In Situ Art Society
»Ein Feuer, das uns zu Menschen macht«
von Ruth Renée Reif
28. April 2023
Unter dem Motto »Widerstand der Klänge« stellt das Festival für Neue Musik aus der Ukraine vom 9. bis zum 18. Juni 2023 im Dialograum Kreuzung an St. Helena in Bonn Werke zeitgenössischer ukrainischer Komponisten vor.
Mit dem musikalischen Chronisten der ukrainischen Geschichte Jewhen Stankowytsch beginnt das Festival für Neue Musik aus der Ukraine. Veranstaltet von dem Verein In Situ Art Society, werden Werke zeitgenössischer ukrainischer Komponisten vorgestellt wie etwa Alexander Shchetynsky. Seine Akkordeonkomposition For Every City basiert auf einem Gedicht von Gregorius Skoworoda aus dem 18. Jahrhundert. Auf dem Programm steht allerdings sogar die Uraufführung eines neuen Werks von ihm.
Victoria Polevá, die ebenfalls mit einer Akkordeonkomposition sowie mit Gulfstream für Geige und Cello aus dem Jahr 2010 vertreten ist, geriet in den 1990er-Jahren, als die Musikszene sich gegenüber westlichen Einflüssen öffnete, in eine künstlerische Krise. Als Paradigmenwechsel bezeichnet sie die Veränderung, die sich damals in ihrem Œuvre vollzog. „Ich habe Kompositionen geschrieben, die aus riesigen Schichten dunkler Materie bestehen“, erläutert sie. Die Kräfte des Chaos habe sie nachbilden wollen. Dann aber habe sie das Bedürfnis verspürt, den Tumult des Lebens ziehen zu lassen und Ruhe zu finden. „Ich betrat ein Gebiet, in dem ich keinen einzigen Anhaltspunkt hatte, in das ich hineinstürmen musste, um mir einen neuen Weg zu bahnen.“
Das Festival erstreckt sich über sechs Tage und ist nach Genres gegliedert. Nach Kammermusik und insbesondere Streichquartetten an den ersten beiden Tagen folgen elektroakustische Kompositionen von dem Gitarristen und Komponisten Dmytro Radzetskyi, Maxim Kolomiiets sowie den Klangkünstlern Oleh Shpudeiko und Yana Shliabansky. Shpudeiko, von dem Modular Synthes zu hören ist, fühlt sich durch den Krieg in seiner musikalischen Suche aus der Bahn geworfen. Experimentierte er in der Vergangenheit mit subtilen und nuancierten Klängen, so empfindet er solche Mehrdeutigkeiten seit dem russischen Angriff als fremd. „Es gibt kein Flackern mehr, sondern eine lodernde Flamme, die schwarze und weiße Schatten wirft“, betont er. „Dieser Krieg hat eine klare, erschreckend offensichtliche Unterscheidung zwischen Gut und Böse hervorgebracht.“ Die letzten drei Tage sind dem Gesang sowie einem Dokumentarfilm von Serhiy Bukovsky über Valentin Silvestrov gewidmet.
Das Spektrum der Komponisten reicht von der Kiewer Avantgarde bis zur Gegenwart. In den 1960er-Jahren spitzten sich die Gegensätze zwischen den akademischen und avantgardistischen Komponisten zu. Die Generation, die mit neuen Kompositionen hervortrat und sich dafür scharfer Kritik aussetzte, bildete die Keimzelle für die nachfolgende Entwicklung der ukrainischen Musik. Ihr gehörten vor allem die Schüler von Borys Ljatoschynskyi an wie Valentin Silvestrov, Leonid Hrabovsky und Stankowytsch.
Von Hrabovsky, der sich seriellen Kompositionsweisen zuwandte und 1990 in die USA emigrierte, steht Kogda auf dem Programm, bestehend aus neun Miniaturen. Hrabovsky komponierte sie nach Gedichten des futuristischen Poeten Welimir Chlebnikow. Er arbeitet seit den 1960er-Jahren an algorithmischen Kompositionen und hat dafür seine eigenen rhythmischen und polydiatonischen Vokabeln entwickelt.
Adrian Mocanu, der 1989 in Kyiv geboren wurde und bereits zur neuen Generation gehört, schafft durch unkonventionelle Spielweisen traditioneller Instrumente monochrome Klanglandschaften. Auch Maxim Kolomiiets, der mit Radzetsky den KoRa art-cube art space für zeitgenössische Kunst ins Leben rief, zählt zur neuen Generation. Echoes of Drowing Reflections hebt an mit hohen Klängen, um mit einem „tiefen Eintauchen in den Abgrund des Horizonts“ in tiefer Lage mit synchronen Mehrklängen zu enden. Als Übergang der Musik in eine andere Dimension versteht Kolomiiets dieses Ende. Es sei Aufgabe der Musik, „auch etwas Spirituelles zu schaffen“, erläutert er. „Irgendwo tief in uns existiert ein Feuer, das uns zwischen Ratio und Emotion zu Menschen macht.“
Widerstand der Klänge lautet das Motto des Festivals. So ist zum Ausklang Prayer for the Ukraine von Valentin Silvestrov zu erleben. Silvestrov komponierte es als seine Form des Protests im Februar 2014. Durch die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim nahm der russisch-ukrainische Krieg damals seinen Anfang. Vorangegangen war im November 2013 die Weigerung des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen, die Proteste auf dem Maidan auslösten. Dieser Euromaidan, in dem die Protestierenden die Amtsenthebung von Janukowytsch forderten, wurde später als Revolution der Würde bezeichnet.
Weitere Informationen zum Festival für Neue Musik aus der Ukraine, das vom 9. bis zum 18. Juni 2023 im Dialograum Kreuzung an St. Helena in Bonn stattfindet, sowie zu den Ausführenden: www.in-situ-art-society.de