Das Kunstlied

»Meine Töne still und heiter«

von Teresa Pieschacón Raphael

14. Dezember 2021

Das Lied ist ein Gesamtkunstwerk in seiner Einheit von Wort und Ton. Es verbindet Dichterworte mit Musik und erzählt von Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Einsamkeit.

Wer schreibt noch ein Lied? Das ist Mathe­matik“, rappt die Berliner Hip-Hop-Band SDP. Und startet auf ihrem Album von 2019 den Versuch: „Yeah, das ist das Intro von ‚das Lied‘ / Wir fangen gefühl­voll an / Mit Auto­tune / Das ist der Refrain / Die Melodie ist voll der Schrott / Doch nach einmal hör’n kriegst du sie nie mehr aus dem Kopf.“ Das Lied haben sie ihren Song genannt, ein Musik­be­griff, den man überall auf der Welt versteht: im Fran­zö­si­schen „le lied“, im Engli­schen „the lied“, im Spani­schen „el lied“.

Das Doppel­sin­nige, Wider­sprüch­liche, Unbe­re­chen­bare

Doch was ist ein Lied? „Ein Gebilde aus Wort und Ton, ein gesun­genes Gedicht, eine wort­ver­bun­dene Melodie“, schreibt der Musik­kri­tiker und Autor Werner Oehl­mann, die all das, was einem im Innersten bewegt, zum Ausdruck bringt: die Minne des Ritters, den die ange­be­tete Hofdame nicht erhört, der dafür bei der Bäuerin in der „Dörper­minne“ auf seine Kosten kommt. Die Einsam­keit des roman­ti­schen Wande­rers, der sich fremd, unver­standen in Schmerz und Sehn­sucht um die Liebste verzehrt; doch auch das Doppel­sin­nige, Wider­sprüch­liche, Unbe­re­chen­bare in uns – die Angst.

„Wollen wir nicht die hübschen Dresdner Lieder­chen einmal wieder hören?“, soll spöt­tisch seinen in tätigen ältesten Sohn Wilhelm Frie­de­mann einmal gefragt haben mit Blick auf Johann Adolf Hasses Erfolge am Dresdner Opern­haus unter August dem Starken. Der alte Bach verwei­gerte sich nun mal der Oper – auch wenn manche seine Matthäus- und Johannes-Passion dafür halten. Auch Bachs zweiter Sohn Carl Philipp Emanuel kompo­nierte keine. Dafür aber drei Lieder­bände, die in ihrer schlichten Diktion offenbar den neuen Zeit­ge­schmack trafen. Jetzt hieß es: Schluss mit der „schwüls­tigen, verwor­renen“ Musik, dieser „ekel­haften Prah­lerei mit harmo­ni­schen Künsten“, diesen „kalten, verwirrten Dinge(n) ohne Ausdruck, ohne Gesang (…) leer an Geschmack und Melodie“, so der Barock­kom­po­nist Johann Scheibe. Weg auch mit den Sing­übungen seines Paten­on­kels , obwohl die doch „für alle Hälse bequem“ liegen.

singt mit Helmut Deutsch am Flügel Das Veil­chen von .

Das Neue aber nun ist das Einfache, und Carl Philipp Emanuel wird ein Meister dieser neuen Empfind­sam­keit, bewun­dert auch von . Unter seinen 50 Liedern befindet sich übri­gens auch die Hymne Gott! Erhalte den Kaiser von 1797, die Antwort auf die fran­zö­si­sche Marseil­laise und heutige Natio­nal­hymne Deutsch­lands. Und Mozart schwärmt: „Er (Emanuel Bach, Anm. d. Red.) ist der Vater; wir sind die Bubn. Wer von uns was Rechts kann, hats von ihm gelernt.“ 30 Lieder wird er kompo­nieren, vom kleinen Stro­phen­lied bis hin zur Ariette, die wie eine kleine Opern­szene wirkt. Von den großen Dich­tern seiner Zeit wie Fried­rich Gottlob Klop­stock nimmt er im Gegen­satz zum Kollegen und Opern­re­for­mator kaum Notiz. Die Dich­tung bleibt ihm die „gehor­same Tochter der Musik“. Als er sein berühmtes Veil­chen KV 476 vertont, weiß er wohl nicht, dass es sich um ein Gedicht Goethes handelt. Bei seiner Abend­emp­fin­dung an Laura KV 523 schwärmt der Mozart­for­scher Hermann Abert „von einem unmit­tel­baren Schwingen des Gefühls mit all seinen zahl­losen Regungen“.

Der Inbe­griff der roman­ti­schen Sehn­sucht

Beet­hoven wiederum steht im Ruf, „unsang­lich“ zu kompo­nieren. Unzu­frieden mit der ersten Fassung des Fidelio, schickt ihm Cheru­bini ein fran­zö­si­sches Lehr­buch der Vokal­kom­po­si­tion. Dabei hat Beet­hoven sich bereits als Kind für das Lied inter­es­siert, wie die Schil­de­rung eines Mädchens von 1783, das er „in seinem eilften Jahre compo­nirt“, zeigt. Liebes- und Scherz­lieder schreibt er wie auch ernste Stücke reli­giösen, philo­so­phi­schen und bekennt­nis­haften Inhalts. Krönender Höhe­punkt dürfte An die ferne Geliebte op. 98 von 1816 sein, und manche Gesänge nach Gedichten von Goethe und Schiller, dem er im Finale der Neunten Sinfonie ein Denkmal setzt. Vier unter­schied­liche Verto­nungen entstehen allein zu Goethes Lied der Mignon („Nur wer die Sehn­sucht kennt …“), jenem geheim­nis­vollen Wesen, das – weder Junge noch Mädchen – zum Inbe­griff der roman­ti­schen Sehn­sucht wird. Das lang ersehnte Treffen der beiden Klassik-Titanen aber wird zur Enttäu­schung. Geheimrat Goethe ist entsetzt vom flegel­haften Benehmen Beet­ho­vens. Und Beet­hoven, der sich gerne aris­to­kra­ti­scher Gunst erfreut, findet nicht minder über­heb­lich: „Goethe behagt die Hofluft zu sehr, mehr als es einem Dichter ziemt.“

und zeigen in ihrer Impro­vi­sa­tion von Franz Schu­berts Des Fischers Liebes­glück, wie sinn­lich das Lied sein kann. Ihr Video ist Teil des Projekts Lied Me! Des Inter­na­tio­nalen Lied­zen­trums

Der Dichter selbst ist zu igno­rant, um zu erkennen, dass in Himmel­pfort­grund bei Revo­lu­tio­näres mit seinen Gedichten geschieht. Ein 17-Jähriger hat 1814 sein Gret­chen am Spinn­rade aus Faust vertont. Mehr noch, der Bub aus der Vorstadt, der auf den Namen hört, wird es ein Jahr später wagen, dem Geheimrat und Leiter des Weimarer Opern­hauses seine Ballade Erlkönig zu schi­cken. Antworten wird Goethe ihm nie – warum auch? Ein – sein Gedicht genügt sich doch selbst, mag er wohl denken. Und wenn man schon meint, es vertonen zu müssen, dann eher wie Fried­rich Zelter oder J.F. Reichardt mit einer Beglei­tung, die sich „ganz und gar dem Text“ unter­ordnet. Goethes Nicht­ach­tung hält Schu­bert nicht davon ab, im Laufe seines kurzen Lebens weitere 600 Lieder zu kompo­nieren – 57 übri­gens davon nach Dich­tungen Goethes. Heiter schöne und düster „schau­er­liche“ Lieder entstehen in allen erdenk­li­chen Formen: als einfa­ches oder vari­iertes Stro­phen­lied, als soge­nanntes „durch­kom­po­niertes Lied“, bei dem jede Zeile einzeln vertont wird, als Einzel­kom­po­si­tion oder in Zyklen ange­ordnet wie Die schöne Müllerin (1823) oder Winter­reise (1827). Jedes für sich ein Gesamt­kunst­werk in seiner Einheit von Wort und Ton: Die Dich­tung wird in Musik gesetzt, die Emotionen, Hand­lungen, Bilder und Stim­mungen in Tönen nach­ge­dichtet. Im Kreis der Freunde, in den Schu­ber­tiaden dann vorge­tragen, oft vom Bariton Johann Michael Vogl, bei dem Schu­bert am Klavier fühlt, als „seien wir Eins“. In einer Kantate zum 51. Geburtstag Vogls besingt Schu­bert 1819 den Freund: „Sänger, der von Herzen singet, Und das Wort zum Herzen bringet, Bei den Tönen deiner Lieder fällt’s wie sanfter Regen nieder.“ Und: „Tief herauf aus voller Seele; Schweigt dann einst des Sängers Wort, Tönet doch die Seele fort.“

Stehend oder gehend, nicht am Klavier

schließ­lich greift in seinen fast 300 Liedern den poeti­schen Fein­sinn Schu­berts auf. 140 davon schreibt er allein im Jahr 1840. „Meis­tens mache ich sie stehend oder gehend, nicht am Klavier“. Die Lied­kunst Schu­manns, der selbst als Dichter dilet­tiert, ist lite­ra­risch bestimmt. Heine, Eichen­dorff, Goethe, Rückert werden zu den Quellen seiner Inspi­ra­tion. „Einen Kranz von Musik, um das wahre Dich­ter­haupt zu schlingen – nichts Schö­neres; aber ihn an ein Alltags­ge­sicht verschwenden, wozu die Mühe?“

Anders bei . Das Gedicht ist für ihn nicht eigent­lich Gegen­stand musi­ka­li­scher Deutung, sondern Anre­gung zu eigener musi­ka­li­scher Äuße­rung ganz nach der Devise: „In meinen Tönen spreche ich.“ Seine etwa 200 Lieder entstehen in dem Bewusst­sein, das sein ganzes Werk prägt: die Verant­wor­tung gegen­über der jahr­hun­der­talten musi­ka­li­schen Vergan­gen­heit und somit den Ursprüngen des Lied­ge­sangs, dem Volks­lied. Die schöne Mage­lone, Zigeu­ner­lieder, Liebes­lie­der­walzer sind Zeug­nisse davon. In der Spät­zeit dient das Lied dem Verein­samten zum Ausdruck geheimer Empfin­dungen wie etwa Vier ernste Gesänge op. 121, die sich mit dem heran­na­henden Tod ausein­an­der­setzen.

singt mit Gerald Moore am Flügel Heimweh von nach einem Gedicht von Eduard Mörike.

„Ein Über­bleibsel uralter Reste und kein leben­diges Glied im großen Strom der Zeit“, wird der scharf­zün­gige Hugo Wolf den Kollegen Brahms in nicht eben einwand­freiem Deutsch beschimpfen. Er selbst, dessen kurzes Leben infolge einer Syphilis-Infek­tion im Wahn endet, bringt es auf 300 Lieder, darunter ein Spani­sches und ein Italie­ni­sches Lieder­buch sowie die Mörike-Lieder. An ihnen wird anschau­lich, was Wolfs große Lied­kunst ausmacht: Die Poesie wird in Musik „gegossen“ hin zu einem Werk von solch psycho­lo­gi­scher „Inten­sität“, dass es „das Nerven­system eines Marmor­blo­ckes zerreißen könnte“, wie er es selbst formu­liert.

Gefäß großer Gefühle

Der gleich­alt­rige hingegen führt das Lied aus seiner Inti­mität heraus und macht es zum Gefäß großer Gefühle mit univer­sellem Anspruch. Sein dunkel leid­be­las­tetes und sehr persön­li­ches Lied-Werk (Das Lied von der Erde, die Kinder­to­ten­lieder und die Lieder eines fahnden Gesellen) speist sich aus der Volks­dich­tung und der Volks­lied­text­samm­lung Des Knaben Wunder­horn von Clemens Bren­tano und Achim von Arnim. Auch die 150 Lieder von Richard Strauss erschlagen mit Gefühlen, wenn auch nicht aus persön­li­chem Bekenntnis heraus. Strauss wird zum Schöpfer des Podi­um­liedes, auch weil er viele Klavier­lieder nach­träg­lich für Orchester instru­men­tiert. Tiefe Inner­lich­keit hingegen verströmt Othmar Schoecks Lied­schaffen, der mehr als 400 Kompo­si­tionen hinter­lässt.

So weit also zum maßgeb­li­chen Jahr­hun­dert hinsicht­lich der „Erfin­dung“ und Blüte­zeit des Kunst­lieds. Doch auch der Über­gang in die jüngere Geschichte ist span­nend und durchaus erwäh­nens­wert: Beson­dere Aufmerk­sam­keit verdient und findet Arnold Schön­bergs Lied Herz­ge­wächse op. 20 von 1911. Mit der Bemer­kung „ohne Schön­berg darf es nicht sein“ lassen und Franz Marc die Partitur im Alma­nach ihrer Münchener Ausstel­lung Der Blaue Reiter von 1912 drucken. Es ist Schön­bergs Lied­zy­klus Pierrot lunaire op. 21 für Sprech­ge­sang aus dem glei­chen Jahr, der die Ausdrucks­mög­lich­keiten der Stimme erwei­tert und so eine neue Ära einläutet.

Ursula Hesse singt Wir, die wie der Strand­hafer Wahren. 1994 nach dem Tod von Uwe Schendel vertonte das Gedicht von .

, Schön­bergs Schüler, kompo­niert 88 Lieder, vorwie­gend als Kompo­si­ti­ons­stu­dien mit hohem Sinn für lite­ra­ri­sche Qualität. Weniger Sinn dafür haben die Dada­isten Kurt Schwit­ters und Ernst Jandl, zersetzen sie doch das Gedicht bis zur Unkennt­lich­keit. Nach der Russi­schen Revo­lu­tion von 1917 schließ­lich nehmen Arbei­ter­lieder Einfluss auf das Kunst­lied. Im rohen, parlie­renden Diseu­sen­Sprech­ge­sang vorge­tragen, pran­gern die „Songs“ von Hanns Eisler und – oft zu Texten von Bertolt Brecht – soziale Miss­stände an. Erst mit Aribert Reimann tritt in den 1960er-Jahren wieder ein Lied­kom­po­nist in Erschei­nung, der im „klas­si­schen“ Sinne Gedichte vertont, ohne sie in ihre seman­ti­schen Einzel­teile zu zerlegen, inspi­riert von Paul Celan und Rainer Maria Rilke. Im Mittel­punkt von Wolf­gang Rihms Lied­schaffen hingegen stehen oft psychisch kranke Dichter wie Jakob Lenz, und Adolf Wölfli.

Und damit zurück zu SDP: „Wer schreibt noch ein Lied?“ Die Antwort: zum Glück auch wieder zeit­ge­nös­si­sche Kompo­nisten.

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Ein Gespräch mit dem Liedsänger Christian Gerhaher finden Sie unter: CRESCENDO.DE

Ein Gespräch mit dem Liedsänger Thomas Hampson finden Sie unter: CRESCENDO.DE

Fotos: Ausschnitt aus Edgar Degas: Au Café-concert La Chanson du chien (Die Sängerin ist Emma Valadon, bekannt als Térésa)