KlassikWoche 27/2021

Die Kultur, die UEFA und andere Unge­reimt­heiten

von Axel Brüggemann

5. Juli 2021

Das Ringen der Klassik um Besucher, die Lebensmüdigkeit von Riccardo Muti, Rolando Villazón als neuer künstlerischer Leiter der Stiftung Mozarteum

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

und was das für eine Woche war! Die Fußball-EM läuft in vollen Stadien, mehrere Tausend Fans haben sich bereits infi­ziert – und die Kultur? Sie ringt – beson­ders in – um jeden einzelnen Besu­cher. Nachdem ich diese merk­wür­dige Situa­tion kommen­tiert habe, wollte ich bei Insta­gram wissen, ob die Klassik mehr UEFA brauche. Das Ergebnis war eindeutig: 82 Prozent der Teil­neh­me­rInnen sagen „Ja“, und einer, der für „Nein“ stimmte, schrieb mir: „Die UEFA braucht mehr Klassik!“. Wie wahr! Übri­gens, gestern war ich bei einem Konzert in , außer Test- oder Impf­nach­weis ist hier nichts mehr nötig – nicht einmal Maske.

HARVEY WEIN­STEIN-OPER 

Will man das wirk­lich? Eine Oper über den Prozess gegen Film-Mogul und #metoo-Täter Harvey Wein­stein? Der Kompo­nist und Thea­ter­di­rektor Conor Mitchell hat ein derar­tiges Werk in Angriff genommen (u.a. mit Original-Zitaten von Aussagen der Opfer). „The Trail of Harvey Wein­stein“ soll von der Oper in Belfast urauf­ge­führt werden, die Proben sollen im September beginnen. „Stellen Sie sich sechs Soprane auf der Bühne vor und aller­hand Multi­media“, erklärt Mitchell der New York Post, was die Zuschaue­rInnen erwartet.

Ich persön­lich weiß nicht, was ich davon halten soll. Liebe, Hass, Leiden­schaft, Krimi­na­lität, Macht und Macht­lo­sig­keit machen viele Opern span­nend – aber hat die Welt der Oper derzeit nicht gerade viel zu viel reale Opern mit diesem Plot laufen? Zumal Wein­steins Anwalt Imran H. Ansari all das jetzt schon für Eigen­pro­pa­ganda nutzt: „Nun, viel­leicht sollten die Macher über einen zweiten Teil nach­denken, in dem es darum gehen sollte, ob es sich um einen fairen Prozess gehan­delt hat.“ 

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE I

Mein Lieb­lings­foto der Woche war der Schnapp­schuss oben rechts, das DSO gratu­lierte dem Diri­genten auf seiner Insta­gram Seite. Das Hoch­zeits-…, äh Vor-Vorstel­lungs-Foto zeigt ihn mit der CSU-Poli­ti­kerin Doro­thee Bär. Sorry, aber ich konnte da aus so vielen Gründen einfach nicht wegschauen! +++ Und noch ein Foto sorgte für Furore: Die desi­gnierte Inten­dantin der Wiener Volks­oper, (oben links) stellte sich schwin­del­frei auf das Dach ihres Hauses und beant­wor­tete durchaus kriti­sche Fragen des Publi­kums für die „Bühne“. Außerdem in Wien: Liest man die Jahres­bro­schüre der Staats­oper, erstaunt, dass Chef­di­ri­gent so ziem­lich alles an sich reißt, was „großes Reper­toire“ bedeutet. Ich bin, wie die News­letter-Lese­rInnen wissen, nicht geneigt, Kollegen Heinz Sichrovsky als Kron­zeugen für irgend­etwas anzu­führen, aber sein Dauer-Bombar­de­ment gegen Jordan (und sein absurder Wunsch auf den Einmarsch der Chris­tian-Thie­le­mann-Truppen in Wien) ist bezeich­nend. Selbst im Orchester scheint Jordan nicht mehr unan­ge­fochten zu sein. Viel­leicht wäre ein wenig mehr diri­gis­ti­sche Viel­falt und „Gönnen-Können“ für Oper, Orchester und Publikum besser. In Paris hat Jordan sich derweil mit einem Inter­view verab­schiedet und den Wienern ein Lob für ihre Flexi­bi­lität gemacht.

+++ Vor kurzem hat er sich noch ein vulgäres Schr­ei­ge­fecht mit Diri­genten-Kollegen gelie­fert, nun versteht die Welt nicht mehr. Dem „Corriere della Sera“ erklärte er: „Viel­leicht ist es über­trieben, aber manchmal fühle ich mich lebens­müde. Ich fühle mich nicht mehr zu dieser Welt zuge­hörig, in der die Prin­zi­pien der Kultur voll­kommen über den Haufen geworfen werden, um ein Publikum zu errei­chen, dem es darauf ankommt, was es sieht – nicht darauf, was es hört.“ Riccardo Muti führt an, der einmal sagte, der Arm sei die Erwei­te­rung des Gehirns. Für viele seiner Kollegen sei der Arm inzwi­schen aller­dings nur noch ein Mittel für den Effekt, sagte Muti. Was darauf erwi­dert hat, ist nicht über­lie­fert. Und, unter uns: So lange es einen Spiegel in seiner Garde­robe gibt, wird auch Riccardo Muti weiter machen. 

SOMMER­LEK­TÜRE MIT SCHU­MANN 

Die Komponistin Clara Schumann

Wenn Sie noch eine span­nende Urlaubs­lek­türe suchen, die gibt es dieser Tage kostenlos im Netz. Die Säch­si­sche Landes­bi­blio­thek hat den Brief­wechsel zwischen und ihrem Klavier­schüler und späteren Diri­genten Ernst Rudorff erworben und prompt ins Netz gestellt. Chris­tiane Weiden­feld jubelt in der FAZ: „Die Briefe zwischen Ernst Rudorff und Clara Schu­mann sind Varia­tionen für zwei sensible Künstler und doch viel mehr: Hier schwingen Gleich­ge­sinnte mitein­ander in der Über­zeu­gung, dass Musik und Natur ebenso lebens­wichtig wie schüt­zens­wert sind, ja mehr noch: Sie sind die einzig wahr­haf­tigen Dinge, die das Leben lohnen.“ Wer keine Zeit für die gesamte Lektüre hat, dem erzählt Claus Fischer im MDR in sechs Minuten, worum es geht.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE II

Die Führung der Inter­na­tio­nalen Stif­tung Mozar­teum in Salz­burg ist neu gere­gelt: Nach dem Rückzug des künst­le­ri­schen Leiters des Konzert­be­reichs, Andreas Fladvad-Geier, ab Sommer wird die gesamte künst­le­ri­sche Leitung des Hauses über­nehmen. Rainer Heneis wird zum Geschäfts­führer der Stif­tung bestellt. +++ Der Vertrag von als Inten­dant des Gärt­ner­platz­thea­ters in wurde bis 2027 verlän­gert. +++ Am Ende noch kurz ein Wort an den Kollegen Norman Lebrecht: Ich hatte mir im SWR Gedanken über die Zukunft der Diri­gen­tInnen gemacht. Was verrät der Klang über unsere Zeit? Und in welchem Sound­track leben wir gerade? Amüsant zu sehen, dass Lebrecht den Titel des Beitrages „Mythos Maestro“ auf meiner Face­book-Seite mit der schlechten Laune eines Plagi­ats­jä­gers von Anna­lena Baer­bock auf sein Buch von 1993 (sic!!!) bezog und mich fragte: „I wonder where you got that title?“ – Natür­lich nur von Dir, oh, infal­lible Norman, denn without you there wouldn’t even be music in this world! +++ Der polni­sche Kompo­nist ist tot. Pianist  machte seinen Zyklus für Klavier „The People United Will Never Be Defeated!“ bekannt. Und natür­lich rief der Pianist seinem Freund auch bewegt auf Twitter nach. Die Washington Post berich­tete, dass Rzewski im italie­ni­schen Montiano einen Herz­in­farkt erlitt. Viele seiner Parti­turen hat der über­zeugte Kapi­ta­lismus-Kritiker kosten­frei ins Netz gestellt.

AUF UNSEREN BÜHNEN

Okka von der Damerau als Brangäne mit Wolfgang Koch als Kurwenal in Wagners „Tristan und Isolde“ an der Bayerischen Staatsoper in München

Eigent­lich schön, dass ausge­rechnet eine Auffüh­rung, die um zwei Super­stars der Klassik gebaut wurde, Niko­laus Bach­lers Abschieds­ge­schenk an die Münchner Staats­oper, der „Tristan“ mit und , sich am Ende als Spek­takel der Neben­rollen heraus­stellte: Beson­ders wurde gefeiert! Kritiker Markus Thiel sah es im Merkur wie viele seiner Kollegen: „Manchmal scheint es über­haupt, als gebe es in dieser Première nur eine einzige Stimme mit natür­li­cher Wagner-Dimen­sion, und die gehört Okka von der Damerau. Ihre Bran­gäne ist (mit Abstand gefolgt vom szenisch unter­be­schäf­tigten Kurwenal des ) das Gegen­teil eines Kompro­misses, sondern pures Klang­er­eignis – gerade weil der Regie dazu wenig einfällt und die Kostü­mie­rung von Małgorzata Szczęś­niak nicht nur in diesem Fall anfechtbar bis justi­ziabel ist.“ +++ Dass Inten­dant Jan-Philipp Laufen­berg (wir brau­chen mal einen neuen Namen für ihn!) ziem­lich oft ziem­lich allein zu Hause ist, haben wir inzwi­schen ja begriffen. Aber allein „Ring“ nur auf die Bühne zu bringen, weil man selber insze­niert, das ist schon krass! Weil Laufen­berg Regie führt, musste das Ding auf die Bühne, auch, wenn im Orches­ter­graben ledig­lich ein Klavier stand. Das Ergebnis, glaubt man Axel Zibulski in der FAZ, war mehr als enttäu­schend: „Die Auffüh­rung erweist sich als musi­ka­lisch unver­tretbar“, summiert der Kritiker in seinem Total­ver­riss über die Absur­di­täten von Jan-Phil­lips Ego-Trip. Huiuiuiuiui… 

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht, dass der Festival-Sommer endlich beginnt! Den Anfang machen die mit einer wirk­lich span­nenden Trou­vaille: „Nerone“ von – eine etwas andere Erzäh­lung von Nero, wie der Diri­gent uns erzählt.

In diesem Sinne, halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

Bilder: dpa, insta­gram DSO, common, , Titel: Sky Austria