KlassikWoche 12/2021

Wie Kosky Castorf tanzen lässt und die Radio-Gaga-Debatte

von Axel Brüggemann

22. März 2021

Das erste Konzert der Berliner Philharmoniker, das Ende der Kultur im Radio, das Schweigen über die sexuellen Missbräuche von James Levine

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit Angst vor dem Ende der Klassik im Radio, einer Farce an der MET und ein biss­chen Recht­ha­berei.

HABEN WIR DOCH GESAGT 

Blick ins Staatstheater Wiesbaden

Klopfen wir uns am Anfang schnell auf die Schulter: Letzte Woche haben wir bereits berichtet, dass Bayreuths frisch verab­schie­deter Geschäfts­führer Holger von Berg ziem­lich sicher an das Wies­ba­dener Opern­haus seines Kumpels Kai-Uwe Laufen­berg (!!!) wech­seln wird. Aller­dings stand der juris­ti­sche Einspruch einer Mitbe­wer­berin der Vertrags­un­ter­schrift im Wege. Nun hat man im Hessi­schen Kultur­mi­nis­te­rium einen krea­tiven work­around gefunden und sich Holger von Berg pünkt­lich zum 1. April ins Opern-Oster­nest gelegt – kein Scherz!

Bei den Bayreu­ther Fest­spielen wird derweil weiter an der Umset­zung im Sommer getüf­telt. Kunst­mi­nister erwartet, dass die statt­finden. Dabei sollen jetzt auch Corona-Schnell­tests eine Rolle spielen. Ein Groß­teil der Einnahmen wird wohl dennoch fehlen, berichtet der BR

DER KLASSIK-CORONA-TICKER

Die Philharmonie in Berlin

Konzert der vor Publikum nach dem Shut­down hat am Samstag tatsäch­lich statt­ge­funden und war ein großer Erfolg. +++ Münchens OB teilte derweil mit, dass Gastro­nomen und Kultur­schaf­fende in seiner Stadt noch nicht mit Öffnungen rechnen könnten. +++ Anders sieht es in Tübingen aus: Das Stutt­garter Kabi­nett geneh­migte den von gewünschten Modell­ver­such, der vorsieht, Außen­gas­tro­nomie und Thea­ter­be­suche zu erlauben. Dabei gilt eine strenge Test­pflicht. Besu­cher müssen eine der sechs Stationen in der Innen­stadt aufsu­chen und sich zum kosten­losen Schnell­test anstellen. Nach einem nega­tiven Ergebnis gibt es ein Tages-Ticket mit Stempel. Mit ihm als „Passier­schein“ darf man ins Kino oder ins Theater. +++ Während die Initia­tive Aufstehen für die Kultur um den Bariton Klage in einge­reicht hat, reichte in Öster­reich auch die Flore­stan-Initia­tive rund um den Pianisten und die Künstler und Ange­lika Kirch­schlager Klage ein. +++ Für Aufsehen sorgte diese Woche der Cellist Yo Yo Ma, als er ein spon­tanes Konzert in einer Impf­straße gab. 

DIE RADIO-GAGA-DEBATTE

Blick auf den WDR in Köln

Die Radio-Debatte, die wir an dieser Stelle seit zwei Monaten verfolgen, hat in dieser Woche erneut Fahrt aufge­nommen. Unter anderem meldete sich FAZ-Mann Jan Brach­mann zu Wort. Er inter­pre­tiert die „Verfla­chung“ der Kultur­pro­gramme, beson­ders bei und WDR, als „Mobbing gegen Bildungs­bürger“. Brach­mann reagiert in seinem Text auf die Vorlage von in der taz und verfasste eine Kampf­an­sage an den „Ton der schnodd­rigen Inkom­pe­tenz“.

Viel­leicht ist es hilf­reich, sich an dieser Stelle noch einmal bewusst zu machen, dass der Abbau des seriösen Klassik-Feuil­le­tons nicht jetzt im Radio beginnt, sondern vor sechs oder sieben Jahren in Zeitungen begonnen hat. Egal, ob Welt, Süddeut­sche oder eben FAZ: Die Zeiten, in denen ihre Feuil­le­tons fast täglich Opern, Konzerte und CDs rezen­siert haben, sind schon lange vorbei. In den meisten Blät­tern wurden die Klassik-Redak­tionen auf ein Minimum geschrumpft, feste Mitar­beiter wegge­spart und Hono­rare bis zur Lächer­lich­keit gekürzt (ein Radio-Beitrag wird mindes­tens doppelt so gut bezahlt wie ein Zeitungs-Text). Die Rele­vanz der Musik­be­richt­erstat­tung in Tages­zei­tungen ist marginal geworden. Es wird da also gerade ziem­lich aus dem Glas­haus geworfen. 

Das kann man Hartmut Welscher vom VAN-Magazin nicht vorwerfen. Aber bei ihm kam diese Woche der Mode­rator des „Klassik Forum“ bei WDR 3, , zu Wort. Er kriti­sierte die Neuaus­rich­tung des Senders und in persona die Hörfunk­di­rek­torin : „Das ›Klassik Forum‹ ist eine soge­nannte Autoren­sen­dung, das heißt wir Mode­ra­to­rinnen und Mode­ra­toren sind für die Musik­aus­wahl zuständig. Jetzt hat aller­dings ein Prozess der Einfluss­nahme begonnen. Im Coaching wurde mir deut­lich gesagt: ‚Sie haben ja gesehen, dass bei der Hörer­be­fra­gung alle Arten von Gesang ganz unten ange­sie­delt sind, das sollten Sie ja doch mal bedenken.‘ Dann habe ich gesagt: ‚Wie, keine Arie mehr?‘ ‚Na ja, wenn’s denn unbe­dingt sein muss.‘“ 

Wie schafft man es, sich von Corona nicht unter­kriegen zu lassen?
Arnt Cobbers fragt nach. Bei Schag­ha­jegh Nosrati, und Severin von Eckard­stein

Kann es sein, dass auch hier die Debatte mit ihrem Entweder-Oder in eine falsche Rich­tung läuft und dass die Kate­go­rien von Hard-Core-Klassik und Seicht-Klassik an sich schon von Gestern sind? Ich arbeite seit Jahren sowohl für den öffent­lich-recht­li­chen Rund­funk als auch für Klassik Radio. Es ist doch klar, dass der Privat­sender aus  ein Profi in der kommer­ziell-unter­hal­tenden Defi­ni­tion von Musik ist. Ebenso wie der Fakt klar ist, dass die Uralt-Radio-Formate und der betu­liche Ton zahl­rei­cher öffent­lich-recht­li­cher Mode­ra­toren (die in Wahr­heit Klassik-Experten sind) für einen Groß­teil der Höre­rInnen einen ähnli­chen Charme entwi­ckeln als würde im Radio täglich eine Sendung mit mathe­ma­ti­schen Kurven­be­spre­chungen laufen. Wäre es nicht an der Zeit, endlich einmal wirk­lich neu zu denken, statt die eigenen, alten Pfründen zu vertei­digen? Wäre es nicht eine gute Maßnahme, die einst niveau­volle Musik-Unter­hal­tung der öffent­lich-recht­li­chen Sender neu zu beleben, statt (wie beim ) sowohl die jahre­langen Klassik-Fans zu vergraulen, als auch die angeb­lich „neue Gene­ra­tion“ zu lang­weilen? (Die Geigerin hat zu diesem Thema sehr kluge Ansätze im unten verlinkten Podcast.) 

OFFENE BRIEFE AN DER MET 

Peter Gelb, Intendant der Metropolitan Opera in New York

Für ein Film-Projekt hatte ich in den letzten Wochen ziem­lich viel mit der Wagner-Gesell­schaft in den zu tun. Dort tummeln sich aller­hand – sagen wir es mal so – nicht unarme Klassik-Mäzene, die derzeit ziem­lich wütend sind, vor allen Dingen auf MET-Inten­danten Peter Gelb und darüber, dass er die Musiker seines Orches­ters entlassen hat und sich seither herz­lich wenig um sie kümmert (zehn der 97 Musiker des Orches­ters haben das Ensemble bereits verlassen, seit sie nicht mehr bezahlt wurden, letzte Woche wurde erst­mals eine 1.543-Dollar-Zahlung verein­bart). Bei all dem macht auch der MET-Chef­di­ri­gent Yannick Nézet-Séguin keine gute Figur. Ein Jahr lang hat er beharr­lich geschwiegen, während er auf Insta­gram lustige Fotos von sich und seinem Freund postete. Nun endlich schrieb er einen öffent­li­chen Brief an Peter Gelb (die New York Times hat ihn gedruckt), in dem er seine Hoff­nung auf eine Eini­gung mit den Musi­kern formu­lierte. Chor und Orchester seien „die Kron­ju­welen“ der MET, schrieb Nézet-Séguin. Abge­sehen davon, dass es erstaun­lich ist, sich ein Jahr lang nicht um seine Kron­ju­welen zu kümmern, scheint spätes­tens die (eben­falls öffent­liche) Antwort von Peter Gelb zu zeigen, dass der Brief­wechsel der beiden eher eine Selbst­in­sze­nie­rung der MET-Führungs­spitze ist, denn Gelb erklärte dass er „Yannicks Frust über den Lock­down und die Auswir­kung für unsere Ange­stellten“ sehr wohl verstehe und teile. Mehr kam dann nicht.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Annette Weber wird ab der Spielzeit 2021/22 Operndirektorin in Zürich.

Die Vorgänge um Volks­bühnen-Inten­danten haben nun auch die Inten­dantin des Schau­spiels , , auf den Plan gerufen. In einem lesens­werten Text in der Zeit beschreibt sie die Struk­tur­pro­bleme unserer Stadt­theater: „Viel­leicht hängt das deut­sche Theater über­haupt schon allzu lange einem abge­half­terten Genie­be­griff nach, der längst über­holt ist. Viel­leicht ist die pater­na­lis­ti­sche Distink­tion mancher Thea­ter­schaf­fenden sowieso kurz vor der Abschaf­fung.“ +++ In einem ausführ­li­chen Text im Opern­ma­gazin ordnet Bariton Chris­tian Miedl seine Gedanken zur aktu­ellen Situa­tion von Sänge­rinnen und Sängern. Welche Rolle spielt das Publikum? Was ärgert viele seiner Kolle­ginnen und Kollegen? Miedl zeigt sich unter anderem enttäuscht, dass das Publikum, das seine Stars bislang intensiv verfolgt hat, jetzt nicht lauter demons­triert. Ein Spazier­gang durch die Seele eines Sängers in schwie­rigen Zeiten. +++ und das Parsifal-Star-Ensemble um Elīna Garanča, , und Wolf­gang Koch muss mit der für den 1. April geplanten Première an der noch warten. Ein Codlid-Fall sorgte für Proben­un­ter­bre­chungen und eine Verschie­bung des Termins. Gute Besse­rung! +++ Annette Weber, derzeit Casting-Direk­torin der Hambur­gi­schen Staats­oper, wech­selt zur Spiel­zeit 202122 als neue Opern­di­rek­torin nach . +++ Das Klas­sik­fes­tival Kissinger Sommer bekommt einen neuen Inten­danten. Ab 2022 über­nimmt das Ruder.

SCHWEIGEN ÜBER JAMES LEVINE 

James Levine

Gestorben ist der Diri­gent James Levine schon am 9. März in Palm Springs. Dass sein Tod erst diese Woche bekannt wurde, sagt vieles über die öffent­liche Sprach­lo­sig­keit gegen­über dem Phänomen Levine aus. Kaum ein anderer Musiker hat das Musik­leben der 80er-Jahre geprägt wie er: perfekte Hoch­glanz-Klassik und legen­däre Aufnahmen! Levine, der sich gern mit weißem Frottee-Hand­tuch auf der Schulter zeigte, galt als unan­ge­foch­tener Klassik-Gott – an der MET ebenso wie bei den Münchner Phil­har­mo­ni­kern. Diese Woche haben sich viele Klassik-Stars in den sozialen Medien von James Levine verab­schiedet. Einige (Plácido Domingo, u.a.), voll­kommen ohne auf die dunkle Seite des Diri­genten aufmerksam zu machen: Vorwürfe wegen sexu­ellen Miss­brauchs, beson­ders jüngerer, männ­li­cher Musiker. Ja, von einem Netz­werk war sogar die Rede, das von der MET, von Levines Agenten, von jedem, der darüber wusste, gedeckt wurde. Mir persön­lich gefiel beson­ders der Nachruf von Bern­hard Neuhoff beim BR.

Berüh­rend fand ich auch die persön­li­chen Rück­blicke, etwa von Diri­gent , der auf Face­book schrieb: „Ich hatte als 18-jähriger eine spezi­elle Begeg­nung mit James Levine in , die von einem seiner Assis­tenten ‚herbei­ge­führt‘ wurde. Ich habe die Suite, in der ich dann uner­war­teter Weise mehr von James Levin sah, als ich tatsäch­lich wollte, ohne weiteres verlassen können (und habe dies auch getan) – wurde aller­dings ganz klar darauf hinge­wiesen, welche Möglich­keiten und Chancen als aufstre­bender Musiker ich mir damit verschließen würde. Aller­dings möchte ich betonen, dass das damals (1983) nicht weiter auffällig war – ich habe von eben­falls sehr berühmten Künst­lern, Profes­soren und Agenten, die bis heute nicht in entspre­chenden ‚Verruf‘ geraten sind, wesent­lich direk­tere Avancen erhalten und wurde oft auch noch viel unmit­tel­barer unter Druck gesetzt im Hinblick auf bessere Karrie­re­chance (…). Zugleich würdigt Fletz­berger aber Levines musi­ka­li­sches Genie.

Ich finde es wichtig, dass Über­griffe, Mobbing und Fehl­ver­halten in der Klassik thema­ti­siert werden, nicht erst, wenn ein viel­leicht genialer aber eben unmensch­li­cher Maestro gestorben ist – sondern ganz beson­ders dann, solange er noch sein Unwesen treibt. 

UND WO BLEIBT DAS GUTE … 

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Die Geigerin Julia Fischer

… mein lieber Freund Klemens hatte die Faxen dicke, als wir das letzte Mal gespro­chen haben! Er sei ja ein Fan dieses News­let­ters, erklärte er mir, aber warum ich den Kästner immer falsch zitiere … Ja, weiß der Teufel, warum! Also von nun an: „Wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?“ 

Hier! Wenn Sie drei Stunden Zeit haben, schauen Sie doch Mal rein in Barrie Koskys Münchner Rosen­ka­va­lier mit Marlis Petersen als Feld­mar­schallin, der gestern Première hatte. Mir geht es nach der „Netreb­koi­sie­rung“ der Klassik so, dass jedes kluge, tech­nisch perfekte und vor allen Dingen aussa­ge­starke Singen immer wieder eine Offen­ba­rung ist (hier übri­gens mehr zu Marlis Petersen)! Hübsch auch, wie Barrie Kosky statt des Mohren einen alten weißen Mann – oder sollten wir sagen: ein Frank Castorf-Double? – als Vanitas über die Bühne schlurfen lässt. Ach, wie gern wäre ich live dabei gewesen. 

Wenn Sie nur eine Stunde Zeit haben, ja, dann hören Sie doch mal rein, was die Geigerin Julia Fischer in unserem Gespräch zu sagen hat. An dieser Stelle sei nur so viel verraten: Es geht um viele span­nende Visionen. Wir fragen uns zum Beispiel, wozu man heute noch Klassik-Labels braucht, wie man Jugend­liche für die Klassik begeis­tern kann und warum, verdammt, nicht jeder dritte Fern­seh­sender einen wöchent­li­chen Fix-Termin hat, um sein Orchester zu präsen­tieren! 

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de