KlassikWoche 16/2023

Wenn der Diri­gent mit sich selber spielt und der Computer kompo­niert

von Axel Brüggemann

17. April 2023

Das Benehmen des Opernpublikums, der Umgang mit Künstlicher Intelligenz in der Klassikwelt, der klare Kompass der Berliner Philharmoniker.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute dreht sich alles um Künst­liche Intel­li­genz, schlechtes Benehmen und gefähr­li­chen Natio­na­lismus. Auch wenn der News­letter digital verschickt wird: Geschrieben wurde er von mir natür­lich wie immer mit der Hand und auf Bütten­pa­pier.

Kein Benimm!

Es war – was sonst?– ein DEUT­SCHER!, der die während einer La-traviata-Auffüh­rung durch unflä­tige Zwischen­rufe, provo­kantes Foto­gra­fieren und die Belei­di­gung der Sitz­nach­barn störte („Ich mache aus dir Hack­fleisch!“). Nun kam es in zur Verhand­lung: Vier Monate auf Bewäh­rung wegen Nöti­gung, außerdem lebens­langes Opern­verbot für den pöbelnden Arzt.

Passend dazu ist ein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung, in dem briti­sche Thea­ter­be­trei­be­rInnen sich darüber beschweren, dass das Benehmen des Publi­kums sich nach der Pandemie radikal verschlech­tert habe. Eine „Netflix-Couch-Selbst­ver­ständ­lich­keit“ halte Einzug in die Theater: Alkohol, Zwischen­rufe, Handy-Nutzung, selbst Hamburger würden während der Auffüh­rungen gegessen. Na dann: Guten Appetit! 

Künst­liche Intel­li­genz in der Musik

Er ist das Super­brain für Künst­liche Intel­li­genz (KI) und Musik, und vom Ars Elec­tro­nica Futurlab in Linz und der Musik­hoch­schule in München warnt: „Klassik-Künst­le­rInnen müssen sich mit der neuen Tech­no­logie ausein­an­der­setzen, sich in die aktu­elle Debatte einklinken. Wir Künst­le­rinnen und Künstler dürfen die Entwick­lung der KI gerade in dieser Pionier-Phase nicht den kommer­zi­ellen Groß­un­ter­nehmen über­lassen.“ Außerdem müsse man möglichst schnell Antworten auf Fragen des Urhe­ber­rechts finden, fordert Nikrang, der selber das KI-Kompo­si­ti­ons­pro­gramm Ricercar schrieb.

Welchen Anteil haben Program­mie­re­rInnen, Schöpfer der Werke, mit denen die Daten­banken gefüt­tert werden und Benut­ze­rInnen an der KI. Und vor allen Dingen: Warum ist die KI in der Musik kompli­zierter als bei Texten oder Bildern? Über all das spricht Ali Nikrang in der neuen Folge des Podcasts Alles klar, Klassik? (hier für Apple oder Spotify). Außerdem spricht Opern­welt-Redak­teur darüber, dass KI auch die Arbeit von Drama­tur­g­innen und Drama­turgen, von musi­ka­li­scher Lehre und Jour­na­lismus verän­dern wird. Die Bilder von Wagner, Mozart und Puccini an den Compu­tern in diesem News­letter wurden übri­gens vom KI-Bild­pro­gramm Wonder erstellt. 

Italie­ni­sche Kultur den Italie­nern?

Italiens Rechts­re­gie­rung unter Giorgia Meloni ist skep­tisch über nicht-Italie­ni­sche Kultur­lenker im Lande. Kultur­mi­nister Gennaro Sangiu­liano wurde kürz­lich mit diesem merk­wür­digen State­ment zitiert: „Ich habe keine Vorur­teile gegen­über auslän­di­schen Mana­gern an der Spitze unserer Kultur­ein­rich­tungen, einige habe ich kennen­ge­lernt, und sie haben ihre Sache sehr gut gemacht. Ich finde es aber eigen­artig, dass Italiens zehn wich­tigste Kultur­ein­rich­tungen, wie die Scala, das San-Carlo-Theater in Neapel, das Turiner Opern­haus, die Uffi­zien, das Römi­sche Natio­nal­mu­seum, Pompeji und die Pina­ko­thek von Siena unter auslän­di­scher Leitung stehen.“

Derzeit kursiert das Gerücht, dass Scala-Inten­dant nicht über 2025 hinaus verlän­gert werden könnte – angeb­lich stünde der Chef der öffent­lich-recht­li­chen TV-Anstalt Rai, Carlo Fuortes, als Nach­folger bereit. Meyer bleibt indes sport­lich: „Ich habe einen Ferrari neu herge­richtet und möchte noch gern damit fahren“, sagte der Inten­dant, der die Geschicke der Scala seit 2020 leitet. Ich bin ziem­lich sicher, die neue italie­ni­sche Kultur­po­litik würde Globe­trotter Verdi oder Puccini nicht wirk­lich gefallen!

Sitzen­ge­lassen

Diese Bilder der -Tage in Dresden kursieren derzeit bei Twitter: ein gähnend leerer Zuschau­er­saal. Der Grund ist offen­sicht­lich, dass seine Diri­gate kurz­fristig abge­sagt hat. Das ist auch eine Art der Macht­de­mons­tra­tion gegen­über „seiner“ Staats­ka­pelle, die nun merkt, wie sehr sie in der Vergan­gen­heit auf ihn gebaut hat. Vor allen Dingen zeigen die Bilder aber, was für ein Publikum man sich in Dresden heran­ge­zogen hat: Wenn Thie­le­mann nicht kommt, kommt es auch nicht. Das ist ein merk­wür­diger Fame-Hunting-Snobismus.

Der Kurs der Berliner Phil­har­mo­niker

Frau ohne Schatten, Osterfestspiele Berliner Philharmoniker in Baden-Baden

Die machen gerade sehr viel richtig. Nicht nur musi­ka­lisch, wie in ihren aktu­ellen, wirk­lich groß­ar­tigen, weil schnei­dend, aber voll­kommen unprä­ten­tiösen Schost­a­ko­witsch-Aufnahmen mit , oder – glaubt man den Kritiken – mit einer musi­ka­lisch begeis­ternden Frau ohne Schatten in Baden-Baden.

Auch gesell­schaft­lich ist das Orchester ernst­haft, glaub­würdig und enga­giert. Nun hat das Orchester die Paten­schaft für das Kyiv Symphony Orchestra und das Youth Symphony Orchestra of Ukraine über­nommen. Die Ensem­bles werden bei der Orga­ni­sa­tion von Auftritts­mög­lich­keiten und der Beschaf­fung von Instru­menten unter­stützt. Die Phil­har­mo­niker haben einen offen­sicht­lich klaren Kompass: Ja, Schost­a­ko­witsch spielen ist gerade jetzt wichtig! Ebenso wie die klare Posi­tio­nie­rung in den Wirren der Welt: für ukrai­ni­sche Musi­ke­rInnen und – wie erst kürz­lich aus Berlin erklärt – ohne Flirt mit Putins Klassik-Stars. Hier geht es zum 3Sat-Mitschnitt der Frau ohne Schatten.

Kurzer Blick nach Russ­land

Russ­land scheint für einige Musi­ke­rInnen wieder auf die Konzert­liste zu rücken: In der Schweiz wird der Auftritt des Pianisten Konstantin Lifs­chitz, der auch Professor an der Hoch­schule Luzern ist, beim Putin nahen Tran­si­bi­rian Art Festival in Nowo­si­birsk zum Poli­tikum. Alex­ander Rahbari spielt in Sankt Peters­burg, Justus Frantz gibt seine Bande nach Russ­land nicht auf, Jordi Bernàcer diri­giert am Bolschoi, der Pianist Freddy Kempf spielt in Omsk, und auch der italie­ni­sche Pianist Lorenzo Bagnati spielt in Russ­land. Mit dabei natür­lich auch: . Während Inten­danten wie Louw­rens Lange­voort in Köln oder ihm den Rücken kehren, weil sie gemerkt haben, dass Curr­entzis sich selbst gegen­über ihnen nicht erklärt, macht Salz­burg-Inten­dant weiter wie immer. Der Kleinen Zeitung erklärte er: „Anders als etwa bei sind mir bei Curr­entzis keinerlei Verbin­dungen zu Putin bekannt.“ Ach, Markus: Mal in den Aufsichtsrat des Orches­ters schauen, und: Curr­entzis schweigt als Chef noch immer zu Wagner-Söldner-Likes, zur Beschimp­fung west­li­cher Jour­na­listen und zum Deutsch­land-Bashing seiner Musi­ke­rInnen. Aber, klar, man kann auch einfach den Kopf in den Sand stecken wie SWR-Orchester Chefin Sabrina Haane, die auf Nach­fragen inzwi­schen einfach gar nicht mehr antwortet.

Martin Kienzl diffe­ren­ziert derweil bei Opern News die Verant­wor­tung auch euro­päi­scher Inten­dan­tInnen, die vorbe­haltlos Künst­le­rInnen wie einladen: Kienzl fragt Kai Uwe Laufen­berg, Bogdan Roščić, , Domi­nique Meyer oder : „Gibt es noch einen mora­li­schen Kompass, oder ist er uns bereits abhan­den­ge­kommen? Ange­sichts dessen, dass es nach wie vor Inten­danten gibt, deren Führungs­stil vorgestrig auto­ritär ist, die beden­ken­lose Künstler, die Gewalt befeuern oder #MeToo-Täter sind, enga­gieren, zwei­felt man daran.“ Netrebkos Mann, , ist übri­gens gerade zum neuen Inten­danten der Oper in Aser­bai­dschan ernannt worden. 

Perso­na­lien der Woche

Pussy Riot

Dem Wies­ba­dener Staats­theater gab die Punk-Band Pussy Riot wegen der Verpflich­tung von Anna Netrebko einen Korb – mit einem Konzert im Wies­ba­dener Schlachthof wirbt sie nun für Unter­stüt­zung der Ukraine – eine klare Kampf­an­sage auch gegen die Wies­ba­dener Inten­danz. +++ Daniel Baren­boim ist zurück: Die Baren­boim-Said-Akademie in Berlin-Mitte hat jetzt ein Studie­ren­den­or­chester. Baren­boim höchst­selbst diri­gierte das Debüt­kon­zert im Saal. Außerdem hat Berlin den Diri­genten zum Ehren­bürger gemacht. 

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht hier: In Berlin geht es wieder bergauf mit dem Ticket­ver­kauf, meldet die Berliner Morgen­post: Das meist­be­suchte Haus 2022 war der Fried­rich­stadt-Palast, es folgten die Berliner Phil­har­mo­niker und die Staats­oper Unter den Linden – die Deut­sche Oper landete ledig­lich auf Platz vier. Ach ja, und wie perfekt Künst­liche Intel­li­genz inzwi­schen ist, das hat der Diri­gent neulich auf Insta­gram gezeigt. Wahr­schein­lich hat er bei Wonder einge­geben: „Halb­nackter Diri­gent auf dem Bett, der mit sich selber spielt“ – das Ergebnis sehen Sie oben.

Und wenn Sie die aktu­ellen Klassik-Themen der Woche nach­hören wollen: In der aktu­ellen Ausgabe von Alles klar, Klassik? debat­tiere ich einen True-Crime-Klassik-Fall, Darth-Vader-Unter­hosen und aller­hand andere, wich­tige Dinge mit Doro­thea Gregor vom Center der Bertels­mann Stif­tung (klicken Sie einfach auf das Bild des Podcasts unten).

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

Fotos: Martin Siegmund / BR, picture-alliance/dpa/Hessenschau