Gregor Hohenberg

KlassikWoche 29/2023

Wie krank ist die Klassik?

von Axel Brüggemann

17. Juli 2023

Die rasante Taktung des Klassik-Betriebes, der Gewinner der Mahler Competition Giuseppe Mengoli, die Gefährdung der Klassik-Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute schauen wir der Klassik in den belegten Rachen, machen uns Gedanken über Diri­gen­tInnen und feiern die Kraft des Mitein­an­ders in Gewitter-Open-Airs!

Wie krank ist die Klassik?

Medizinische Mundspatel

Es ist mehr als eine leichte Erklä­rung: Fast schon unüber­schaubar sind die Absagen von Sänge­rinnen und Sängern in Bayreuth, in Salz­burg musste der Macbeth umbe­setzt werden, und nun berichtet via Social Media, dass er seine anste­henden Termine absagen müsse: Ein multi­re­sis­tenter Keim mache ihm und seiner Stimme zu schaffen, er müsse sich zunächst einmal gründ­lich erholen. Das sind auffällig viele Absagen, und die Frage liegt nahe, ob das System des inter­na­tio­nalen Klassik-Zirkus« nicht selber so krank ist, dass es seine Prot­ago­nisten infi­ziert: in der Rolle des Parsifal ist sicher­lich an sich schon ein Risiko ( über­nimmt). Als ich die Fern­seh­sen­dung Stars von morgen für vor einigen Jahren neu konzi­piert hatte, gab es in der Sendung noch große Gast-Stars, die die Auftritte des Nach­wuchses einschätzten (und sie berieten) – einer von ihnen war René Kollo, der Villazón bei einem Essen fragte: „Ich weiß nicht, wie Sie das machen mit Ihrer Stimme: heute Fern­sehen, gestern Opern-Auffüh­rung, morgen Konzert. Vor einem Tristan habe ich tage­lang nur in Briefen mit meiner Frau kommu­ni­ziert, um bei Stimme zu bleiben.“

Und tatsäch­lich ist die Taktung unseres Klassik-Betriebes inzwi­schen rasant, die Verlo­ckungen sind gigan­tisch: Theater warten auf spek­ta­ku­läre Rollen-Debüts (viele Inten­dan­tInnen sind nicht in der Lage, an die Stimm­ent­wick­lung ihrer Sänge­rInnen zu denken), private Veran­stalter hoffen auf Giga-Konzerte für die große Kasse (und finden in Künst­le­rInnen will­fäh­rige Komplizen), und im Hinter­grund zerren und reißen Plat­ten­firmen an ihren Künst­le­rInnen (ein Termin da, ein Auftritt hier – und schon das nächste absurde Album). Manche Künst­le­rInnen merken derzeit, dass all das nicht mehr gesund ist, ziehen von sich aus die Reiß­leine, legen eine Pause ein. Andere versu­chen, weiterhin überall mitzu­spielen und ruinieren ihr größtes Kapital lang­fristig durch einen immer verrückter vor sich hin drehenden Klassik-Markt. Äußerst unge­sund das alles!

Diri­gen­ten­fragen

Der briti­sche Sender Classic FM ist nicht für seine Tiefe bekannt, aber es ist schon amüsant, die Top-25 „Diri­gen­tInnen aller Zeiten“ zu lesen. Mit dabei (sogar auf Platz 1!), oder Gustavo . Hmmm, klar: ein Spiel nur. Aber wer (aus meiner beschei­denen Sicht) auf jeden Fall fehlt: , Thomas Beecham, Ernst von Schuch, Hans von Bülow, , und und und … Inter­es­sant auch, wenn man darüber nach­denkt: Wie schnell doch die Erin­ne­rungen an Maestri verblassen, die zu ihrer Zeit das Non plus ultra waren. Sir oder selbst Giuseppe Sino­poli spielen in unserer heutigen Klassik-Rezep­tion kaum noch eine Rolle. Immerhin: Der Schau­spieler wird in einem Holly­wood-Film den Kompo­nisten und Diri­genten verkör­pern und erklärte (auch gegen­über Classic FM), dass er dafür stun­den­lang den Takt­stock geschwungen habe. 

Übri­gens, wenn Diri­genten denken, sie seien klüger als Regis­seure, kann sich das rächen: Beim Puccini Festival in Torre del Lago, diri­gierte Alberto Vero­nesi mit Augen­binde, um gegen die La-Bohème-Insze­nie­rung von Chris­tophe Gayral zu protes­tieren (er lässt die Hand­lung 1968, zur Zeit der Studenten-Unruhen, in Paris spielen) – und wurde dafür vom Publikum weniger gefeiert als der Regis­seur.

Perso­na­lien der Woche I

Giuseppe Mengoli

Span­nende Bewe­gung auf dem Strea­ming-Markt: Naxos stellt seine großen audio­vi­su­ellen Klassik-Produk­tionen auf der Platt­form von Amazon Prime Video zur Verfü­gung und bringt damit erneut Bewe­gung in den Strea­ming-Markt. Hier der Bericht aus der New York Times. +++ Giuseppe Mengoli ist Gewinner der Mahler Compe­ti­tion: Bis vor kurzem war er Assis­tent von beim Neder­lands Phil­har­mo­nisch Orkest und an der Neder­landse Opera in Amsterdam. Im Sommer wird er als Assis­tent von bei den Salz­burger Fest­spielen dabei sein. Mengoli diri­giert nicht nur, er hat auch als Geiger schon mehrere Wett­be­werbe gewonnen und noch Schlag­zeug, Trom­pete und Kompo­si­tion studiert.

Mal wieder Angriff der Letzten Gene­ra­tion auf die Kultur: „Die Klima­ka­ta­strophe braucht die große Bühne.“ Mit diesem Satz klebte sich eine Akti­vistin an ein Teil der Zauber­flöten-Bühne bei den Regens­burger Schloss­fest­spielen von „Kultur zur Selbstdarstellung“-Veranstalterin Gloria von Thurn und Taxis. +++ Sie wird eine wich­tige Rolle in Berlin spielen, und beim Deutsch­land­funk-Format Klassik-Pop-et cetera kann man nun die musi­ka­li­sche Biografie der desi­gnierten Berliner Staats­opern-Inten­dantin und der Chefin der Bregenzer Fest­spiele, , kennen­lernen: von Niko­laus Harnon­court über die Götter­däm­me­rung bis zu . +++ Er war eine Legende: Der Pianist André Watts feierte seinen großen Durch­bruch, als sein Recital im Lincoln Center 1976 als erstes Klavier­kon­zert live und in voller Länge im US-Fern­sehen über­tragen wurde. Watts bildete zahl­reiche Pianis­tInnen aus und starb nun im Alter von 77 Jahren in Bloo­mington.

Nicht-Verlän­ge­rung als Methode?

Künst­le­rInnen werden selten entlassen, ihre Verträge werden einfach: nicht verlän­gert. Etwa bei einem Inten­dan­tInnen-Wechsel. Über diese „Tradi­tion“ lässt sich treff­lich streiten. Die Gewerk­schaften verur­teilen die „Nicht-Verlän­ge­rung“ als unge­recht, unso­li­da­risch oder als böswil­ligen Akt der Arbeit­geber gegen den prekären Stand der Künst­le­rInnen.

Aber Michael Wolf zeigt in einem Kommentar für nacht​kritik​.de auch die Vorteile auf: „Man kann den Konflikt auch demo­gra­fisch beschreiben. Tenden­ziell ältere Künst­le­rinnen und Künstler vertei­digen ihre Errun­gen­schaften gegen die nach­kom­mende Konkur­renz. Am schlech­testen trifft es ange­hende Schau­spieler, die derzeit noch in oder sogar vor der Ausbil­dung stehen. Sollte der Wider­stand gegen Nicht­ver­län­ge­rungen anhalten oder sogar vertrag­liche Ände­rungen erzielen, verrin­gerten sich ihre Karrie­re­aus­sichten beträcht­lich. Wenn so Soli­da­rität aussieht, bin ich froh, in keiner Gewerk­schaft zu sein.“ Darüber lässt sich treff­lich streiten.

Kultur­radio in Deutsch­land

Ein kluger Kommentar zur anste­henden Verein­heit­li­chung der unter­schied­li­chen deut­schen Radio-Kultur­pro­gramme nach 20:00 Uhr zu einem gemein­samen „Fenster“. Im Tages­spiegel schreibt Joachim Huber: „Wenn sich das arme Land Berlin drei Opern­häuser leistet, muss sich das reiche Deutsch­land sehr unter­schied­liche ARD-Kultur­wellen leisten. Kultur, gerade Kultur braucht Vermitt­lung, Präsenz, Sicht­bar­keit durch Hörbar­keit. Kultur­radio eben.“ Klar, inner­halb der ARD nennen sie all das längst „Trans­for­ma­tion“ – weg vom linearen Radio, hin zum Netz. Aber schon jetzt wird klar: In dieser Trans­for­ma­tion geht ein Groß­teil des Auftrages des öffent­lich-recht­li­chen Rund­funks verloren, alle Klassik-Sendungen wurden mit KlickK­lack abge­schafft – KEINE ist bislang im Netz neu entstanden. Es wäre gefähr­lich, wenn die ARD sich selber in die Tasche lügt, denn es wäre nicht verwun­der­lich, wenn nach dem Angriff auf die kultu­rellen Inhalte der Angriff auf die kultu­rellen Insti­tu­tionen (die Rund­funk­or­chester) folgte. Wir sollten achtsam bleiben und können gegen diesen Trend nicht genü­gend protes­tieren. Öffent­lich-recht­li­ches Fern­sehen und Radio recht­fer­tigt sich durch unab­hän­gige Poli­tik­be­richt­erstat­tung und den kultu­rellen Auftrag … Beides gilt es zu bewahren! Um jeden Preis. 

Perso­na­lien der Woche II

Joe Chialo

Viel­leicht setzt der SWR und seine erschre­ckend unkom­mu­ni­ka­tive Inten­dantin Sabrina Haane darauf, dass das deut­sche Klassik-Publikum kriegs­müde wird. Vor Wochen wurde uns noch erklärt, dass man die Teil­nahme des prorus­si­schen Basses Alexey Tikho­mirov bei Konzerten des SWR Sympho­nie­or­ches­ters mit Teodor Curr­entzis in Hamburg und Stutt­gart prüfe (er hat sich mehr­fach für Putins Kurs ausge­spro­chen und ist im russi­schen Fern­sehen mit dem St. Georgs-Orden aufge­treten). Bislang ist es in dieser Sache aller­dings still geblieben. Kein Bekenntnis für den Sänger, keines gegen ihn. Aussitzen scheint das Motto. +++ Und das scheint zuweilen auch zu funk­tio­nieren: Großen Jubel gab es in der Baye­ri­schen Staats­oper für einen Solo-Abend mit . War da was? 

Posi­tive Meldungen aus Berlin: 947 Millionen Euro soll es 2024 für die Berliner Kultur in Joe Chialos Kultur­senat geben. 2025 wird es dann gut eine Milli­arde Euro sein. So steht es im Berliner Haus­halts­ent­wurf 2024/2025. Mit dieser Stei­ge­rung werden aller­dings gerade mal die Tarif­stei­ge­rungen aufge­fangen.

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Opern­be­suche können große Aben­teuer werden: Ich war neugierig, wie die Oper im Stein­bruch von Inten­dant Daniel Serafin im öster­rei­chi­schen St. Maga­reten Carmen in Szene setzen wird. Der Hinweg bei über 30 Grad wurde von einem Reifen­platzer begleitet, ich beschloss den Rest des Weges zu trampen, und kurzer­hand nahm mich Eric Leuer vom The Opera Blog auf Insta­gram mit (danke dafür!), und dann: Ein Giga-Gewitter sorgte dafür, dass Carmen die Oper ausnahms­weise über­lebte – die Auffüh­rung wurde nach dem zweiten Akt abge­bro­chen (die Insze­nie­rung verband ein wenig moti­va­ti­onslos ein Holly­wood-Filmset mit der eigent­li­chen Oper). Das Gute: Die Leute ließen sich die Laune nicht verderben, tranken unter den wegwe­henden Sonnen­schirmen weiter ihren Ester­házy-Carmen-Wein, und ich kam am Ende erneut als Tramper nach Hause, dank der Kollegin vom ORF, die mich nun heim chauf­fierte. Wir lernen: Oper verbindet! 

Ach ja: Und eine Sache noch, die ich sehr lohnens­wert finde: Wie und Zürichs Bürger­meis­terin Corine Mauch in diesem Film­chen über Macht und Führung reden.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de 

Fotos: Marian Lenhard / BR Klassik, Laurence Chaperon