KlassikWoche 34/2019

Wer hat den Kürzesten? Und warum Domingo singen soll

von Axel Brüggemann

19. August 2019

Heute – aus aktu­ellem Anlass – mit dem Versuch, eine ausge­ruhte Ordnung in den Fall Domingo zu bringen, und natür­lich mit allem, was sonst so passiert ist.

Will­kommen in der neuen Klassik-Woche,

heute – aus aktu­ellem Anlass – mit dem Versuch, eine ausge­ruhte Ordnung in den Fall Domingo zu bringen, und natür­lich mit allem, was sonst so passiert ist. 

WAS IST

GEDANKEN ZU DOMINGO 

Letzte Woche stand ich noch back­stage in Cara­calla – bei einem Zarzuela-Konzert von  – und habe mir an einem Mayo-Toast aus seinem Kühl­schrank den Magen verdorben. Eigent­lich wollte der Tenor danach seinen Sommer­ur­laub beginnen. Der dürfte durch die aktu­ellen #metoo-Vorwürfe nun wohl ausge­fallen sein. Neun Frauen, unter ihnen Mezzo-Sopra­­nistin Patricia Wulf, werfen Domingo sexu­elle Über­griffe vor: „gestoh­lene“ Küsse, seine Hände auf ihren Körpern und das Verspre­chen „Karriere gegen Liebe“. Die Reak­tionen kamen schnell und heftig. Während Sänge­rinnen wie Elisa­beth Kulman ledig­lich ihre Vermu­tungen bestä­tigt sehen, fordern andere das sofor­tige Ende von Domingos Karriere. Schnell tauchten neue Gerüchte auf, etwa durch den CEO und Chor­sänger Brian OliverS­mith, der Domingo als Inten­dant der LA Opera dabei beob­achtet haben will, bei den Proben eine Chor­sän­gerin nach der anderen ange­bag­gert zu haben. Derartig wütende Einlas­sungen sind wohl ebenso wenig hilf­reich wie das reflex­hafte Einspringen von Sänge­rinnen wie  für ihren Entde­cker und Agentur-Kollegen Domingo oder die gut gemeinte, aber schlecht gemachte Hilfe von Klatsch-Repor­­terin Beate Wede­kind, die in der Welt mit aller­hand Groupie-Stolz berichtet, wie sie von Domingo ange­flirtet wurde – und das ziem­lich cool fand. Auffällig ist die Zurück­hal­tung bei angeb­li­chen Domingo-Freunden wie  oder Jonas Kauf­mann – zumin­dest  ließ nach einigen Tagen über Insta­gram wissen, dass sie sich auf ihren Auftritt mit dem „fantas­ti­schen Plácido Domingo“ in der New Yorker Macbeth-Produk­tion freue. Da dieser News­letter den Luxus genießt, durch­atmen zu können – hier der Versuch, die aktu­elle Lage eini­ger­maßen ausge­ruht zu ordnen.

DOMINGO I: ER UND WIR 

Eines der vielen Gespräche, die ich in den letzten Tagen zur Causa Domingo geführt habe, drehte sich um große Plat­ten­firmen. Junge Mitar­bei­te­rinnen sollen hier seit Jahren vor Domingos oft pene­tranten Anban­de­leien gewarnt worden sein. Warum haben die Labels ihre jungen Mitar­bei­te­rinnen gewarnt, statt ihren Star-Tenor zu verwarnen? Verhin­dert nicht gerade dieses System Unrechts­be­wusst­sein? Und wie viel gelten eigent­lich all die Unschulds- und Unwis­­sen­heits-Erklä­rungen von Labels, Opern­häu­sern und anderen Insti­tu­tionen, die derzeit durch die Welt geschickt werden?

DOMINGO II: SOLI­DA­RITÄT UND VERUR­TEI­LUNG

Ich finde es absurd, wie hart und kompro­misslos beson­ders die US-Insti­­tu­­tionen reagieren: Das Phil­adel­phia Orchestra und die San Fran­cisco Opera haben Domingo-Konzerte kurzer­hand abge­sagt, die Los Angeles Opera kündigte externe Prüfungen an – und die will auch Peter Gelb von der MET abwarten (man hat gerade erst mit James Levine Waffen­still­stand geschlossen). Wie passt diese mora­li­sche Härte der  mit einem gewählten Präsi­denten zusammen, der Frauen am liebsten dauernd „by the pussy“ grabbed? Europa ist da etwas entspannter. Auch wenn Helga Rabl-Stadler von den Salz­burger Fest­spielen sich ziem­lich weit aus dem Fenster lehnt und erklärt, dass sie nie zuvor von Sex-Gerüchten über Domingo gehört habe. Dazu viel­leicht eine Rand­notiz: Ausge­rechnet die Mutter von Monica LewinskyMarcia Lewis, berich­tete schon 1998 in dem Buch „The Private Lives of the Three Tenors“ über das offen­her­zige Liebes­leben der Tenöre – und stand damit sogar in der  Times. Wie auch immer: Elbphil­har­monie, Staats­oper  und andere euro­päi­sche Häuser wollen Domingo auch weiterhin auftreten lassen – und ich finde das zunächst auch richtig! Unter anderem, weil ernst­hafte Vorwürfe juris­tisch bewertet werden müssen und nicht durch „Hören­sagen“. Sie müssen von Staats­an­wälten und Rich­tern unter­sucht und nicht von irgend­wel­chen Inten­danten, Jour­na­listen oder Online-Kommen­­ta­­toren im Vorfeld gerichtet werden.

DOMINGO III: ZWISCHEN­BI­LANZ 

Klar, die Vorwürfe gegen Domingo wiegen schwer und sind gleich­zeitig auch ein wenig traurig. Ein gestan­dener Mann, der sich – bei allem Ernst der Anschul­di­gungen – auch ein wenig lächer­lich macht, indem er einfach jede Frau verehrt, anbag­gert und abschleppen will. Die Vorwürfe gegen Domingo erin­nern an den alten, geilen, aber irgendwie liebens­wür­digen Falstaff. Domingo hat sicher­lich Recht, wenn er erklärt, dass sich die Moral in den letzten 30 Jahren verän­dert habe. Nicht nur in der Oper, sondern auch in den Versi­che­rungs­büros, den Redak­tionen und an den Schulen. Ich glaube, die #metoo-Debatte hat längst vielen die Augen geöffnet, und ich bin fest davon über­zeugt, dass junge Sänger oder Diri­genten inzwi­schen begriffen haben, dass heute nicht mehr akzep­tiert wird, was früher Gang und Gäbe war. Es wird wohl noch einige Namen alter Meister an die Ober­fläche spülen, und – wer weiß – irgend­wann werden viel­leicht auch die Frauen unter #metoo-Verdacht geraten, die den Eros als Mittel des eigenen Aufstieges einge­setzt haben. Derzeit aber bleibt vor allen Dingen eine Frage: Wie gehen wir mit den Dino­sau­riern der Macho-Zeit um, mit Leuten wie Plácido Domingo? Ist ihre ganze Karriere nichts mehr wert, weil jene Opern-Welt, die 40 Jahre lang geschwiegen hat, nun plötz­lich aufschreit? Sind seine Annä­he­rungen wirk­lich mit den Vergehen anderer Klassik-Künstler zu verglei­chen, mit Verge­wal­ti­gung, Nöti­gung, Kindes­miss­brauch? Jeder, der jetzt aufschreit, dass Domingo ab sofort untragbar sei, sollte zunächst sich selber fragen, wie und warum wir alle den Tenor so lange getragen haben. Ich glaube, die einzelnen #metoo-Ange­klagten spüren längst, dass unsere Welt nicht mehr ihre Alt-Herren-Welt ist, und: das ist auch gut so! Aber werden wir wirk­lich nur dann eine bessere Welt errei­chen, wenn wir das Lebens­werk aller Künstler, mit all ihren unter­schied­li­chen Ausprä­gungen kollektiv verur­teilen und ihre Karrieren nach­haltig ausra­dieren? Ich habe da große Zweifel.

WAS DER BREXIT DIE MUSIKER KOSTET

Weit über 1000 Euro mehr werden euro­päi­sche Profi-Musiker zahlen müssen, wenn es zum unge­ord­neten Brexit kommt. Norman Lebrecht berichtet über einen Brief der Musiker-Gewer­k­­schaft an Boris Johnson, in dem sie vorrechnet, dass allein die Ausreise-Doku­­mente für teure Instru­mente zwischen 800 und 1000 Euro kosten würden – hinzu kämen neue Versi­che­rungen und zahl­reiche Zoll-Gebühren. 

WAS WAR

WER HAT DEN KÜRZESTEN?

Die Frage der Länge schien die Diri­­genten-Debatte des Fest­spiel­som­mers bestimmt zu haben: Während Chris­tian Thie­le­mann gern mit Stab und zitternder rechter Hand diri­giert, setzt  inzwi­schen konse­quent auf den Zahn­sto­cher als Takt­stock. Der Tod seiner Mutter zwang den Russen, seinen Bayreu­ther „Tann­häuser“ ausfallen zu lassen. Allein bei der Ankün­di­gung, dass Thie­le­mann über­nehmen würde, bebte das Fest­spiel­haus. Herz­li­cher wurde Gergiev beim Salz­burger Bocca­negra begrüsst, bei dem die Wiener Phil­har­mo­niker aber irgendwie auch keine Lust hatten, sich auf seine Mini-Bewe­­gungen einzu­lassen. Bleibt der Maestro mit dem Kürzesten (da gar keinem!) Takt­stock: Teodor Curr­entzis. Er strich kurzer­hand die zwei großen Idomeneo-Arien in der Über­zeu­gung, dass Mozart ein Stümper war. Was auffällt: Die neue Mode, dass Diri­genten ihre Orchester bewusst irri­tieren wollen, bewusst klein oder wirr diri­gieren, damit die Musiker ihnen aufmerk­samer folgen. Ein Macht­spiel der 1980er-Jahre, das eigent­lich nicht nötig ist, wenn man gemeinsam musi­ziert. Oder wie eine Sängerin mir erklärte: „Es ist doch absurd, wenn die da so klein rumfuch­teln und wir alle auf den Souf­fleur schauen, der parallel viel deut­li­cher diri­giert, weil sonst alles ausein­ander fallen würde.“ +++ Genug der Eitel­keiten: Der Tages­spiegel feiert in seiner Sonn­tags­aus­gabe den Amts­an­tritt als Chef der Berliner Phil­har­mo­niker von  am 23. August und zeichnet den Weg seiner Karriere mit Zitaten aus den wenigen Inter­views nach, die er gegeben hat.

AUF UNSEREN BÜHNEN

Auch in dieser Rubrik gibt es heute einen Schwer­punkt. Setzen wir uns ins „Triangel“ gegen­über dem Salz­burger Fest­spiel­haus (die Kneipe ist inzwi­schen zu so etwas wie dem „Baller­mann“ der Oper verkommen) und resü­mieren die letzten Fest­­spiel-Premieren. George Enescus Oper Oedipe ist ein typi­scher, genialer Markus-Hinter­häuser-Abend: ein Ohren­öffner, span­nende Musik für ein neugie­riges Publikum – eine Entde­ckung! Aber die Frage bleibt, warum ausge­rechnet Regis­seur Achim Freyer seine Pseudo-Mythen-Puppen-Ästhetik nach 08/15-Rezept in der Felsen­reit­schule aufblasen durfte. Der Oedipus-Mythos hätte mehr konkreten Zugriff vertragen. +++ Schier uner­träg­lich ist « Verwei­ge­rung, Mozarts Idomeneo in Szene zu setzen – statt­dessen ein Öko-Kitsch-Theater, dessen Plastik-Müll-Bühnen­­bild wegen Produk­ti­ons­ge­fahr nicht einmal in Öster­reich herge­stellt werden durfte. Verständ­lich, dass Hinter­häuser die aktu­elle Viel­falt von Regie und musi­ka­li­schen Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­keiten zeigen will. Ich persön­lich kann aber mit Teodor Curr­entzis« gekürztem Mozart nicht viel anfangen: Vor Jahren war Niko­laus Harnon­court in Salz­burg mindes­tens so radikal, aber eben nicht als Ego-Show, sondern mit tiefstem Mozart-Wissen zu hören. +++ Wie groß­artig Oper (oder Operette) sein kann, wenn sie so gar nichts will, außer zu unter­halten, zeigt  mit Offen­bachs herr­lich schwulem Orphée aux enfers mit einem sehr klugen Dirigat von Enrique Mazzola, der Offen­bach mal extrem aufbläst, um ihm dann kurz­weilig wieder die Luft abzu­lassen, um ein drama­ti­sches Jux-Vakuum zu schaffen. Groß­artig! (hier der Link zum Nach­schauen auf ) +++ Altmeister-Regis­­seur Andreas Krie­gen­burg vervoll­stän­digt Hinter­häu­sers Idee der Viel­falt, zeigt in Verdis Simon Bocca­negra mit dauernden Twitter-Einblen­­dungen vor Beton-Bombast-Kulisse aber auch, dass die Zeit ihn inzwi­schen einge­holt hat. +++ Mein Fazit: Gerade die Viel­falt der Fest­spiele ist inter­es­sant, zeigt aber auch, dass sowohl die musi­ka­li­schen Wege als auch die Regie-Ästhe­­tiken inzwi­schen zur Perfek­tion gereift sind – und in diesem Still­stand der Perfek­tion danach verlangen, dass sich endlich Mal wieder etwas bewegt, das uns tief bewegt oder irri­tiert. +++ Genau das scheint auch der Ruhr­tri­en­nale abzu­gehen, die inzwi­schen mit Rabatten von 15 Prozent wirbt, um ihre Auffüh­rungen jenseits von Chris­toph Martha­lers Insze­nie­rung voll zu bekommen. 

OST-INTEN­­DANTEN WOLLEN BUNDES-HILFE

Kein freier Theater-Eintritt aber Finanz­hilfen vom Bund gewünscht – das sind die Ergeb­nisse der Bühnen-Umfrage von KULTUR. 32 Inten­dan­tinnen und Inten­danten in , und wurden zur Lage ihrer Häuser befragt. Einig­keit herrscht beim Thema Finanz­hilfen durch den Bund. Lutz Hillman, Inten­dant am Deutsch-Sorbi­­schen-Volks­­­theater, argu­men­tiert: „Ja, der Bund sollte in die Thea­ter­fi­nan­zie­rung einbe­zogen werden, damit wir von mögli­chen poli­ti­schen Konstel­la­tionen, die auf Landes­ebene in Kultur eingreifen wollen, unab­hän­giger werden.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Unver­gessen war die Titel­partie der Hamburger Barock-Komödie „Der lächer­liche Prinz Jodelet“ von Rein­hard Keiser – der Bariton Jan Buch­wald hat diese Rolle zu seiner gemacht. Nun teilte die Staats­oper mit, dass Buch­wald im Alter von 45 Jahren gestorben ist. +++ Wir hatten über die neun­jäh­rige Schü­lerin aus Pankow berichtet, die klagte, im Staats- und Dom-Chor zu  (einem Knaben­chor) aufge­nommen zu werden. Nun fiel Urteil des Verwal­tungs­ge­richtes: Das Mädchen muss nicht aufge­nommen werden. Endgültig soll der Fall aber von einer höheren Instanz entschieden werden. +++ Ein neues Gutachten entlastet den russi­schen Regis­seur Kirill Serebren­nikow vom Vorwurf, staat­liche Zuschüsse verun­treut zu haben. Eine erste Hoff­nung, dass der Theater- und Opern-Regis­­seur bald viel­leicht auch wieder bei uns insze­nieren kann. 

Was für eine bewegte Woche – halten Sie die Ohren steif!

Ihr 

Axel Brüg­ge­mann

brueggemann@​crescendo.​de