

Abraham Zvi Idelsohn
Der Musik­for­scher Abraham Zvi Idel­sohn im Kreis seiner musi­ka­li­schen „Infor­manten“

Weill griff auf tradi­tio­nelle jüdi­sche Melo­dien zurück, die an entschei­denden Hand­lungs­punkten erklingen. Er fand sie aller­dings nicht in den von seinen Eltern geschickten Noten, sondern mutmaß­lich in der zehn­bän­digen Samm­lung Hebrä­isch-orien­ta­li­scher Melo­dien­schatz. Der jüdi­sche Musik­for­scher und Chasan Abraham Zvi Idel­sohn hat in diesem ethno­lo­gi­schen Mammut­pro­jekt von 1906 bis 1932 über 1.000 Feld­auf­nahmen ange­fer­tigt, und dadurch die synago­galen Gesänge der unter­schied­li­chen jüdi­schen Tradi­tionen für die Nach­welt doku­men­tiert und schließ­lich ediert heraus­ge­geben.

Ernest Bloch
Bewun­derte Jesus Christus als den „einzigen Menschen, der nach seinen Prin­zi­pien lebte, nicht in Doktrinen gefangen war und danach handelte, was er selber predigte“:

Vor der Shoah war Deutsch­land trotz seiner relativ kleinen jüdi­schen Bevöl­ke­rung ein bedeu­tendes Zentrum für Synago­gal­musik unter­schied­lichster Art. Hier wirkten jüdisch-ortho­doxe Chas­anim wie , Salomo Pinka­so­vitch oder Zavel Kwartin, aber auch jüdi­sche Kompo­nisten wie Hein­rich Schalit, Ernest Bloch, Hugo Adler, Jakob Dymont, Max Ettinger oder Oskar Gutt­mann. Sie brachten in Berlin mehrere groß­for­ma­tige litur­gi­sche Werke zur Auffüh­rung, rückten verstärkt die ursprüng­li­chen, von Idel­sohn zugäng­lich gemachten Melo­dien ins Zentrum und strebten eine Synthese der unter­schied­li­chen litur­gi­schen Musik­stile an. Zeit­gleich erklang mancher­orts nach wie vor das etablierte Reper­toire der Reform­syn­agoge. Die Nazis setzten dieser Viel­falt ein abruptes Ende. Mehr noch: Die Ermor­dung von sechs Millionen Juden machte ein Weiter­leben der koexis­tie­renden Tradi­tionen unmög­lich, selbst wenn auch noch unter der NS-Herr­schaft verein­zelt synago­gale Musik kompo­niert wurde.

Der Weg der Verheißung
Der Weg der Verhei­ßung, Franz Werfels Bibel­drama mit der Musik von Kurt Weill in einer Auffüh­rung am Theater
(Foto: © Dieter Wuschanski)

Nach dem Krieg, zuerst zöger­lich, ab den 1960er-Jahren verstärkt, setzten sich unter­schied­liche Insti­tu­tionen, Initia­tiven, Ensem­bles und Privat­per­sonen zum Ziel, die jüdi­sche Musik in Deutsch­land in all ihren Erschei­nungs­formen zu erfor­schen, zu rekon­stru­ieren, zu doku­men­tieren, zu vermit­teln und in Konzerten zur Auffüh­rung bringen. Diese Berüh­rungen stehen aller­dings zumeist in keiner Verbin­dung zum jüdi­schen Gemein­de­leben, das durch Zuwan­de­rung vor allem Russisch geprägt ist. Trotz dieser fast herme­ti­schen Tren­nung zeigen aber beide Entwick­lungen etwas Entschei­dendes: wie viel­fältig jüdi­sche Musik ist.