Willkommen im neuen Klassik-Jahr,
alles, was sicher ist, ist, dass alles unsicher bleibt – der Wandel hat längst begonnen, auch in der Klassik-Welt. Davon ist heute in der Klassik-Woche die Rede.
WAS IST
Andris Nelsons beim Radetzky-Marsch. Nächstes Jahr übernimmt Riccardo Muti das Neujahrskonzert in Wien.
ZUKUNFT DES NEUJAHRSKONZERTES
Sind Sie auch mit Andris Nelsons in das neue Jahr gerutscht, mit neuem Radetzky-Marsch (kaum auffällig), und Purple-Velvet-Zelt-Sakko (sehr auffällig)? Haben Sie auch wieder die vom österreichischen Tourismusverband gesponserten Kitsch-Einspielfilme mit flatternden Beethoven-Noten und einer durch die Gegend hetzenden unsterblich verliebten Dame in rotem Kleid ertragen? Sicher, Tradition ist das größte Kapital der Österreicher, aber auch in Wien klopft die Zukunft an die Tür. Die Rechte für die weltweite Übertragung aus dem Großen Musikvereinssaal am 1. Januar werden übernächstes Jahr von den Wiener Philharmonikern neu ausgeschrieben – nicht ausgeschlossen, dass Medien-Konzerne jenseits des ORF mitbieten. Die Österreichische Fußball-Bundesliga ist mit Live-Spielen ja bereits vom Küniglberg verschwunden. Sicher ist, dass auch die Klassik-Medien in den 20er-Jahren vollkommen neu denken werden.
STREAMEN OHNE ENDE
Und auch der Musik-Konsum hat sich nun endgültig geändert. Das Audio streaming hat sich als umsatzstärkstes Format im deutschen Musikmarkt etabliert. 2019 haben die Music-Streams mit 107 Milliarden zum ersten Mal die 100-Milliarden-Marke geknackt, wie der Bundesverband Musikindustrie bekanntgab. Zum Vergleich: Im Vorjahr generierten die Deutschen noch 79,5 Milliarden, 2017 rund 56,4 Milliarden Streams. Auch die Labels stellen sich inzwischen immer mehr auf das Streaming-Modell ein, obwohl auch hier vollkommenes Neudenken angesagt ist: Viele Orchester wie die Berliner Philharmoniker und einzelne Klassik-Künstler haben schon ihre eigenen Labels.
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Lustvoll – emotional Intuitiv – geistvoll Salzburg – Moderne
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THIELEMANNS NEUES OSTER-FESTIVAL
Auch Christian Thielemann hat uns mit seiner Staatskapelle Dresden im ZDF wieder über die Jahresgrenze dirigiert. 2019 wurde klar, dass Dirigent und Orchester die Salzburger Osterfestspiele verlassen müssen – Thielemanns Vertrag als künstlerischer Leiter der Bayreuther Festspiele ist nicht verlängert worden. Nun hat er ausgerechnet in einem Dresdner Boulevardblatt angekündigt, dass die Staatskapelle und er zukünftig ein Strauss-Festival zu Ostern in Dresden würden abhalten wollen. Was genau besonders daran ist, dass die Kapelle in ihrer Heimat auftritt, ist nicht ganz klar – aber so kommt der Chefdirigent in Zukunft vielleicht wenigstens auf die von ihm vertraglich zugesicherten Dirigate vor Ort.
BLASPHEMIE ODER KUNST?
Olga Neuwirths Oper „Orlando“ an der Wiener Staatsoper hat Ende des letzten Jahres für Furore gesorgt. Nun hat sie ein juristisches Nachspiel: Die Komponistin zitiert in ihrem Werk Martin Gotthard Schneiders Kirchenlied „Danke für diesen guten Morgen“. Nun verbietet der Gustav Bosse Verlag die weitere Verwendung: „Das Lied wird in einer karikierend-entwürdigenden Form dafür verwendet, die Bigotterie in der Gesellschaft darzustellen. […] Das Lied ‚Danke für diesen guten Morgen‘in diesem Kontext zu verwenden, auch wenn dies mit künstlerisch anspruchsvollen Mitteln geschieht, entspricht in keiner Weise den Intentionen des Komponisten Martin Gotthard Schneider.“
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32 x Beethoven – der Klavierpodcast mit Igor Levit
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WAS WAR
STREIK IN FRANKREICH
Der Streik in Frankreich legt auch die Kultur lahm. (Foto: Stephane de Sakutin)
Boah, Frankreich! Das ganze Land liegt lahm – auch das Kulturleben. Eberhard Spreng berichtet für den Tagesspiegel über durchaus kreatives Streiken: „Die kommunistische Gewerkschaft CGT hat zum verschärften Streik an genau drei Abenden aufgerufen, an denen in Paris drei wichtige Premieren stattfinden sollen. Die meisten Theater spielen; nur an der Comédie Française streikt die Bühnentechnik. Vor der alten Garnier-Oper hatte das Ballett bereits streikunterstützend getanzt; das Orchester hatte vor der modernen Bastille-Oper ein Mini-Konzert gegeben, das mit einer Orchesterfassung der ‚Marseillaise‘ endete.“ Fakt ist aber auch: Die Première der Oper „Der Barbier von Sevilla“ an der Opéra National de Paris wurde abgesagt. Ein Umstand, für den nicht alle Verständnis haben. Auch ich halte es mit dem Regisseur Philipp M. Krenn, der gerade ebenfalls in Paris arbeitet und auf seiner Facebook-Seite schreibt: „Mit allem nötigen Respekt vor den Ängsten und Sorgen der Menschen, vor freier Meinungsäußerung und dem Recht auf Streik, frage ich mich dennoch, ob es in einer für das Theater ohnehin schwierigen Zeit die richtige Antwort ist, Vorstellungen abzusagen und die Häuser geschlossen zu halten. Vermag ein stummes Theater wirklich Druck auszuüben?“
OFFENE FRAGEN AN DER KOMISCHEN OPER
Die Sanierungskosten der Komischen Oper in Berlin sollen 227 Millionen Euro betragen. Viel Geld, viel Debatte, berichtet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Inzwischen geht es um die Details. Soll das Haus in den Zustand von 1966 oder in den ursprünglichen Zustand gebracht werden? Was ist mit den gerade sanierten Garderoben? Fragen über Fragen – und Zoff in der Berliner Politik. Die Opposition besteht darauf, dass der Umbau erst los geht, wenn jedes Detail geplant ist, um eine Kostenexplosion wie an der Lindenoper zu vermeiden. „Diesmal dürfen die Sanierungsarbeiten wirklich erst dann losgehen, wenn die vollständigen Bauplanungsunterlagen vorliegen“, betont Sibylle Meister. „Darauf wird das Parlament achten.“ Damit die Substanz des Hauses im Vorfeld umfassend untersucht werden kann, würde sie sogar eine Verschiebung des Baubeginns in Kauf nehmen.
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PERSONALIEN DER WOCHE
Ein bewegendes Interview ist Manuel Brug mit Riccardo Muti gelungen – bei der WELT noch hinter der Paywall, ist es nun in ganzer Länge beim Profil zu lesen. Thema: der anstehende 80. Geburtstag, seine Lieblingsorchester in Chicago und Wien und seine Gedanken über den Tod: „Ich hoffe, ich komme ins Fegefeuer.“ +++ Die Festspiele Zürich können sich nicht mehr finanzieren – 2020 wird das letzte Jahr sein und damit das Ende des Versuches, Luzern Paroli zu bieten. +++ Spannend ein Artikel in der New York Times: Hier fordert Anthony Tommasini Anna Netrebko auf, nicht nur Opern toter Komponisten zu singen. Puccini würde sich wundern, schreibt Tommasini, dass die Netrebko keine Gegenwartsmusik singt. +++ Die amerikanische Sopranistin Linda Watson wird am 19. Januar an der Wiener Staatsoper als Kammersängerin ausgezeichnet. +++ Der Opernsänger Dirk Driesang ist seit jeher weniger durch seine Stimme, als eher durch seine politische Meinung aufgefallen – nun hat das ehemalige AfD-Vorstandsmitglied die Partei verlassen: aus Protest gegen die „Flügelhörigkeit“. +++ Im letzten Jahr war die junge Komponistin Alma Deutscher öfter Thema dieses Blogs – oder besser: ihr Vater. Nun wurde bekannt, dass das Salzburger Landestheater eine Oper bei ihr in Auftrag gegeben hat. Tja.
HOLENDER FÜR DOMINGO
Im CRESCENDO spricht sich der ehemalige Wiener Staatsopern-Intendant Ioan Holender gegen den aktuellen Umgang mit Plácido Domingo besonders in den USA aus – Verträge müssen eingehalten werden, findet er: „Der Bariton gewordene alte Tenor wurde weltweit „verboten“. Er sagt zu seiner Verteidigung, dass in seiner gloriosen Zeit „andere Standards gegolten haben“ und so manches als normal erachtet worden sei, was heute für Aufregung sorge. Er verstehe die heutige Welt nicht mehr. Die unaufgeregte Normalität sagt klar und unmissverständlich, dass abgeschlossene und unterschriebene Theaterverträge sowohl vom Arbeitgeber, als auch vom Arbeitnehmer zu respektieren seien.“ Den ganzen Artikel lesen Sie hier.
ABSCHIED ZWISCHEN DEN JAHREN
Zwischen den Jahren gegangen: Tenor-Legende Peter Schreier
Er war eine Legende und: als Mensch und Stimme unvergleichlich. Der Dresdner Kammersänger Peter Schreier ist nach langer Krankheit gestorben. Ich erinnere mich noch, wie wir gemeinsam auf dem Theaterplatz in Dresden den Geburtstag von Herbert Blomstedt gefeiert haben. Schon da war zu spüren: Peter Schreier war mehr als ein Weltstar, er wurde von seiner Heimatstadt verehrt und geliebt. „Ich lebe von der Erinnerung, aber nicht mit Wehmut, eher vielleicht mit etwas Stolz“ , hatte Schreier kurz vor seinem 80. Geburtstag 2015 gesagt. Ebenfalls zwischen den Jahren verstorben, ist der Regisseur Harry Kupfer – ihm verdanken viele, so wie ich wahrscheinlich, prägende Opernabende, in denen die große Kunst so unendlich menschlich wurde. Joachim Lange ruft ihm in der TAZ mit ostdeutschem Blick nach. Internationalen Ruhm erlangte Kupfer 1978 mit der Inszenierung des „Fliegenden Holländers“ bei den Bayreuther Festspielen. 1988 schuf er dort einen „Ring des Nibelungen“, gemeinsam mit dem Dirigenten Daniel Barenboim. Ebenfalls mit Barenboim gestaltete er ab 1992 an der Berliner Staatsoper sämtliche Werke Richard Wagners. Seine letzte Inszenierung führte ihn 2019 mit Georg Friedrich Händels „Poros“ zurück an die Komische Oper Berlin. Ein Kreis, der sich geschlossen hat.
In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif. Und, bitte, liebe Klassik-Omas: hören Sie endlich auf, im Hühnerstall Motorrad zu fahren!
Ihr