KlassikWoche 24/2020

Es geht wieder los, aber es ist noch nicht vorbei

von Axel Brüggemann

8. Juni 2020

Der allgegenwärtige Rassismus in der Klassik, Studien zu Aerosolen, freiberufliche Musiker als Verlierer der Corona-Krise.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

Rufen Ihnen derzeit auch auf allen Kanälen alle Inten­danten, Künstler und Veran­stalter entgegen, dass es endlich wieder losgeht? Opern­häuser! Festi­vals! Konzert­häuser! Ja, es geht wieder los: für einige Musiker und ein hand­ver­le­senes Publikum. Auch wenn es nach Spaß­bremse klingt: Die Krise ist deshalb noch lange nicht vorbei, Corona wird nicht auf wunder­same Weise verschwinden. Spielen können derzeit nur Häuser und Festi­vals, die staat­lich subven­tio­niert werden. Selbst die Öster­rei­chi­sche Jeunesse muss strei­chen – zum Beispiel alle Jugend­kon­zerte. Die Wahr­heit ist: Theater und Bühne werden als letzte zur Norma­lität zurück­kehren, wer von der Kunst leben muss, fühlt sich vergessen. Wir sind gut beraten, uns das bewusst zu machen, trotz aller Freude. Stellen wir uns auf eine neue Zeit ein – am besten schon mit diesem News­letter.

KLAS­SI­SCHER RASSISMUS

Eine neue Seite im Internet widmet sich dem Rassismus in der Klassik.

Die ganze Welt protes­tiert gegen Poli­zei­ge­walt, und der brutale Tod von George Floyd ist – richtig so! – allge­gen­wärtig. Auch in der Klassik. Auf Insta­gram hat jemand die Seite „operais­ra­cist“ gegründet: ein Forum für jeden, der in der Klassik Rassismus erlebt hat. Was da zu lesen ist (nicht alles ist fakten­ge­checkt), scho­ckiert: Egal, ob Afro­ame­ri­ka­nern in Wien gesagt wurde „Wir haben zu viele Nigger enga­giert“, ob Dozenten an der Juil­liard School Vorträge über die „negroid skeletal struc­ture“ geben oder ein dunkel­häu­tiger Diri­gent an der  City OperaBuck­wheat“ genannt wird – Rassismus in der Klassik scheint allge­gen­wärtig. 

Wie stil­si­cher es in diesen Zeiten ist, dass Sony kommende Woche die Otello“-Aufnahme mit heraus­gibt und am Cover fest­hält, das den Tenor einige Spuren dunkler als normal zeigt, sei dahin­ge­stellt. Bereits vor Monaten gab Musik­kri­tiker Manuel Brug zu bedenken, dass Kauf­manns Visage zwar nicht geblack­faced wohl aber digital ins Dunkle mani­pu­liert wurde. „Gut sieht das nicht aus“, schrieb Brug schon damals, „weder ästhe­tisch noch ideo­lo­gisch“. Das dürfte in diesen Tage um so mehr gelten.

AEROSOL – DAS GEFÄHR­LICHE MUSICAL

Aerosol-Expe­ri­mente bei den Wiener Phil­har­mo­ni­kern – wie wissen­schaft­lich sind sie wirk­lich?

Jan Böhmer­mann hat in seinem Podcast „Fest & Flau­schig“ ange­kün­digt, dass er an einem Musical Namens „Aerosol“ arbeitet. Viel­leicht sollten darin auch die Expe­ri­mente der Orchester und Künstler eine Rolle spielen, die oft eher nach „Knoff-Hoff-Show“-Mecha­nismus, als nach wissen­schaft­li­chen Krite­rien statt­finden. Dass Tenöre vor bren­nenden Kerzen singen: geschenkt! Dass Tenöre Bilder von über­vollen Demos gegen Bilder aus ausge­dünnten Konzert­sälen stellen und mit dem Gefühl von Ohnmacht posten – geschenkt. Und klar auch, dass Musiker nicht mehr zu halten sind. „Wir fühlten uns alle irgendwie erlöst, wie bei einem Fest­essen nach einer Hungersnot“, sagte Sir vor seinem Konzert mit dem BR. Dass einige Studien zu Aero­solen in der Klassik offen­sicht­lich mit einem Wunsch­er­gebnis in Auftrag gegeben wurden (das sie dann auch bestä­tigten), das stimmt aller­dings skep­tisch. Stolz haben die und gerade wieder zu spielen begonnen.

Die vom Orchester beglei­tete, angeb­lich wissen­schaft­liche Studie aller­dings igno­riert so ungefä alle wissen­schaft­li­chen Krite­rien: Es gab keine wissen­schaft­liche Veröf­fent­li­chung, man kann sie nicht „nach­bauen“, und auf eine wissen­schaft­liche „Gegen­rede“ – wurde eben­falls verzichtet. Statt­dessen (wie absurd ist das, bitte!) wurde sie durch einen Notar beglau­bigt. In Forscher-Kreisen wird bei derar­tiger Cowboy-Wissen­schaft nur noch gebetet, dass das alles gut geht. Um so inter­es­santer, dass die Forscher der Bamberger Studie in der FAZ nun wenigs­tens auf die „Miss­ver­ständ­nisse“ der Presse mit ihrer Studie hinweisen. Inter­es­sant auch: Das Publikum ist nach wie vor zöger­lich, was Corona-Konzerte betrifft. hat seine 33 „neuen Diabelli-Varia­tionen“ beim Klavier­fes­tival Ruhr gespielt (wir haben über unser Buch-Projekt berichtet). Die SZ beschreibt das Proze­dere so: „Die Adresse und Tele­fon­nummer jedes Besu­chers wird beim Karten­kauf gespei­chert. Erweist sich auch nur einer später als infi­ziert, müssen sich alle Umsit­zenden testen lassen oder in Quaran­täne. Dass das abschre­ckend wirkt, ist im Anne­liese-Brost-Musik­forum durchaus noch leicht zu spüren. Zum ersten Konzert sind 182, zum zweiten 152 Besu­cher gekommen (225 durften kommen), die meisten von ihnen klas­si­sche Konzert­gänger aus der Hoch­ri­si­ko­gruppe der Älteren.“ Den Blumen­strauss hat Buch­binder am Ende übri­gens von einem Roboter über­reicht bekommen. 

Wenn der Roboter die Blumen über­reicht, war Corona-Konzert

WENIG WUMM

Das Konjunktur-Programm ist verab­schiedet – und wieder sieht es schlecht aus für die Solo-Selbst­stän­digen, also beson­ders für frei­be­ruf­liche Musiker. Die Welt schreibt: „‚Die Solo-Selbst­stän­digen gehen leer aus und werden so zu den Haupt­ver­lie­rern dieser Krise gemacht‘, lautet das Fazit des Verbands der Gründer und Selbst­stän­digen (VGSD). Die Regie­rung lasse sie im Stich und behandle sie als ‚Erwerbs­tä­tige dritter Klasse‘.“ Weniger als ein Prozent des Programms geht an die Kultur, rechnet Bert­hold Seliger im Neuen Deutsch­land vor: „Monika Grüt­ters ist so etwas wie die Neutro­nen­bombe der deut­schen Kultur­po­litik – sie finan­ziert die Gebäude und Insti­tu­tionen der etablierten Kultur, und darunter bevor­zugt die teuren Leucht­turm­pro­jekte. Die Menschen jedoch, also all die Kultur­schaf­fenden, die für die Leben­dig­keit und die Viel­falt der Kultur einstehen, werden die Corona-Ära kaum über­leben – sie drohen, zum Kolla­te­ral­schaden der bundes­deut­schen Kultur­po­litik zu werden. Da geht es ihnen wie den Pfle­ge­kräften, die im ‚Maßnah­men­paket‘ der Bundes­re­gie­rung auch nicht vorkommen.“ Span­nend auch, dass es noch immer keine Klar­heit über die Ausfall­ho­no­rare gibt: Van hat eine Umfrage unter den deut­schen Orches­tern vorge­nommen: „Nur 38 Orchester gaben an, ihren Frei­schaf­fenden über­haupt Ausfall­ho­no­rare zu zahlen – also gerade einmal knapp mehr als die Hälfte. Die anderen 26 zahlen keine oder haben sich noch nicht mit ihrem Träger einigen können.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Das Beste an Corona: Barrie Koskys Show­ein­lagen

Das Schönste an Corona: Barrie Koskys „Celebrations“-Konzerte. Nun ist das fünfte online: Der Regis­seur begleitet die auf seinem Flügel sitzende mit „Some­where Over the Rainbow“. Stil­voller kann man einen Lock­down nicht über­stehen. +++ hat bekannt gegeben, dass sie es sich anders über­legt hätte und ihr Salome-Debüt an der MET absagt – die Rolle läge ihr nicht. Hätte man ahnen können. +++ Scharfe Kritik von an der -Politik. Sie habe nie den Eindruck gehabt, dass ein Neubau poli­tisch gewollt sei, erzählte Mutter der Süddeut­schen Zeitung: „Wir befinden uns in dem Punkt hier in immer noch im fins­teren Mittel­alter.

+++ Die Leid­tra­genden der Corona-Krise sind für Jonas Kauf­mann vor allen Dingen die jungen Sänger: „Es wird eine Kata­strophe werden. Es wird nie das Geld geben, um alles wieder aufzu­bauen. Die Gefahr besteht vor allem für junge Künstler, viele von ihnen werden den Beruf wech­seln. In zehn Jahren wird es keine junge Gene­ra­tion geben, um die »Alten« zu ersetzen.“ +++ Orga­ni­sa­ti­ons­chaos bereitet die Corona-Krise beson­ders den Karten­büros. Beim Musik Festival müssen 140.000 Karten zurück­ge­nommen werden – es kam zu einem „Rück­zah­lungs­stau“. +++ Wies­ba­dens Inten­dant Jan-Philipp Laufen­berg hat wahr­schein­lich einen neuen „Para­siten“ gefunden: Til Brigelb von der SZ findet, dass die Beckett-Trilogie des Inten­danten in den Aluhut-Müll gehört. +++ Immer proble­ma­ti­scher wird die Situa­tion auch für Künst­ler­agen­turen – der BR berich­tete über die Situa­tion, selbst inter­na­tio­nalen Big-Playern geht es an den Kragen: Opus 3 Artists hat 11 Mitar­bei­tern gekün­digt, und auch bei IMG Artists soll wohl gekürzt werden. Agen­turen in den haben eine Peti­tion einge­reicht, und viele US-Orchester denken schon darüber nach, ob sie nach Corona über­haupt noch auf die alten Tour­neen gehen wollen und können. +++Wiens schei­dender Opern­di­rektor und der lang­jäh­rige Inten­dant des Musik­ver­eins Thomas Angyan wurden mit der Ehren­mit­glied­schaft der Wiener Phil­har­mo­niker geehrt (übri­gens einen Tag bevor die Striche bei der Jeunesse, für die Angyan einst verant­wort­lich war, bekannt wurden).

LOBHU­DELEI IN EIGENER SACHE 

Musik­kritik von früher: Eduard Hans­lick richtet über Wagner

Okay, ich habe mich ein biss­chen gefreut, als mir einige Seiten aus Professor Holger Noltzes neuem Buch „World Wide Wunder­kammer“ (erscheint diese Woche) zuge­spielt wurden – denn da kommt dieser kleine News­letter durchaus gut weg, als Beispiel der digi­talen Zukunft der Klassik: „Ein Stück Aufklä­rung“ nennt Noltze „Brüg­ge­manns Klassik-Woche“, deren Erfolg darin läge, „dass Menschen sich für Menschen und das Mensch­liche nun einmal inter­es­sieren, nicht nur für gemachte Images.“ Für all das sei das „Internet das ideale Habitat“, erklärt der Professor seinen Lesern. 

Lob tut gut – aber was bedeutet es eigent­lich? Der News­letter als Nische, in der heim­lich erlaubt ist, was woan­ders unan­ständig wäre? Einer der wenigen Orte, in denen die PR-Images nicht gepflegt, sondern hinter­fragt werden? Das wäre die Sicht aus einer alten Klassik-Welt auf unsere Zeit. Die Kate­go­rien einer Welt, die noch in Print (alles mit Papier) und Fern­sehen (alles, was flim­mert), in Veran­stalter (alles was atmet) und – wie hieß das Ding noch? – CD (alles, was klingt) unter­teilt. Die Welt alter weißer Klassik-Männer, die so tut, als würde sie noch leben, aber längst an der Beatmungs­ma­schine hängt: Fernseh-Haupt­pro­gramme haben die Klassik aufge­geben, in eine Nische geschoben, selbst Strea­ming-Portale wie Noltzes takt1 führen ihre Abhän­gig­keit und die Lobhu­delei ihrer eigenen Künstler () kritiklos weiter, ebenso wie Zeitungen nicht einsehen, sich zu wandeln. Doch die alten Hier­ar­chien (und Krite­rien) funk­tio­nieren in Zeiten des Netzes nicht mehr, Zeitungen und Zeit­schriften haben kein Exklusiv-Recht auf Nach­richten und Recher­chen mehr. Im Gegen­teil, viele haben echten Musik-JOUR­NA­LISMUS weit­ge­hend aufge­geben und feiern lieber als Dino­sau­rier ihre letzten Daseins-Jahre als Kritiker. Span­nende Gespräche finden eher in Podcasts als in der Glotze oder im Print statt, und auf einer Website – so wie am Anfang der Corona-Krise bei CRESCENDO​.de – kann in Windes­eile sogar echte Soli­da­rität in Form einer Nothilfe-Aktion entstehen (20.000 Euro für Künstler in Not), während der Print noch darüber lamen­tiert, dass er gerade keine Vorstel­lungen rezen­sieren kann. Im Netz treten die Medien in andau­ernden Dialog mitein­ander, hier ergänzen einander das Lesen, das Sehen und das Hören, der Bericht, die Meinung und die Befra­gung. Nicht der Kritiker oder der Professor hebt hier am Ende den Daumen – sondern der Nutzer. Wahr ist: Im News­letter kann voll­kommen frei von PR-Moden und Eifer­süch­te­leien gegen­über anderen Medien infor­miert werden. Hier ist jede gute Nach­richt, egal aus welchem Medium, Wert, geteilt zu werden. 

Hat Corona uns nicht gezeigt, wie zerbrech­lich das alte System inzwi­schen ist: Das Verhältnis von Künst­lern, Politik und Publikum, die Soli­da­rität in Medien, die Krea­ti­vität des Fern­se­hens – wir haben viele Soll­bruch­stellen diagnos­ti­zieren müssen. Und das Fatalste wäre es, an der alten Klassik-Welt und ihren Krite­rien fest­zu­halten. Ich bin sicher, dass die Tren­nung von Virtu­ellem, Tradi­tio­nellem und Realem nach tradi­tio­nellen Mustern längst über­kommen ist – und nach der Krise noch viel anachro­nis­ti­scher wirkt. Aber all das sind Gedanken, deren „Habitat“ Holger Noltze dann wahr­schein­lich in gedruckter Form verortet – auf jeden Fall in einem anderen Format als diesem.

Ach ja – die Bild-Zeitung hat in den letzten Wochen zu Recht immer wieder einen auf den Deckel bekommen. Viel­leicht sollte sie ihre eine Kern­kom­pe­tenz, die Treib­jagd auf Personen im öffent­li­chen Leben, einfach ruhen lassen und sich auf die andere konzen­trieren: konge­niale Über­schriften!

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif,

Ihr 

brueggemann@​crescendo.​de