KlassikWoche 16/2021

Phil­har­mo­ni­scher „Spritzer“, Thie­le­mann schüttet den Rubikon zu, und Gerhaher hadert mit dem Gericht

von Axel Brüggemann

19. April 2021

Christian Gerhaher zur Abweisung der Klage, der Toleranz-Tripp von Christian Thielemann, der Auftritt von Elīna Garanča bei Österreichs Satire-Talk

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit einem hand­zahmen Maestro, einer angriffs­lus­tigen Diva, einer genialen Oboe und einigen phil­har­mo­ni­schen Piksern.

VERWAL­TUNGS­GE­RICHT SCHMET­TERT GERHAHER AB

Wie an dieser Stelle bereits vermutet, hat der Baye­ri­sche Verwal­tungs­ge­richtshof die Klage gegen die „Unter­sa­gungen von Veran­stal­tungen und die Schlie­ßung von Kultur­ein­rich­tungen“ durch die Initia­tive „Aufstehen für die Kunstnun abge­wiesen. Es gäbe keine durch­grei­fenden recht­li­chen Bedenken, heißt es. Bariton , nannte die Begrün­dung „hane­bü­chen“ und ließ wissen: „Hier geht es doch nicht um so etwas wie kuli­na­ri­schen Genuss. Es kann nicht sein, dass Kunst und Kultur unab­hängig vom Publikum gedacht werden. Die Rolle der Kunst wird von den baye­ri­schen Gerichten völlig falsch beur­teilt. Die Kunst wurde hier in ihrem Wesen nicht begriffen.

Nun geht das alte Spiel weiter: Die Antrag­stel­le­rInnen werden ein Haupt­sa­che­ver­fahren anstreben sowie den Weg nach bzw. zum EuGH „erwägen“ – schon wieder sehr viel Konjunktiv. „Aufstehen für die Kunst“ will das Urteil nicht akzep­tieren und erklärt, dass die Kunst­frei­heit in Deutsch­land „schwer ange­griffen“ sei: „Wir streben daher eine verfas­sungs­recht­lich gründ­liche Befas­sung an.“ Na denn.

THEA​TER​NETZ​WERK​.DIGITAL

Statt zu klagen, könnte man die Krise auch konstruktiv nutzen. 15 Theater aus Deutsch­land und Öster­reich haben das thea​ter​netz​werk​.digital gegründet. Die betei­ligten Häuser – zu denen u.a. auch das Schau­spiel oder das Natio­nal­theater gehören – planen, „an einer gesamt-thea­tral verstan­denen digi­talen Stra­tegie zu arbeiten und sehen den digi­talen Kultur­wandel und die damit verbun­denen Trans­for­ma­ti­ons­pro­zesse als Berei­che­rung ihrer Arbeit“. Sie wollen „die künst­le­risch sinn­vollen, tech­no­lo­gi­schen Möglich­keiten im physi­schen Koprä­senz­raum erfor­schen und die digi­talen und virtu­ellen Räume mit den Mitteln der Kunst aktiv und selbst­be­stimmt gestalten“. Über­fällig – und: notwendig!

HENZE-VILLA ZUM VERKAUF

Ich war einmal zu Gast in der Villa in Marino bei Rom, in der Kompo­nist gemeinsam mit seinem Lebens­partner Fausto gewohnt hat. Für mich eine legen­däre Begeg­nung mit Badminton-Pause, Swim­ming­pool und einem absurd langen Gespräch über Gott, Fidel Castro, Adolf Hitler, die Oper, Adorno, , Inge­borg Bach­mann und die Welt. Eigent­lich wollte Henze, dass die Villa nach seinem Tode im Jahre 2012 in eine Stif­tung für Nach­wuchs­mu­siker verwan­delt wird. Das Projekt ist aber nicht ausfi­nan­ziert. Inzwi­schen ist klar: Weder die Regie­rungen von noch jene von Deutsch­land springen ein. Die Villa wird wohl auf dem privaten Markt verkauft werden. Schade.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE I

So zufrieden habe ich schon lange nicht mehr erlebt wie in seinem Inter­view-Mara­thon rund um sein Debüt beim . In einer (übri­gens sehr gelun­genen) Über­tra­gung des BR plau­derte er ausge­lassen mit dem Kollegen Maxi­mi­lian Maier, und Markus Thiel vom Münchner Merkur erklärte der Diri­gent auf die Frage nach dem Zoff in Dresden: „Ach, wissen Sie, in der jetzigen Zeit können sogar Saulusse zu Paulussen werden. Adenauer sagte immer, ‚man muss jönne könne‘. Ich habe keine Lust mehr auf Ausein­an­der­set­zungen, das Leben ist gerade merk­würdig genug geworden, wie wir sehen. Ich bin jetzt auf dem Tole­ranz-Trip.

CRESCENDO-Podcast: Hidden Secrets of Clas­sical Music
Detek­tiv­ge­schichten aus der Welt der Klassik

Lieber Chris­tian Thie­le­mann – schön, wenn man einen Rubikon auch mal wieder zuschütten kann! Das neue Entspannt-Sein steht Ihnen jeden­falls sehr gut! +++ Ein 238 Jahre altes Manu­skript von ist in Berlin für 130.000 Euro verstei­gert worden. Das Schrift­stück enthält eine Violin­stimme für zwei Orches­ter­tänze und Entwürfe eines seiner berühm­testen Konzerte: Es ging an einen Privat­mann aus den USA, offenbar konnten oder wollten euro­päi­sche Museen da nicht mehr mitbieten. +++ Die bekommen eine neue Künst­le­ri­sche Leitung. Am 1. März 2022 über­nimmt die Musik­wis­sen­schaft­lerin und Kura­torin Lydia Rilling den Posten von Björn Gott­stein.

PHIL­HAR­MO­NI­SCHE SPRITZER 

Wir in Deutsch­land impfen die Alten, wir impfen Menschen aus der Medizin, und wir impfen Lehr­kräfte – in Öster­reich werden derweil auch die geimpft. Wie sich nun heraus­ge­stellt hat, wurden 95 von ihnen „vorge­reiht“. Und weil das rauskam (einige Musiker haben ihre Impfung in sozialen Medien Geimpft!), tobt nun eine Debatte. Als „Schlag ins Gesicht“ aller anderen Künstler hat die IG Freie Thea­ter­ar­beit die Impf-Vorrei­hung der Phil­har­mo­niker gebrand­markt. Die Stadt Wien zeige damit, „dass sie Menschen – und Kunst – in mehreren Klassen denkt und unter­stützt“. Der Vorstoß der Phil­har­mo­niker könnte am Ende ein Eigentor für das Orchester werden, zumin­dest, wenn es weiterhin so ange­fressen argu­men­tiert, wie Geschäfts­führer Michael Bladerer. Der findet dass es sich um eine „Neid­de­batte“ handle. Er verweist dabei auf die vergangen Film­pro­duk­tionen der Phil­har­mo­niker: „Wer sonst in diesem Land hat kultu­rell so etwas geleistet? Da gibt es einen großen Abstand zu allen Insti­tu­tionen. Das können nur wir.“ Nun ja: Fakt ist, der Groß­teil der Phil­har­mo­niker-Film­pro­duk­tionen landete am Ende nicht mitten in der Gesell­schaft, sondern hinter der Bezahl­schranke von „Fidelio“. Erstaun­lich auch, dass die Wiener Phil­har­mo­niker offen­sicht­lich nicht wahr­ge­nommen haben, dass andere Orchester von Berlin bis Biele­feld von bis – und selbst Ensem­bles in Wien – in den letzten Monaten viel­leicht etwas näher am Publikum waren als sie selber. Blade­rers Behaup­tung „Wir machen das für die Menschen in diesem Land. Damit sie, wenn sie den Fern­seher aufdrehen, noch Kultur erleben können. Sonst hätten sie nämlich gar nichts“, beschwört ein Selbst­ver­ständnis, das nur wenig mit der Realität zu tun hat, und das nach Corona viel­leicht auf den Prüf­stand gehört. Die gesell­schaft­liche Akzep­tanz der Klassik dürfte all das nicht unbe­dingt fördern. Die schreiben derweil auf ihrer Face­book-Seite: „Wir machen in unserer Kunst keinen Unter­schied zwischen den Menschen, sie gilt allen Menschen glei­cher­maßen. Auch deshalb lehnen die Wiener Sympho­niker eine Bevor­zu­gung inner­halb des vorge­ge­benen Impf­pro­zess ab und haben sich auch nie darum bemüht.“ Und auch in den Phil­har­mo­ni­kern rumort es: Solo-Oboist Clemens Horag schreibt an sein eigenes Orchester: „Worin besteht eigent­lich der Vorteil und Nutzen einer „erhofften“ grossen Teil­nahme am Impf­termin für unseren Verein? Weder können wir mit Vorteilen für Geimpfte hier in Wien rechnen, noch dürfen wir kundtun, früher als norma­ler­weise möglich geimpft worden zu sein, gehen aber das erheb­liche Risiko ein, als »die Wich­tigen die sich»s richten können» medial zerrissen zu werden? Wird hier bewusst ein mögli­cher Image­schaden für das Orchester in Kauf genommen um viel­leicht drei, vier Monate früher geimpft zu sein? Gute Privat­kon­takte zu nutzen, um wie auch immer gear­tete Vorteile legal zu mag durchaus legitim sein, wohin­gegen ich die Art und Weise das öffent­liche Ansehen unseres Vereines zu gefährden und aufs Spiel zu setzen, für eine vereins­schä­di­gende, kurz­sich­tige und unfass­bare Fehl­ent­schei­dung halte!
Der Satz: „ Wir können unseren Verein nur damit schützen, verant­wor­tungs­voll mit dieser Infor­ma­tion umzu­gehen“ bekommt ein klares »Nein».
“ Was bislang fehlt: ein State­ment der Politik! 

DUDAMEL IN PARIS

wird Nach­folger von Phil­ippe Jordan (inzwi­schen Musik­di­rektor an der ) an der . In seiner ersten Ansprache berief er sich auf Vene­zuelas Musik-Denker José Antonio Abreu, der seine Liebe zur Oper entfacht habe. Das sorgte in für gemischte Begeis­te­rung. Abreu und Dudamel pflegten eine inten­sive Nähe zu Vene­zuelas Diktator Hugo Chávez. Eine Nähe, die immer wieder zu Strei­te­reien mit poli­tisch aktiven Musi­ke­rInnen wie etwa der Pianistin Gabriela Montero geführt hat. Dudamel gab bei seiner ersten Rede bekannt, dass er ein Ballett des briti­schen Kompo­nisten in Auftrag geben wird.

Wie schafft man es, sich von Corona nicht unter­kriegen zu lassen?
Arnt Cobbers fragt nach. Bei Ning Feng und Maxi­mi­lian Schnaus.

ROLLEN­BILDER UND VERTEI­DI­GUNGEN

Wie kann man die Macht der Allein­-Inten­­danz brechen? Das fragt sich die taz und führt die erste weib­liche Doppel­spitze mit Eva Lange und Carola Unser am Hessi­schen Landes­theater in Marburg als Beispiel einer neuen Thea­ter­struktur an. Gut so! Auch, wenn sich der Text ein wenig liest, als wären Männer immer und überall nur macht­geile „Chole­riker“. Zur Wahr­heit gehört aber auch, dass Inten­dan­tinnen wie die desi­gnierte Leiterin der Wiener Volks­oper Verträge von allein erzie­henden Säge­rinnen-Müttern mindes­tens ebenso erbar­mungslos kündigen wie ihre männ­li­chen Pendants. Dazu passt viel­leicht noch das Endlos-Edito­rial von Bremens Inten­dant Michael Börger­ding. Der nimmt darin Regis­seur Armin Petras in Schutz, der mit Rassismus-Vorwürfen konfron­tiert ist. Der Schau­spieler Ron Iyamu hatte in seiner Diplom­ar­beit über die Proben von „Dantons Tod“ in Düssel­dorf berichtet. Petras habe ihn mehr­fach als „Sklaven“ ange­spro­chen, also eben nicht mit seinem Rollen­namen „Tous­saint Louver­ture, ein ehema­liger Sklave“. Börger­ding ordnet die Vorwürfe nun ein und legt seine Hand für Petras ins Feuer. Auch wenn der Text etwas drama­tur­gen­haft und sperrig daher­kommt – er ist lesens­wert, weil er immerhin eines tut: abwägen, einordnen und erklären. Was im Feuil­leton in Zeiten grund­le­gender Verän­de­rungen nicht mehr immer selbst­ver­ständ­lich ist. 

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE II

https://​www​.youtube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​b​G​_​_​R​s​N​p​-qY

Sängerin in Öster­reichs Quoten-Satire-Talk zu Gast, bei „Will­kommen Öster­reich“. Danach schnat­terte Wiens Boule­vard: „‚Kann mir nicht helfen, aber irgendwie kommt die total unsym­pa­thisch rüber«, lautet der Top-Kommentar auf Face­book.“ Echt? Ich fand Garanča in ihrer herr­li­chen Zickig­keit wunderbar: So jongliert man perfekt mit blöden Fragen. Hier das Video zum Nach­schauen. +++ Der Nieder­länder Hein Mulders soll neuer Inten­dant der Kölner Oper werden. Eine Findungs­kom­mis­sion habe sich für ihn ausge­spro­chen, teilte die Stadt Köln am Montag mit. Derzeit ist Mulders in als Inten­dant für die Sparten Aalto-Musik­theater, Essener Phil­har­mo­niker und Phil­har­monie Essen verant­wort­lich. Zuvor war der 58-jährige Nieder­länder künst­le­ri­scher Leiter der Neder­landse Opera in Amsterdam. +++ Volks­barde Heino will seinen Exkurs in die Klassik, einen Abend mit Liedern von Brahms und Beet­hoven, einen „Deut­schen Lieder­abend“ nennen. Es müsste „Deut­sches Lied“ heißen, erwi­derte Michael Becker, Inten­dant der Tonhalle in Düssel­dorf, und weigerte sich, die Plakate aufzu­hängen. Darauf ist Heino vor einer deut­schen Mega-Flagge zu sehen: Schwarz wie seine Sonnen­brille, rot wie seine Lippen und golden wie sein Haar. Heino schmet­terte zurück: Er lasse sich das Deut­sche nicht verbieten und bekam Rücken­de­ckung von Düssel­dorfs Bürger­meister. Nun muss Michael Becker die Plakate aufhängen – das wird er sicher nicht mit deut­schem Pattex tun. +++ Pianist schreibt im Cicero ausführ­lich über seine Corona-Posi­tion: “Mit Ansichten, die gestern noch bürger­li­ches Maß und Mitte symbo­li­sierten, sieht man sich in der Corona-Krise plötz­lich an den Rand gedrängt. Das führt zur Entfrem­dung zwischen dem Staat und Teilen derer, die bislang als dessen reprä­sen­ta­tives Bürgertum galten“, sagt er. 

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es? Viel­leicht hier? Eigent­lich habe ich meinem Freund Klemens verspro­chen, aufzu­hören mit dem Igor-Levit-Ding. Aber dann hat mir mein Ex-Kritiker Arno Lücker doch noch einen Link geschickt – der exklu­sive Vor-vor-vor-Abdruck von Levits Auto­bio­grafie mit dem (wirk­lich wahren) Fakt, wie Levit als Student versuchte, der Jungen Union beizu­treten, und mit einem ersten Kapitel, das so beginnt: „Ein Samstag im April 2021, sehr später Vormittag. Igor Levti ist müde. Sehr sehr müde. Sehr sehr sehr müde. Sein rechter Mäuse­rich-Arm schmerzt. Wieder zu viel getwit­tert. Der linke Arm auch. (Vom vielen Käse­fressen). Es ist viel­leicht der beste Tag, um mit Kavi­ar­spiel­chen aufzu­hören.Mehr gefällig – gibt es hier.

Und wirk­lich positiv? Der Oboist hat in der letzten Woche immer wieder auf die Not von Künst­le­rInnen und Insti­tu­tionen aufmerksam gemacht. „Wir haben nicht mal einen dritten Welt­krieg gebraucht, um unsere Kultur zu zerstören“, erklärte er der „Welt“. Ich habe derweil seine neue Aufnahme mit Werken von Mozart gehört – und dachte: Es ist an der Zeit, über Musik zu reden. Denn die ist groß­artig! Hier unser Tele­fonat über Mozart, die Stim­mung bei den Berliner Phil­har­mo­ni­kern und über die Wahl von : „Wenn in 30 Jahren heraus­kommt, wie das wirk­lich abge­laufen ist, werden die Leute sich die Haare raufen oder schal­lend lachen.“ 

In diesem Sinne

Ihr 

 

brueggemann@​crescendo.​de