KlassikWoche 35/2020
Bayreuth-Wut, Salzburg-Euphorie und Londoner Proms-Freude
von Axel Brüggemann
24. August 2020
Ein Corona-Zwischenstand, die wirtschaftliche Existenzangst unter Musikstudenten, die Salzburger Festspiele in Corona-Zeiten als weltweites Vorbild
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
heute mit der Frage: Warum wird in der Schweiz und Österreich getan, wovor Deutschland sich noch ziert? Wo beginnt das große Sparen schon jetzt? Warum sind die Fans der Bayreuther Festspiele so wütend? Und wer singt bei den Proms?
PROFI-EINERLEI UND STUDENTEN-STRESS
In den letzten Monaten habe ich persönlich erfahren, wie blank die Nerven liegen: die von Künstlern, Kulturschaffenden – und vielleicht auch meine! Es geht schließlich um alles! Etwas später wird es an dieser Stelle auch darum gehen, dass wieder einiges möglich ist. Dass Veranstalter und Künstler an Lösungen arbeiten, endlich wieder Konzerte veranstaltet werden, fast so wie früher. Doch ein Corona-Zwischenstand zeichnet sich schon jetzt ab: Wenige Superstars treten derzeit einfach überall auf. Anna Netrebko und Jonas Kaufmann sind in Europa gefragt, und beim Reiseplan von Pianist Igor Levit wird einem fast schwindelig: Beethoven in Salzburg, Berlin und Luzern. Aber gibt es wirklich nur so wenige Künstler, und sind sie wirklich unersetzbar? Man wünscht sich mehr Kreativität und Mut, gerade bei großen Veranstaltern. Mutig und kreativ sind viele Musiker, die – unter großen finanziellen Einbußen – alles tun, um auftreten zu können, ja, sogar neue Festivals erfinden wie Wagner bei den Weinviertler Festspielen von Tenor Peter Svensson.
Wie groß die wirtschaftliche Existenzangst und das Gefühl, vom Staat im Stich gelassen zu werden, auch unter Musikstudenten ist, erklärt der neue Dekan der Fakultät Musik an der Universität der Künste, Eckart Hübner, Michael Maier von der Berliner Zeitung. Er spricht darüber, dass viele Studenten aus Corona-Stress aus heiterem Himmel zu weinen beginnen: „Ich habe eine Studentin, die ist allerdings schon fortgeschrittener. Als alles geschlossen wurde, sagte sie: Wunderbar, jetzt kann ich endlich die Stücke in Ruhe einstudieren, die ich immer schon machen wollte. Die kam deutlich verbessert aus der Pause zurück. Andere haben dagegen große Probleme, weil sie den regelmäßigen Unterricht und die Präsenz brauchen. Insgesamt fällt mir aber auf, dass die Studierenden viel öfter zu weinen beginnen in einer Stunde – und nicht nur in einer Stunde, wo es nicht läuft, sondern aus heiterem Himmel. Ich habe das Gefühl, dass der Stress schon sehr groß ist.“
HICK-HACK AN DER CHARITÉ
Stefan Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie der Charité weckte Anfang der Woche große Hoffnungen, als er erklärte: Konzerte seien fast ganz normal wieder möglich – auch ohne Tests. „Die entscheidende Grundlage ist die wissenschaftliche Beurteilung der Wirksamkeit von einem Mund-Nasen-Schutz“, hieß es in seiner noch nicht wissenschaftlich abgeschlossenen Studie. „Wenn man einen solchen Schutz trägt, werden etwa 95 Prozent der Viruslast absorbiert. Das heißt, man selber ist geschützt, und auch das Gegenüber“.
Die Leitung der Charité reagierte genervt: Bei der „Stellungnahme zum Publikumsbetrieb von Konzert- und Opernhäusern während der COVID-19-Pandemie“ handele es sich nicht um ein abgestimmtes Papier, schreibt sie. „Dieses gibt nicht die Position des Charité-Vorstands wieder. Der Entwurf berücksichtigt nicht die aktuelle Dynamik des Infektionsgeschehens und der damit verbundenen Risiken. Das Papier ist daher nicht als Handlungsvorschlag, sondern als Grundlage einer weiteren kritischen Diskussion im Rahmen der Berliner Teststrategie zu betrachten.“
DER DEUTSCHE WEG
Bei der Programm-Präsentation der Berliner Philharmoniker rechnete Intendantin Andrea Zietschmann vor, dass nach derzeitigen Auflagen lediglich ein Viertel der Plätze in der Philharmonie verkauft werden könnten – also 663 Karten pro Konzert. Noch immer gilt die Regel: Streicher halten 1,5 Meter Abstand, Bläser 2 Meter. Daraus errechnet sich bei einer Besetzung mit 21 Bläsern eine Gesamtzahl von 67 Musikern. Mit derartigen Regeln mussten die Berliner Philharmoniker auch bei den Salzburger Festspielen antreten. Die Kollegen der Wiener Philharmoniker spielten indes in voller Größe und mit klassischen Abständen. Dafür werden sie regelmäßig getestet (ähnlich handhaben es die Wiener Symphoniker oder die Tonkünstler). Und es muss eine Frage wert sein, warum das in Deutschland in der Kultur noch nicht der Normalfall ist. Hoffnungsfroh stimmt da, dass Forscher des Uniklinikums Halle-Wittenberg ein großes Konzert mit Pop-Star Tim Bendzko in Leipzig veranstaltet haben. Genauer gesagt, drei Konzerte unter verschiedenen Bedingungen und mit unterschiedlichen Regeln, um Publikumsströme, Kontakte und Sozialverhalten während eines Konzertes zu analysieren und zu überlegen, wie kulturelle Großveranstaltungen in Zeiten von Corona wieder möglich werden.
DER ALPENLÄNDISCHE WEG
Ich war diese Woche bei den Salzburger Festspielen und habe die „Elektra“ gesehen. Ich kannte sie aus dem Fernsehen. Nun aber vor Ort, in der Felsenreitschule: Echtes Orchester (Franz Welser-Möst führte die Wiener sicher durch die Emotions-Gischt von Strauss), echte Sänger (vollkommen neue Elektra-Schattierungen!), echte Regie, echtes Publikum – und dann dieser Sound! Mir war natürlich klar, dass die Oper uns bewegt, aber dass sie so eruptiv sein kann, wenn man sie nach langer Zeit endlich Mal wieder in echt erleben darf, dass sie einem die Tränen ins Gesicht presst, irgendwo aus der Magengrube, das zeigt: Wir müssen alles tun, um Musik zu ermöglichen, müssen jede kreative Idee nutzen, um die Gesundheit von Musikern und Publikum zu schützen, aber so weit wie möglich zu gehen. Die Salzburger Festspiele von Intendant Markus Hinterhäuser machen das diesen Sommer sehr gut (auch, wenn das Publikum noch zögert, und es etwa beim Konzert von Christian Thielemann noch Karten an der Abendkasse gab). Die Festspiele sind zum weltweiten Vorbild geworden. Hier, was Präsidentin Helga Rabl-Stadler dazu sagt:
In einem engagierten Interview mit Christian Berzins in der Aargauer Zeitung erklärt auch der Musikmanager und Verbier-Intendant Martin Engstroem, warum es wichtig ist, jetzt um jeden Preis zu spielen: „Es heißt spielen oder sterben“, und auch beim Lucerne Festival sind wieder ganze Orchester auf der Bühne! Und selbst ein Corona-Zwischenfall am Rande des Grafenegg Festivals gibt Hoffnung: Dort stellte sich heraus, dass Regisseur Robert Dornhelm als Besucher vor Ort war und bei einem Empfang der Landeshauptfrau außerhalb des Festivals. Wenige Tage später wurde er bei einem Routine-Test positiv getestet, und die Behörden reagierten sofort: transparent, mit Informationen und Tests für Menschen, die mit ihm in Berührung gekommen sind. Dann gaben sie Entwarnung: Niemand hatte sich angesteckt. 100-prozentige Sicherheit gibt es dieser Tage sicher nicht, aber Österreich macht vor, wie Opern- und Konzerthäuser zu Orten werden, an denen die höchstmögliche Sicherheit gewährleistet werden kann.
WUT ÜBER BAYREUTHER TICKET-LÖSUNG
Während die Bayreuther Festspiele diesen Sommer im Tiefschlaf waren, hätte das neue Festival Bayreuth Baroque von Countertenor, Regisseur und Produzent Max Emanuel Cenčić eine echte Alternative sein können. Aber auch hier musste man nun vor Corona einknicken: Gekaufte Karten werden verrechnet, neue Karten müssen unter neuen Bedingungen (und für weniger Konzerte) erneut erworben werden. In den sozialen Medien macht sich gleichzeitig große Wut über die neue Regelung der Ticket-Vergabe bei den Bayreuther Festspielen Luft: Die so genannten Wartelisten, durch die jene Wagnerianer bevorzugt werden, die sich regelmäßig um Karten beworben haben, wird nächsten Sommer ausgesetzt. „Bestellunterlagen werden im Januar 2021 ausschließlich an Kunden gesendet, die in der Saison 2020 Tickets erworben, jedoch von der Rückerstattung des Geldes keinen Gebrauch gemacht haben“, heißt es auf der Seite der Festspiele. Der Rest der Karten findet ausschließlich im Online-Verkauf statt. Eine mutige Alternative.
DAS GROSSE SPAREN BEGINNT
Corona ist nicht nur ein gesundheitliches Problem – es wird auch zu einer derzeit unüberschaubaren wirtschaftlichen Krise führen – auch und gerade in den Staatshaushalten. Dort wird gespart werden müssen, und angefangen wird traditionell bei der Kultur. Letzte Woche haben wir bereits über die heimliche Abschaffung des NDR Chores berichtet (ein wunderschönes Unterstützer-Video vom Neuen Knabenchor gibt es hier). Nun lesen wir von eklatanten Einsparungen beim Sender rbbKultur: Weniger Musik, weniger Radio, mehr billiges Internet. Hauptbetroffene sind die freien Mitarbeiter. Die Öffentlich-Rechtlichen beginnen schon jetzt, am Programm zu sparen, es scheint eine Frage der Zeit, wann sie die Axt bei ihren Ensembles ansetzen. Große Einsparungen treffen auch die Kulturberichterstattung beim Schweizer Rundfunk – auch hier soll das billige Online die teuren TV-Produktionen ersetzen.
PERSONALIEN DER WOCHE
Eigentlich soll es eine Hilfsaktion sein: Dirigentin Alondra de la Parra trommelt für Frauen und Kinder in Mexiko. Das „Impossible Orchestra“ wird unterstützt von Flötist Emmanuel Pahud, Geiger Maxim Vengerov, Cellistin Alicia Weilerstein und Hornistin Sarah Willis. Logo, jede Hilfsaktion ist gut, diese aber scheint in erster Linie auch eine PR-Aktion für Alondra de la Parra zu sein, nachdem ihr musikalisches Image ziemlich angeschlagen ist. Kein Wunder, dass der Autor, Regisseur, Clown, Intendant und – äh: Bariton? – Rolando Villazón auch dabei ist und (kein Witz und vielleicht auch gut so: die Klanghölzer im Orchester spielt). Logistische Hilfe bei der Organisation erhält de la Parra übrigens von Sänger Julian Prégardien, der die Klassik-Welt in seinen Korrespondenzen so stolz wie en passant darüber informiert, dass er der neue Mann an der Seite der Dirigentin sei. +++ Es ist beschämend! Wird der Ex-Präsident der Münchner Musikhochschule Siegfried Mauser (in Deutschland wegen sexueller Übergriffe zu einer Haftstrafe verurteilt) nun doch noch dem Knast entgehen? Zunächst vermied er die Inhaftierung in München, indem er nach Österreich ging, nun erklären Mausers Anwälte, dass er an einer Herzkrankheit leide und haftunfähig sei. Nun läuft eine achtwöchige Frist, um die Hafttauglichkeit zu prüfen. Der Bild-Zeitung sagte Mauser: „Aufgrund der jahrelangen hohen Belastung bin ich inzwischen physisch wie psychisch stark angeschlagen. Ich habe in Deutschland keine Gerechtigkeit erhalten!“ Unter seinen Opfern macht sich indes das gegenteilige Gefühl breit: Gibt es am Ende doch keine Gerechtigkeit? +++ Besonders die Agenturen sind von der Corona-Krise betroffen, bei einer der größten Agenturen, bei Asconas Holt kommen nun auch noch Personalprobleme dazu: Direktor Gaetan Le Divelec hat bekanntgegeben, dass er die Agentur aus persönlichen Gründen verlassen wird.
MEIN TIPP
Wie genau die Last Night of the Proms gestaltet wird, ist noch nicht sicher. Im schlimmsten Fall wird sie ein „Geisterkonzert“. Sicher aber ist, dass eine der spannendsten Stimmen unserer Zeit dabei ist. Die südafrikanische Sopranistin Golda Schultz. Ich habe sie getroffen und mich zwei Stunden lang mit ihr über vokalen Enthusiasmus, über die Rolle der Oper in Südafrika, über die Mohren bei Mozart, aber auch über die Stimme an sich, die neue Welt der Oper, über Vorbilder und Legenden unterhalten. Und darüber, welchen praktischen Wert Mathematik hat. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich von diesem Gespräch begeistern lassen.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr