KlassikWoche 05/2022
Münchner Gnadengesuch, Wiener Sinnkrise und Berliner Allerlei
von Axel Brüggemann
31. Januar 2022
Rolando Villazón und die Nachfolge an der Staatsoper Berlin, das Werben von Jonas Kaufmann, Bryn Terfel und Lise Davidsen für die Wiener Staatsoper
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit einer Absage-Debatte, einer Sinnfrage, einem hanebüchenen Gnadengesuch, mit Gerangel in Berlin und der alles entscheidenden Frage: „Erkennen Sie die Melodie?“
MAUSER BITTET UM GNADE
Letzte Woche hatte ich noch berichtet, wie der Ex-Rektor der Musikhochschule München und der Salzburger Universität Mozarteum, Siegfried Mauser, in der Kronen Zeitung erklärt hatte, seine Haftstrafe endlich anzutreten. In einem ausführlichen Kommentar für den SWR habe ich mich noch einmal mit diesem Fall auseinandergesetzt, und damit, welche Auswirkungen er auf den alltäglichen Klassik-Betrieb hat.
Nun berichtete die FAZ, dass Mauser seinen Haftantritt tatsächlich noch einmal verzögern will: Er hat angeblich Gnadengesuche bei Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen und bei Bayerns Ministerpräsident Markus Söder eingereicht. Manche Nachrichten machen mich einfach sprachlos! Interessant, Thilo Komma-Pöllath hat für die FAZ bei zwei Opfern nachgefragt, bei der Sängerin Maria Collien und der Cembalistin Christine Schornsheim, wie sie die aktuelle Wendung beurteilen. Collien sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein Gnadengesuch erfolgreich sein kann. Mauser ist zweifach rechtskräftig verurteilter Sexualstraftäter, man würde das Rechtswesen zu einem Kasperletheater machen.“
ABSAGEN TROTZ SPIELERLAUBNIS?
Letzte Woche hatten wir über die Absage der Mozartwoche berichtet, diese Woche kündigte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks an, dass es bis Mitte Februar auf Grund der Omikron-Welle nicht spielen würde. Auf meinem Insta-Profil habe ich eine Umfrage gestartet: Ist es okay, dass sich unsere Orchester in der aktuellen Situation neuerdings selber stummschalten? „Ja“, sagten 19 Prozent, für „Nein“ stimmten 81 Prozent. Dann habe ich erfahren, dass es in einem großen Berliner Orchester allein 20 aktive Corona-Fälle gegeben habe.
Die Absage vom BRSO klang aber nicht nach eigenen Fällen, sondern nach Sender-Willen: „Die Entscheidung wurde nicht vom Orchester getroffen, sondern vom BR und betrifft auch unsere Kollegen vom BR-Chor und Rundfunkorchester.“ Ich finde, es sollte gespielt werden, was gespielt werden kann – gerade jetzt! Orchester ringen um Publikum, um ihre Bedeutung, und sie sollten verdammt noch mal präsent sein: vor Ort und vor Publikum, natürlich nur, wenn es nach dem Gesetz erlaubt ist – aber das wäre in Salzburg und München ja der Fall gewesen. Am Anfang von Corona haben Ensembles protestiert, dass sie nicht spielen durften, heute spielen sie nicht, obwohl sie dürften. Verstehe das, wer wolle.
VILLAZÓN AN DIE STAATSOPER BERLIN?
Erstaunlich wenig Wellen hat bisher ein Bericht erzeugt, der diese Woche im VAN-Magazin erschienen ist. Darin geht es unter anderem um die Nachfolge von Intendant Matthias Schulz (er geht von der Staatsoper in Berlin nach Zürich) und um die Schwierigkeit, wie man mit Dirigent Daniel Barenboim (er ist „Chefdirigent auf Lebenszeit“) einen Neuanfang schaffen will. Der Text fasst zusammen, wie Barenboim sich der Aufarbeitung der Vorwürfe gegen ihn angeblich entzieht, wie die Berliner Kulturpolitik die alten Vorwürfe gegen den Dirigenten weitgehend ignoriert hat und dass die Stimmung des Orchesters gespalten ist. Die Autoren Hartmut Welscher und Jeffrey Arlo Brown erzählen, dass die Intendantin der Bregenzer Festspiele, Elisabeth Sobotka, als Nachfolgerin im Gespräch sei und außerdem – Achtung!!!! – Rolando Villazón. Tatsächlich erreichten auch mich diese Woche mehrere Nachrichten, dass man auf politischer Seite wohl „mit Frankreich“ (Villazón wohnt in Paris) verhandle. Pikanter Sidefact: In den letzten Wochen haben wir in diesem Newsletter bereits erfahren, dass Villazón und Anna Netrebko die gleiche Managerin haben. Und, oh Wunder!, auch Daniel Barenboim wird von ihr vertreten. Deshalb war es kaum erstaunlich, dass ausgerechnet der einstige Tenor (und inzwischen Bariton) in der FAZ für die Menschlichkeit Barenboims bürgte, als ihm zum ersten Mal eine autoritäre und beleidigende Arbeitsweise vorgeworfen wurde. Sollte Berlins Kultursenator Klaus Lederer sich ernsthaft das Doppel Barenboim-Villazón unterjubeln lassen, wäre das schon eine Farce.
SINNKRISE DER WIENER STAATSOPER?
Zufällig entdeckte ich auf Facebook mal wieder einen Bericht darüber, dass die Wiener Staatsoper trotz des Rollendebüts von Jonas Kaufmann als Peter Grimes – begleitet von Bryn Terfel und Lise Davidsen, nicht voll gewesen sei. Schnell wurde das durch Corona-Regeln (2GPlus und Co.) erklärt. Aber ist das wirklich alles? Einige Tage zuvor bin ich über ein wirklich peinliches Video gestolpert, in dem die Protagonisten fast darum bettelten, dass irgendjemand in die Vorstellung kommen möge. Ich finde, wir sollten nicht mehr alles auf Corona schieben. Ich habe den Post folgendermaßen kommentiert: „Könnte es nicht auch an der katastrophalen Performance des Intendanten liegen? Und an einem unsäglichen öffentlichen Auftritt: wer auf FB so erbärmlich um Publikum bettelt wie JK, LD und BT im Auftrag der Staatsoper – wer soll denn da kommen? Die Oper unter dieser Intendanz wäre auch ohne Corona leer – weil sie die vollkommene Langeweile und Bedeutungslosigkeit darstellt, weil sie Abgehalftertes als Neues verkauft, den Charme der Arroganz ausstrahlt und nicht versteht, dass Oper gerade in diesen Zeiten nicht einfach Dienst nach Vorschrift machen kann. Ein Trauerspiel – andere Häuser und spannende Aufführungen sind ja durchaus gut besucht. Wer noch immer nicht kapiert hat, dass die paar begeisterten Opernfreaks nicht reichen und dass wir uns grundlegend neue Konzepte überlegen müssen, ignoriert die Zeichen der Zeit. Das alles hat sich schon lange vor Corona angedeutet. Und die Kultur tut bei jeder neuen Welle wieder so überrascht wie die Politik…“
DER CORONA-KLASSIK-TICKER
Der Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, Gerald Mertens, sieht trotz Corona keinen Grund zum Pessimismus. Bei der Jahrespressekonferenz der MusikerInnen-Gewerkschaft berichtete er, dass bei den 129 staatlich geförderten Berufsorchestern seit 2020 die Zahl der Planstellen mit 9749 nahezu konstant geblieben ist. Außerdem würden viele Orchester sich Gedanken über neue Konzepte machen. Ich persönlich habe da meine Zweifel – allein die optimistische Darstellung der Gegenwart lässt vergessen, dass die Finanzkrise erst noch kommt, und dass derzeit in Wahrheit nur wenige Orchester ein klares Konzept dafür haben, wie sie perspektivisch wieder Publikum gewinnen wollen. Dass die Festangestellten bislang unangetastet geblieben sind, lag an den staatlichen Corona-Förderungen. Bald aber werden die Ensembles in einer vollkommen anderen Realität wieder auf eigenen Beinen stehen müssen.
Für Aufregung in sozialen Netzwerken sorgte ein Text von Fabian Held in der ZEIT. Unter der Überschrift „Die Opern sind voll, die Stadien leer“, spielt er Sport und Kultur gegeneinander aus. Zahlreiche Klassik-Musiker zeigten sich auf Facebook erschüttert über diesen Text und verwiesen darauf, dass viele Konzert- und Opernhäuser durch die Schließungen zu leiden hatten, dass die Häuser natürlich nicht voll seien und Bayerns Regierung dennoch kurzfristig einmal die Öffnung der Fußballstadien beschlossen hatte. Niemand will ein Gegeneinander. Alle wollen spielen: vor so viel ZuschauerInnen wie möglich!
WIE POPULÄR WOLLEN WIR WERDEN?
Diese Woche schwebte die Frage immer wieder als Thema durch die Feuilletons: Wie populär soll die Klassik, ja die Kultur, werden, um Publikum zu begeistern. Hilft es der Klassik, sich zu öffnen, oder verliert sie durch Anbiederung selbst ihre Position? Zum ersten Mal ist mir diese Debatte in einem Interview begegnet, das Baden-Baden-Intendant Benedikt Stampa der FAZ gegeben hat. Darin plädiert er für die Öffnung des Spielplans: „Ich glaube, dass sich die Programmstruktur in Konzerthäusern, Philharmonien und auch im Festspielhaus Baden-Baden grundsätzlich ändern wird. (…) Die Stichworte lauten Migration, Weltkultur, Eurozentrismus.“ Außerdem spricht er sich für Partizipation des Publikums aus und will die kuratierende Rolle des Intendanten aufweichen: „… das ist meine eigene Motivation, die ich aus Hamburg und aus Dortmund mitbringe. Ich glaube, dass man durch Programmerweiterungen in eine neue Generation hineinwirken kann. Es ist durchaus eine anspruchsvolle Aufgabe, sich selbst zu hinterfragen und neue Lösungen zu finden, wie man klassische Musik präsentieren kann. Ich sehe in einer Erweiterung des Partizipationsgedankens große Chancen, das Publikum mehr zu begeistern.“
In eine ähnliche Richtung geht die Debatte um die Reform des Kulturprogramms des RBB, wo nicht mehr nur ausschließlich Klassik gespielt wird. Vor einem Jahr wetterte der Musikredakteur des Tagesspiegel Frederik Hanssen gegen diesen Trend, nun korrigiert er seine Meinung – lesenswert: „Na klar, RBB Kultur ist kein Fachmagazin mehr, sondern ein Feuilleton! So wie der Kulturteil des Tagesspiegels. Die wildeste Mischung ist gefragt – und hat im Idealfall den Effekt, dass sich die Liebhaber eines speziellen Genres auch für das zu interessieren beginnen, was rechts und links des geraden Weges liegt.“ Aber ich bin sicher, dass diese Debatte gerade erst begonnen hat.
DIE GLOCKE: KONZERTHAUS ALS VERKEHRSKNOTENPUNKT?
Dass Bremens Chef-Kulturpolitikerin Carmen Emigholz eine desaströse Personalpolitik zu verantworten hat, die ihr Bundesland in die weitgehende Bedeutungslosigkeit katapultiert hat, ist kein Geheimnis. Nun gibt es neue Probleme in Bremen: Das legendäre Konzerthaus „Die Glocke“ ist in Gefahr. Die Rot-Rot-Grüne Landesregierung plant einen Straßenbahn-Verkehrsknotenpunkt vor dem Haus, in dem schon jetzt Straßenbahn-Verkehr zu hören ist. Eine Petition des Landesmusikrats Bremen (die auch ich unterschrieben habe) warnt: „Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit der Reduzierung des Individualverkehrs in der Bremer Innenstadt würde der Konzertbetrieb in der ‚Glocke‘, der jetzt bereits durch die deutlich vernehmbaren Geräusche der Straßenbahn empfindlich eingeschränkt ist, gänzlich gefährdet. Die Glocke mit ihrer weltberühmten Akustik würde als eines der kulturellen Alleinstellungsmerkmale Bremens und zentraler Konzertort des Bremer Musiklebens schweren Schaden nehmen. Bremen würde seinen Ruf als bedeutende Musikstadt gefährden – einem international anerkannten und herausragenden Kulturzentrum drohte die Abwertung.“ Marc Niemann beklagt gegenüber unserem Newsletter, dass die Glocke zu lange sich selbst überlassen wurde und dass ein Gutachten erst jetzt in Auftrag gegeben wurde. Bremen würde den Trend verpennen, dass Kultur ein wesentlicher Teil der Städteplanung ist: „Gerade gegen die Verödung der Innenstädte nach Corona würde eine kulturelle Aufwertung der Strukturen helfen: Kultur schafft Leben und Perspektive im Strukturwandel.“ Ob die Bremer Kulturpolitik die dogmatischen Verkehrspolitiker des Landes überzeugen kann? Fraglich!
PERSONALIEN DER WOCHE
Gratulation an Lorenzo Viotti! Damit der Dirigent nicht mehr nackt durch sein Insta-Profil hüpfen muss, hat sich nun endlich ein Modelabel gefunden, das ihm einen großen Pulli mit noch größeren Buchstaben spendiert hat. „Your music. Your rules!“ +++ Aufregung um die Tournee des Mariinsky Orchesters mit Valery Gergiev: Mitglieder des russischen Orchesters beklagten gegenüber der Presse und dem britischen Sender Classic FM, dass sie auf Tournee geschickt wurden, obwohl zahlreiche MusikerInnen mit Corona infiziert waren: PCR-Tests wurden den Orchestermitgliedern nicht angeboten. +++ Georg Christoph Biller, langjähriger Thomaskantor, ist am 27. Januar nach langer Krankheit im Alter von 66 Jahren verstorben, er leitete den Thomanerchor von 1992 bis 2015. Sein Erbe sind die vielen Talente, die er entdeckt und konsequent gefördert hat. Der geschätzte Kollege Claus Fischer hat ihm würdig nachgerufen.
UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Liebe Freunde, dass ich klassische Musik liebe, verdanke ich zwei Menschen: Meinem Vater, der mich für die Oper begeistert hat und: Ernst Stankovski! Ihn und seine Sendung „Erkennen Sie die Melodie“ haben mein Vater und ich jeden Sonntag auf dem Sofa eingeschaltet. Und wenn wir über Verflachungen der Musik reden: Damals, wir reden von den 80er-Jahren, war es noch möglich, liebes ZDF, Sendungen zu zeigen, in denen Opern, Operetten und Musicals zielsicher und mit Leidenschaft geraten wurden und sich die Stars der Klassik die Klinke in die Hand gaben (schauen Sie mal hier). Ernst Stankovski war der Gastgeber dieser klasse Klassik-Unterhaltung. Und, im Ernst: „Wetten dass???“, „TV Total“ und „Dschungelcamp“ werden wiederbelebt – können wir es bitte, bitte, bitte noch mal mit „Erkennen Sie die Melodie“ versuchen? Nur für Stankovski käme all das zu spät. Er ist letzte Woche mit 93 Jahren in Wien gestorben. Ich schicke ein „Danke für all die schönen Stunden“ gen Himmel. Alles, was ich in seiner Sendung nicht erkannt habe, habe ich fürs Leben gelernt! Es ist zwar nicht „Erkennen Sie die Melodie“, aber vielleicht ein Anfang: Von nächste Woche an erscheint mein neuer, wöchentlicher Podcast „Alles klar, Klassik?“. Gespräche und Debatten, die über das Tagesgeschäft und den Tellerrand der Musik hinausführen. Das Projekt für das Liz-Mohn-Center der Bertelsmann-Stiftung erscheint jeden Samstag überall, wo es Podcasts gibt – los geht es am 5. Februar, hier schon ein Vorgeschmack. Ich hoffe, wir hören uns.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
brueggemann@crescendo.de
Fotos: Adam Berry, Rike Oehlerking