Klassische Musik & Digitalisierung
Klassik im Medien-Check
von Axel Brüggemann
3. November 2020
Klassische Musik und Digitalisierung – geht das überhaupt zusammen? Doch, das geht! In diesen Zeiten allemal. Eine Shortlist samt Einordnung.
Eine Kunst wie die Oper ist per se erfunden worden als „Multmedium“, das Musik, Text, Architektur, Tanz und Bild miteinander verbindet. Mit der Digitalisierung allerdings scheint die Klassik noch ein wenig zu fremdeln. Aber die Neugier wächst. Eine persönliche Bestandsaufnahme des Digitalen in der Welt der klassischen Musik.
Social Media
In der Klassik dauert vieles ein wenig länger, so auch die Social-Media-Präsenz von Häusern und Künstlern. Haupttummelplatz der virtuellen Welt ist dabei für viele noch immer das inzwischen fast schon ein wenig altmodisch anmutende Facebook. Hier sind inzwischen fast alle Häuser und Künstler vertreten, manche aber lediglich mit einem „Abklatsch“ aus anderen Social-Media-Plattformen. Igor Levit ist einer der wenigen deutschsprachigen Künstler, die bei Twitter zu Hause sind und gleichzeitig Instagram bespielen. Er hat uns allen gezeigt, dass ein Handy auch als Streaming-Server für kostenlose Hosentaschenkonzerte funktioniert, bei denen es nicht auf Klangqualität, sondern auf Unmittelbarkeit ankommt.
Die intimsten Einblicke in die Klassikwelt gibt derzeit wohl Instagram. Und hier ist Anna Netrebko die unangefochtene Königin der Hemmungslosigkeit: Egal, ob sie ihren Sohn, ihren Vater, den neuesten Modetrend ihres Gatten, sich selbst beim Klettern auf Turngeräten oder vor weißrussischer Diktatoren-Architektur postet – der Netrebko ist einfach gar nichts peinlich. Und genau das macht ihren Auftritt bei Instagram jedes Mal zu einem neuen Ereignis. Die „klassischen“ Klassikmedien sind eher noch bei Facebook zu Hause, auch wenn einige versuchen, die Möglichkeiten von Instagram für persönliche, direkte und unmittelbare Berichterstattung zu nutzen.
Digi-Wertung: Die Klassikszene ist noch nicht im aktuellen Social-Media-Kosmos angekommen, aber einige eindrucksvolle Ausnahmen gehen voran.
Virtual Reality and Beyond
Man kann argumentieren, dass Musik – vor allem die Oper – bereits eine Art handgemachte virtuelle Realität darstellt. Und tatsächlich kommt die digitale virtuelle Realität nur sehr langsam in der Klassik an. Eines der ersten experimentierwütigen Häuser auf diesem Feld war das Konzerthaus Berlin. Schon heute kann man dessen Musiker mithilfe von Handy und App im eigenen Wohnzimmer spielen lassen. Auch die Bayerische Staatsoper ist mit Pioniergeist vorangegangen und bietet einen dreiminütigen Opern-Trailer für VR-Brillen, in dem man unterschiedliche Perspektiven – unter anderem jene eines Künstlers, dem applaudiert wird – einnehmen kann.
Virtual Reality scheint für viele Häuser tatsächlich zunächst einmal eine Möglichkeit zu sein, das Publikum einzuladen – auch das Bayreuther Festspielhaus wurde bereits für VR vermessen. VR-Opern sind indes eher selten. Zwei Jahre dauerte die Produktion der Kurzoper Eight des niederländischen Komponisten Michel van der Aa. Er ist ein Pionier, wenn es um Musiktheater in Verbindung mit neuesten Technologien geht. Für die Realisierung der weltersten virtuellen und interaktiven Oper holte er die VR-Produktionsfirma The Virtual Dutch Man ins Boot. Außerdem wird derzeit an 3D-Projektionen getüftelt. So wurde überlegt, die Drei Tenöre noch einmal zu beleben: mit Plácido Domingo, José Carreras und einer 3D-Projektion von Luciano Pavarotti.
Digi-Wertung: VR führt in der Klassik derzeit noch ein Nischendasein und wird – außer für PR – kaum genutzt.
Audio-Stream
Hier spalten sich die Geister. Während Spotify mit seiner geringen Höhe von Auszahlungen eine Zumutung für jeden Künstler darstellt, lockt der Streaming-Anbieter sein Publikum mit der Idee, alles bei sich zu vereinen: Kinderhörspiel, Rock-Pop, exklusive Podcast-Produktionen und natürlich auch Klassik. Spezielle Anbieter für klassische Musik wie Idagio haben es bisher noch nicht geschafft, durch wirklich bessere, auf Klassikansprüche ausgerichtete Angebotsorganisation zu bestechen.
Eines der spannendsten Projekte auf dem Audio-Streaming-Markt ist wahrscheinlich der Streaming-Dienst von Naxos, die Naxos Music Library, die durch ihre Vielfalt, vor allen Dingen aber durch fairere Ausschüttungsquoten besticht. Das größte Streaming-Problem scheint derzeit darin zu bestehen, dass ein Großteil des Klassikpublikums noch nicht bereit fürs Streamen ist, sowohl was die Hardware-Ausstattung als auch die digitale Neugier betrifft. Im Gegensatz zum Pop ist beim Klassik-Streamen noch immer Luft nach oben.
Digi-Wertung: Der Audio-Streaming-Markt in der Klassik ist hart umkämpft, aber noch gibt es wenige Geschäftsmodelle, die fair und klanglich optimal mit Blick auf Klassik streamen.
Video-Stream
Auf diesem Feld finden gerade brutale Verteilungskämpfe statt: Die Deutsche Grammophon greift mit ihrer Plattform, der Digital Stage, frontal Anbieter und Rechtehändler wie Unitel an, die sich derweil – in Deutschland undenkbar! – vom ORF ihre Bezahlplattform Fidelio mitfinanzieren lassen. Auch Opernhäuser und Orchester versuchen sich im Streaming-Geschäft. Am erfolgreichsten ist dabei wohl, weil mit guter Werbung finanziert, die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker. Weder die Bayerische noch die Wiener Staatsoper bringen derweil genügend Menschen zu ihren Plattformen, um tragfähige Geschäftsmodelle zu finden. Perspektivisch wird es auf eine Zusammenarbeit mehrerer Häuser unter einem Streaming-Service herauslaufen.
Das Öffentlich-rechtliche Fernsehen rüstet nur langsam auf, füllt seine Mediatheken mit Kurzzeit-Content, der oft dem Geo-Blogging unterliegt, und hat es bislang nicht geschafft, zum Beispiel einen gemeinsamen Server für seine Rundfunkorchester aufzubauen. CRESCENDO präsentiert mit FOYER zum ersten Mal eine Plattform, die verfügbare Streaming-Angebote auf einer Website zugänglich macht – und zwar auf einer einfach zu bedienenden Benutzeroberfläche.
Digi-Wertung: Grundsätzlich ist viel Bewegung im Streaming-Markt. Einer Rentabilität steht aber noch die große Diversität entgegen.
Innovationen fürs Orchester
Gerade in Corona-Zeiten hat sich gezeigt, dass selbst in einer hochtechnisierten Welt das Wort „unmöglich“ noch immer möglich ist. Vor allen Dingen, wenn es um das gemeinsame Proben eines Orchesters von zu Hause aus geht. Für Bands gibt es inzwischen Möglichkeiten, einigermaßen synchron miteinander zu musizieren. Auf Plattformen wie Sofasession oder Jammr lässt sich zeitgleich mit anderen Musik machen. Wer technisch ein bisschen versierter ist, kann auch auf Open-Source-Software wie Jamulus, Ninjam Wahjam oder Jamtaba zurückgreifen. Für große Orchester mit einem Dirigenten ist all das aber aufgrund der Zeitverzögerung noch immer keine Lösung! Und auch andere Innovationen haben nicht so richtig Fuß gefasst in der Orchesterszene: Einst waren die Bamberger Symphoniker das erste Orchester, das von iPads spielte. Solisten nutzen diese Art der Noten ebenfalls gern – aber für große Orchester hat sich diese digitale Variante nicht wirklich durchgesetzt.
Digi-Wertung: Das Orchester scheint ein Kollektiv zu sein, das auf analoges Spiel setzt – oder noch setzen muss.
Artificial Intelligence
Der Traum ist uralt: Kann eine Maschine so genial sein wie Mozart, Beethoven oder Haydn? Kann man einen Computer mit Noten füttern, ihn lernen und Schuberts Unvollendete vollenden lassen? Dieses Experiment des Handy-Anbieters Huawei scheiterte bereits vor knapp zwei Jahren krachend. Statt Genie spuckte der Computer eher Mittelmaß aus. Die nächste Chance hat ein neues Modell im Jahr 2021, dann will die Telekom Beethovens Zehnte Sinfonie „errechnen“ lassen. Warten wir’s ab.
Tatsächlich zeigt sich, dass Computer sich derzeit noch schwertun, das Menschliche „berechnen“ und antizipieren zu können. Vielleicht sollte man es andersherum versuchen: Im Haus der Musik in Wien sind die Wiener Philharmoniker bereits ein „artifizielles“ Orchester, das sich von jedem Besucher dirigieren lässt – wenn man nicht im Takt dirigiert, stehen die Musiker auf der Leinwand auf und beschimpfen den Laien-Maestro. Ein hübsches Spiel. Mehr aber auch nicht.
Digi-Wertung: Vielleicht auch beruhigend die Erkenntnis, dass es noch keinen Computer gibt, der den Namen Beethoven verdient.
Digitaler Service
In der klassischen Administration ist Digitalität schon lange nicht mehr wegzudenken: egal ob in der Orchesterorganisation, beim Ticketing oder in der Künstlervermittlung, etwa mit Datenbanken wie Operabase. Aber auch inhaltlich verlegen sich immer mehr Orchester und Häuser auf ein digitales Angebot, sie verschicken mehr oder weniger spannende Newsletter, und die Wiener Staatsoper vertraut ihrem digitalen Angebot so sehr, dass sie für das gedruckte Jahresprogramm sogar fünf Euro Schutzgebühr erhebt. Tatsächlich tut sich viel Spannendes auf dem Feld des digitalen Service. So gibt es zum Beispiel großartige Podcasts statt gedruckter Programmhefte, die das Publikum bereits auf dem Weg zum Konzert hören können, zum Beispiel vom Grafenegg Festival. Der Service ist der aktuell wohl innovativste Teil der Klassikszene und versucht das Publikum auf immer neuen Wegen möglichst direkt und persönlich anzusprechen.
Digi-Wertung: Wirklich innovativ ist die Organisation der Klassik. Sie ist die vielleicht digitalste Abteilung der Musik.