Die Tiroler Festspiele Erl feiern von 4. bis 6. Oktober 2019 Erntedank.
Eine neue Generation begnadeter Musiker
von Ruth Renée Reif
19. September 2019
Auf eine reiche künstlerische Ernte können die Tiroler Festspiele Erl nach einem Festspielsommer mit anregenden Uraufführungen, Wiederentdeckungen und Neuinszenierungen zurückblicken. Mit einem Wochenende voller Musik feiern sie Erntedank. Das einstimmende Programm des ersten Abends lässt freudige Dankbarkeit und melancholische Stimmung über das Ende des Sommers anklingen. Valentin Uryupin steht am Pult des Festspielorchesters. Der aus Russland stammende Dirigent war zunächst weltweit als gefeierter Klarinettist zu erleben, ehe er das Dirigentenpult für sich entdeckte. 2017 gewann er den Dirigentenwettbewerb Sir Georg Solti, und seither dirigiert er in aller Welt. Nach Erl kommt er mit Anatoli Ljadows stimmungsvollem Märchenbild Der verzauberte See und Jean Sibelius« dunkel schwermütiger Erster Sinfonie. Die glutvollen Melodien von Sibelius« Violinkonzert bringt Timothy Chooi, Preisträger des Joseph Joachim Wettbewerbs, aus Kanada zum Klingen.
Steht am Pult des Festspielorchesters:
Valentin Uryupin (© Evgeny Evtyukhov)
Mit vier Konzerten an einem Tag stellen die Festspiele ein neues Format vor, in dessen Rahmen jährlich ein Komponist porträtiert wird. In diesem Jahr ist es Frédéric Chopin. „Von Polen in die Pariser Salons“ beleuchtet einen bedeutsamen Lebensabschnitt des Komponisten, in dem dieser 20-jährig nach Paris aufbrach, um seine Kompositionen zu verbreiten, und sich krank vor Heimweh als Emigrant wiederfand. Chopins Instrument ist das Klavier, und seine Kompositionen versprechen Sternstunden für jeden Pianisten. Der Samstag bietet Gelegenheit, eine neue Generation begnadeter Pianisten kennenzulernen. Mit seinen 12 Etüden Op. 25., dem ehrgeizigsten Werk seiner frühen Pariser Jahre, fand Chopin Eingang in die Szene der Klavier-Titanen und eroberte die Pariser Salons. „Ich bin in der besten Gesellschaft eingeführt, sitze zwischen Botschaftern, Fürsten, Ministern“, schrieb er 1833 an seinen Jugendfreund. Mariusz Kłubczuk, der an der Frédéric-Chopin-Musikuniversität in Warschau studierte, als Solorepetitor an der Frankfurter Oper tätig ist und als Solist, Liedbegleiter und Kammermusikpartner durch Europa tourt, widmet sich Chopins Etüden-Zyklus.
Zeigt ihre Meisterschaft mit Chopins
„Grande Polonaise brillante“: Mariam
Batsashvili (© Josef Fischnaller)
Chopin brachte es in Paris zu Ruhm und Reichtum. Aber die Sehnsucht nach der polnischen Heimat und die Tuberkulose vollzogen ihr schmerzvolles Zerstörungswerk an ihm. Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes und der Russifizierung des so genannten Kongress-Polens unter Zar Nikolaus I. sah er sich vor die Entscheidung gestellt, ob er sich als loyaler Untertan des Zaren erweisen und in der Botschaft des Zaren eine Verlängerung seines polnischen Passes beantragen solle. Sein Vater beschwor ihn, dies zu tun. „Versäume das nicht, ich bitte dich“, schrieb er 1834 in einem Brief. Er wünsche nicht, dass sein Sohn „zu der Zahl der Flüchtlinge“ gerechnet werde. Chopin aber hatte bereits anders entschieden. Damit erhielt er den Status eines Emigranten, und der Rückweg in die polnische Heimat war ihm verwehrt. Mariam Batsashvili aus Georgien, die 2014 den Franz Liszt Klavierwettbewerb in Utrecht gewann und seit 2017⁄18 BBC New Generation Artist ist, zeigt ihre Meisterschaft mit der Grande Polonaise brillante Op. 22. Ihre ausgedehnten, rasenden Läufe und drängenden Tanzrhythmen ließen diese Polonaise zu den anspruchsvollsten Klavierwerken Chopins werden. Ebenfalls auf dem Programm hat Batsashvili Sechs polnische Lieder Op. 24, arrangiert von Franz Liszt, die Chopin, inspiriert von volksliedhaften Motiven, noch in Warschau komponierte.
Musik zu spielen, an die man sich erinnere,
ist das Anliegen von Claire Huangci
(© Mateusz_Zahora)
1842 trat Chopin in eine neue Schaffensphase ein, die gekennzeichnet war von einer besonderen ästhetischen Aura und Ausdruckskraft. Mélodie Zhao aus der Schweiz, die bereits mit 13 Jahren ihr erstes Album dem Werk Chopins widmete, wendet sich den Kompositionen dieses stilistischen Übergangs zu. Sie spielt das Scherzo Nr. 2 Op. 31 und die Ballade Nr. 3 Op. 47, die eine Vielfalt an glanzvollen Farben und Gefühlen aufweisen, sowie die Ballade Nr. 4 Op. 52 und die Sonate Nr. 3 Op. 58, die gekennzeichnet sind von jener neuen Tiefgründigkeit und Erhabenheit. Musik zu spielen, an die man sich erinnere, weil „sie so berührend war“, ist das Anliegen von Claire Huangci. Die Pianistin aus den USA, die schon als Kind mit außergewöhnlicher Virtuosität beeindruckte und 2011 als jüngste Teilnehmerin den zweiten Preis beim ARD-Musikwettbewerb gewann, legte 2017 eine Einspielung mit Chopins Nocturnes vor. Neben den drei Nocturnes Op. 9 bringt sie nach Erl auch die 24 Preludes Op. 28, die Chopin auf Mallorca komponierte. Verbunden durch ein Grundmotiv, stellen sie mit ihrem breitgefächerten Spektrum an Gefühlen und psychischen Zuständen musikalische Erkundungen der menschlichen Seele dar.
Singt Arien aus Richard Strauss'
letzter Oper: die Sopranistin Anna
Gabler (© Milena Schloesser)
Zum Ausklang des Erntedankfests singt in einer sonntäglichen Matinée, begleitet vom Festspielrochester unter Lother Koenigs die Sopranistin Anna Gabler Ausschnitte aus Richard Strauss« letzter Oper Capriccio. Über die weitgeschwungenen Melodien der Orchesterlieder von Joseph Marx schlägt das Programm einen Bogen zu Arnold Schönbergs Pelleas und Melisande. Richard Strauss hatte Schönberg dazu angeregt, eine sinfonische Dichtung zu komponieren. Schönberg verwendet das gewaltige Orchester der Spätromantik. Er steht noch unter dem Einfluss Richard Wagners. Doch kündigen sich in ihm bereits die Moderne und der Weg in die Neue Musik des 20. Jahrhunderts an, und der Kreislauf setzt sich fort. Auf die Ernte folgt die Saat, die wiederum neue Frucht hervorbringt.
Weitere Informationen zum Programm:
www.tiroler-festspiele.at/erntedank