KlassikWoche 44/2021

Hintern hoch und Fehl­ver­halten

von Axel Brüggemann

1. November 2021

Der Verhaltens-Codex des Bühnenvereins, die politische Haltung von Valery Gergiev, das Kochbuch von Anna Netrebko

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit neuem Verhal­tens-Codex an den Bühnen, neuer Oper in der und einem Blick nach Asien. Viel Spaß mit dem Klassik-News­letter, der seinem Publikum nicht zurufen muss, den „Hintern“ hoch­zu­kriegen. 

SAG MIR, WIE SOLL ICH MICH VERHALTEN?

Die Botschaft hör ich wohl, allein…: Der Deut­sche Bühnen­verein hat einen erwei­terten Verhal­tens­codex verab­schiedet. Die letzte Auflage stammt aus dem Jahr 2018 und wurde unter dem Eindruck von #metoo verfasst. Nun hat man den Codex erwei­tert, beson­ders um die Aspekte von Diskri­mi­nie­rung und Führungs-Ethik. Doch der Präsi­dent des Bühnen­ver­eins, Carsten Brosda (SPD), hat den Knack­punkt aller Anstren­gungen schon selbst verdeut­licht: „Es geht darum, wie die ethi­sche Verein­ba­rung jetzt auch betrieb­liche Wirk­lich­keit wird.“ Genau das ist das Problem: Was helfen die besten Verhal­tens­re­geln, wenn es keine juris­ti­sche Hand­habe gibt. Was schert es die Hand auf dem Po, wenn es keine Watschen auf die Wange gibt?

Deutsch­lands Kultur­ein­rich­tungen sind voll von Leite­rInnen, die – aus ganz unter­schied­li­chen Gründen – in der freien Wirt­schaft kaum noch haltbar wären: satu­riert durch Subven­tionen, anachro­nis­tisch hier­ar­chisch und mit zuweilen chole­ri­schem Umgangston. Das Problem, sie kommen damit durch. In der Vergan­gen­heit haben wir nicht nur eine Angst-Kultur an Thea­tern, sondern auch eine merk­wür­dige Angst der Politik erlebt, wenn es darum ging, dass Kultur­po­li­tiker von Verhal­tens-Verfeh­lungen erfahren haben (Man muss nicht nur, aber kann auch nach blicken!). Trotz erdrü­ckender Beschwerden hat man am Ende lieber darauf verzichtet, einem „Klassik-Star“ den Lauf­pass zu geben. Der neue Verhal­tens­codex des Bühnen­ver­eins kann also nur ein erster (über­fäl­liger) Schritt sein – viel wesent­li­cher ist die Frage nach seiner Umset­zung und der konkreten Ahndung von Verstößen. 

WORLD WIDE KLASSIK ODER: RE-DIVER­SITÄT?

Für die Zeit­schrift Nikkei Asia hat die Jour­na­listin Mari Yoshi­hara ein kontro­verses Thema aufs Tapet gebracht. Sie berichtet vom Chopin-Wett­be­werb und leitet ein Phänomen inner­halb der Klassik aus ihren -Erfah­rungen ab: 55 der 87 Pianis­tInnen beim Wett­be­werb kamen aus Asien, etwas geringer war das Verhältnis bei der Queen Elisa­beth Compe­ti­tion in , in dem 26 von 58 Pianis­tInnen aus Asien kamen oder beim Leeds Inter­na­tional Piano Compe­ti­tion, bei dem von den 62 Wett­be­werbs­teil­neh­me­rInnen 27 Asia­tInnen waren. 30 Prozent der Orchester-Mitglieder des Phil­har­monic Orchestra seien asia­ti­scher Abstam­mung, gar zwei Drittel der Musi­ke­rInnen in der Geigen-Sektion. Span­nend ist die Schluss­fol­ge­rung von Yoshi­hara: „Das, was wir ‚klas­si­sche Musik‘ nennen, ist nicht – wie viele denken – eine originär euro­päi­sche Kunst­form“, viel­mehr sei die Musik, die im 18. Jahr­hun­dert in Europa geboren wurde, durch das Bürgertum und die indus­tri­elle Gesell­schaft des 19. Jahr­hun­derts global verbreitet worden. Eine Welt­kunst von Welt­künst­lern und Globe­trot­tern, wie Chopin einer war. Ich finde diesen Blick inter­es­sant.

Auch in meinem Wagner-Film sehen wir People of Colour, die Wagners „Ring“ in New Jersey für ihre Lebens­ver­hält­nisse adap­tieren, einen japa­ni­schen Millionär, der Wagner-Opern für Kinder fördert oder einen musli­mi­schen Scheich, der Wagners Werk mit dem Koran vergleicht. Man könne über „authen­ti­sche“ und „origi­nale“ Inter­pre­ta­tionen streiten, sagt Yoshi­hara, aber der Chopin-Wett­be­werb hätte gezeigt, wie groß das welt­weite Wissen und der tech­ni­sche Umgang mit der „klas­si­schen Musik“ seien. Als Euro­päer und Deut­scher, als Bürger aus dem Land von Bach, Beet­hoven und Brahms könnte man viel­leicht hinzu­fügen: Es ist längst an der Zeit, dass sich unsere Bildungs­po­litik ein Vorbild an anderen Konti­nenten nimmt, um Musik wieder als exis­ten­zi­ellen Bestand­teil einer Gesell­schaft zu veran­kern. Ach, übri­gens, der Gewinner des Chopin-Wett­be­werbes war der Kana­dier Bruce Xiaoyu Liu, gefolgt von Alex­ander Gadjiev (/​Slowenien), Kyohei Sorita aus und Martín García García aus Spanien. 

NEUES OPERN­HAUS FÜR DIE TÜRKEI

Neues Opernhaus in Istanbul

Letzte Woche habe ich an dieser Stelle noch einmal darüber nach­ge­dacht, welche poli­ti­schen Krite­rien wir eigent­lich an Klassik-Künstler anlegen müssen. Kurzum: Ist es eigent­lich okay, , der kein Hehl aus seiner Haltung gegen­über Homo­se­xu­ellen oder der Anne­xion der Krim macht, mit erheb­li­chen Steu­er­gel­dern zu subven­tio­nieren? Ich habe diesen Gedanken im SWR noch einmal ausfor­mu­liert, unter anderem auch mit Blick auf Belarus und die Türkei. Dazu passt die Meldung, dass ausge­rechnet am -Platz das neu errich­tete Opern­haus der Türkei eröffnet wird. Das Kultur­ge­bäude, das einst im Zentrum der Proteste stand. Die Demons­tra­tionen, die das ganze Land ergriffen haben, und die zu Tausenden von Fest­nahmen führten, entzün­deten sich auch an den Plänen, das „Atatürk-Kultur­zen­trum“ abzu­reißen. Archi­tekt des neuen Hauses ist Murat Taban­lıoğlu – Sohn des Archi­tekten Hayati Taban­lıoğlu, der bereits das alte Gebäude entworfen hatte. Das neue Haus beher­bergt neben der Oper mit Platz für 2.500 Zuschaue­rInnen auch ein Kino, Biblio­theken, Cafés und Restau­rants. 

„KRIEGT DEN HINTERN HOCH!“?

In diesem News­letter haben wir die Debatte begonnen, dass viele Häuser in Deutsch­land noch immer auf jenes Publikum warten, das vor der Corona-Pandemie da war. Nun nahm auch Anna-Sophia Lang das Thema auf und schrieb in der FAZ ein Plädoyer, in dem sie das Publikum moti­vieren wollte: „Jetzt geht es darum, nicht nur zu sagen, wie wichtig einem die Kultur ist, sondern darum, das auch zu zeigen. Sonst gibt es sie irgend­wann nicht mehr. (…) Die Exis­tenz der kleinen Theater darf nicht daran schei­tern, dass wir alle so lange auf dem Sofa gesessen haben, dass wir jetzt, pardon, den Hintern nicht mehr hoch­kriegen.“ In ein ähnli­ches Horn stößt Wolfram Goertz in der Rhei­ni­schen Post. Auch er will vom Publikum, dass es das Streamen lässt und das Echte genießt.

Ich persön­lich bleibe skep­tisch, ob Appelle von Jour­na­lis­tInnen oder Künst­le­rInnen nach dem Motto „Wenn Ihr uns wirk­lich liebt, müsst Ihr das jetzt beweisen“ am Ende helfen. Ist es wirk­lich ein guter Grund, ins Theater zu gehen, um es zu retten? Wäre es nicht viel schöner, wenn wir ins Theater gingen, weil das Theater uns verführt? Ach ja, und Corona ist auch nicht an allem schuld! Ich könnte meinen niemals auf dem Sofa hockenden Hintern dafür verwetten, dass die mit ihrem zehn Jahre verspä­teten Retro-Programm oder das voll­kommen am Publikum vorbei program­mie­rende Theater auch ohne Corona nicht wirk­lich brummen würden. Um dieses Thema weiter zu debat­tieren, bin ich diese Woche auf der Konfe­renz der Gene­ral­mu­sik­di­rek­toren einge­laden – Bericht folgt.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Anna Netrebko und ihr Kochbuch

Anfang der Woche gab die bekannt, dass Baren­boim-Schüler Thomas Guggeis neuer Gene­ral­mu­sik­di­rektor wird. Der erst 28-Jährige über­nimmt das Amt 2023 von Sebas­tian Weigle, dessen Vertrag nach 15 Jahren ausläuft. Hier ein Porträt. +++ Der Premium Impe­riale wird als „Nobel­preis der Musik“ gehan­delt und ist am Ende haupt­säch­lich ein sehr hoch dotierter Kultur­preis einer japa­ni­schen Millionen-Firma. Wie auch immer: Nun wurde dem Cellisten der Preis coro­nabe­dingt en passant während eines Aufent­haltes in Tokio verliehen. +++ Die Schulter ist operiert, die Reha dauert an, derweil gibt einfach ein Koch­buch heraus: „Der Geschmack meines Lebens“. Übri­gens, gut zu wissen: „Man muss mir die Küche einfach über­lassen“, sagt Netrebko, sie koche gern für Freunde: „Ich bringe die Zutaten mit und koche für alle.“

Lesens­wert ist das ausführ­liche Inter­view, das Markus Thiel mit dem Diri­genten für den „Merkur“ führte: „Für mich sind Konzerte wie Geschenke.“ +++ In Öster­reich wurde nun eine Beschwerde abge­wiesen, mit der sich Künst­le­rInnen wie die Sängerin gegen die Corona-Politik gewendet haben. Der Stan­dard erklärt: „Das Höchst­ge­richt wies jedoch darauf hin, dass nicht die künst­le­ri­sche Tätig­keit als solche Gegen­stand der Verbote gewesen sei. Es habe sich um eine von vielen Maßnahmen zur Verhin­de­rung von Menschen­an­samm­lungen gehan­delt.“ +++ Daniil Trif­o­nows neues Bach-Album „Kunst der Fuge“ begeis­tert viele Kritiker (und mich auch): Hier eine Hymne von Chris­tiane Peitz im Tages­spiegel und ein sehr lesens­wertes Gespräch mit dem Künstler von Jan Brach­mann in der FAZ. +++ Letzte Woche habe ich an dieser Stelle ein wenig gegen den Deut­schen Musikrat ausge­teilt, viel­leicht ein wenig pole­misch. Ich habe aller­hand Mails bekommen, Beschwerden und Gesprächs­an­ge­bote. Für den Augen­blick belasse ich es mal bei dieser Anmer­kung. Ich werde mir das Thema Musikrat bald noch einmal ausführ­li­cher vornehmen.

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Natür­lich immer da, wo die Frie­dens­tauben flat­tern! Die Lese­rInnen dieses News­let­ters wissen um das Auf und Ab und Hin und Her bei einigen Themen, wie schwer es ist, beim Einordnen der Lage nicht in Freunden und Feinden zu denken, und dass es manchmal eben auch knallt! Umso schöner, wenn Gräben sich schließen, wenn es um die Sache geht. Ich habe mich gefreut, dass gemüt­lich eine Tüte Popcorn gefut­tert, herz­haft gelacht und am Ende ein biss­chen Schulter geklopft hat, als wir uns für meinen Wagner-Film in getroffen haben (okay, ich habe ihn mit einem Gutschein für die Metz­gerei Rauch besto­chen – Kino­gänger wissen Bescheid). Er scheint guter Dinge, den Salz­burger Nach­richten sagte er in einem Inter­view, dass er sich auf neues Reper­toire freue, und, ja, dass die Musik wich­tiger sei als wir. D’ac­cord!

Tatsäch­lich hat die Klassik es dieses Jahr geschafft, Ostern in den Winter zu verlegen und die Oster­fest­spiele in Salz­burg diese Woche nach­zu­holen. Pünkt­lich dazu meldete sich auch Inten­dant Niko­laus Bachler zu Wort und gab ein Inter­view im Öster­rei­chi­schen Kurier. Er glaubt, dass es länger dauern wird, bis die Häuser wieder voll sind, und bezwei­felt, dass Corona die Klassik grund­le­gend verän­dern wird: „Die Krise war zu gering für wirk­liche Verän­de­rung.“ Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Bachler?

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Brueggemann@​crescendo.​de

Fotos: Burg­theater, Chopin Wett­be­werb, Molden Verlag, privat