KlassikWoche 49/2021

Bedro­hung der Ukraine, Frank­reich-Feldzug und der Wiener „Don Giovanni“

von Axel Brüggemann

6. Dezember 2021

Oksana Lyniv und die Lage an der ukrainisch-russischen Grenze, Marek Janowski mit französischen Musikern, Barrie Koskys Don Giovanni an der Wiener Staatsoper

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche, 

heute mit einem exklu­siven Inter­view mit über die aktu­elle Situa­tion in der , mit einem kleinen Frank­reich-Feldzug und der noch feuchten Tinte der gest­rigen Barrie-Kosky-Première an der . Und zum ersten Mal mit Play­list zum News­letter! 

MOZART­KU­GELN BANK­ROTT

Mozartkugel von Mirabell

Um ehrlich zu sein: Ich habe sie nie wirk­lich gemocht, und trotzdem dreht es einem schon ein biss­chen den Magen um, wenn man liest, dass Mira­bell, der Hersteller der goldenen Mozart­ku­geln, Insol­venz ange­meldet hat. Aber, hey: Die öster­rei­chi­schen „Schwe­den­bomben“ haben die Pleite auch über­lebt – und im Zwei­fels­fall gibt es ja die eh besseren „blauen Mozar­tu­geln“ von Paul Fürst, von denen einige behaupten, sie seien das wahre Original.

(Übri­gens: Ich habe endlich eine Spotify-Play­list namens „Brüg­ge­manns Klas­sik­up­date erstellt, die Sie beim Lesen begleiten soll, und ich packe als erstes drauf: „Wenn meine Frau eine Mozart­kugel wär“. Die ganze Play­list am Ende des Textes)

OKSANA LYNIV ÜBER DIE BEDRO­HUNG DER KULTUR IN DER UKRAINE 

Sie war Chef­di­ri­gentin in , hat den „Flie­genden Holländer“ der diri­giert und ist Leiterin des Mozart-Festi­vals in ihrer ukrai­ni­schen Heimat, in Lwiw, einst Lemberg. Vor einer Woche hat Oksana Lyniv mich ange­rufen und um ein State­ment für eine Skulptur von Mozart-Sohn Franz Xaver Mozart gebeten (ich habe berichtet). Es gab eine Protest­be­we­gung und Lyniv musste sich am Dienstag im Stadtrat erklären. Das Ergebnis: Die Skulptur von Sebas­tian Schwei­kert darf offi­ziell bleiben.

Ich habe mich exklusiv für diesen News­letter mit der Diri­gentin über ihr Enga­ge­ment unter­halten, darüber, warum die Sowjet­union die musi­ka­li­sche Spur Mozarts so lange unter­drückt hat („Russ­land hatte kein Inter­esse daran, dass die besetzte Ukraine sich nach Westen orien­tiert.“), über den aktu­ellen Kultur-Streit in Lwiw („Die Proteste hatten auch etwas Gutes: Wir haben gemerkt, dass wir als Nation über Kultur und Ästhetik streiten können.“) und über die derzei­tige Militär-Situa­tion an der ukrai­nisch-russi­schen Grenze („Die Bedro­hung durch Russ­land ist groß, und der Streit um Mozart ist deshalb auch ein Streit um die Orien­tie­rung der Ukraine. Mich hat gefreut, dass gerade auch aus der Ost-Ukraine Stimmen kamen, die sich für die Skulptur einge­setzt haben.“) Das ganze Gespräch hier zum Nach­hören – es lohnt sich!

DER KLASSIK CORONA-TICKER 

Während die ersten deut­schen Orchester, wie das Orchester des SWR, beschlossen haben, dass ihre Musi­ke­rInnen geimpft sein müssen, spricht Oliver Wenhold, Stell­ver­tre­tender Vorstands­vor­sit­zender der Deut­schen Orches­ter­ver­ei­ni­gung, mit dem VAN-Magazin über die Probleme zwischen geimpften und nicht geimpften Orches­ter­mit­glie­dern. Immer größer werde der Riss in den Ensem­bles, was sich unter anderem an ganz konkreten Fragen fest­macht: Warum sollen Geimpfte Dienste von Nicht-Geimpften über­nehmen, etwa auf Tour­neen oder Auslands­reisen? Wenhold befürchtet weitere Span­nungen: „Einige Unge­impfte sind auf die Idee gekommen, zu sagen: ‚Wenn ich jetzt so oft extra zum Testen kommen muss, viel­leicht sogar an meinem freien Tag, muss ich dafür extra Dienst­punkte ange­rechnet bekommen, weil es ja arbeits­platz­be­dingt ist.‘“ Die Geimpften würden erwi­dern: „Das kann doch über­haupt nicht sein. Erst lassen die sich nicht impfen, und jetzt wollen sie für die Tests auch noch extra Dienst haben.“ Ein Riss, wie in der Gesell­schaft. +++ Auch die Semper­oper wird ihren Spiel­be­trieb nach Absprache mit dem Säch­si­schen Kultur­mi­nis­te­rium bis zum 9. Januar einstellen. Gleich­zeitig wirbt das Haus in einer Kampagne mit dem Motto „Impfen schützt auch die Kultur“, was bei einigen Mitglie­dern der Staats­ka­pelle zu Miss­stim­mung geführt haben soll (das ist auch daran zu sehen, dass der Slogan unter dem Logo von Oper und Ballett, nicht aber vom Orchester veröf­fent­lich wurde.)

6.000 Abon­nenten habe allein die Oper im letzten Lock­down verloren, Opern­in­ten­dant Bernd Loebe wirft in einem Brand­brief an den hessi­schen Minis­ter­prä­si­denten Volker Bouf­fier die Frage auf, ob die Oper sich davon jemals wieder erholen wird, sieht ein ganzes System öffent­li­cher Kultur­ein­rich­tungen gefährdet und fordert deshalb, auch künftig zwischen Frei­zeit­ein­rich­tungen und Kultur­in­sti­tu­tionen zu unter­scheiden und die diffe­ren­zierten Hygie­ne­kon­zepte vieler Bühnen nicht gering zu schätzen. +++ Neue Klagen: „Ich will das so nicht akzep­tieren“, sagt der Geschäfts­führer von München­Musik, Andreas Schessl, und geht juris­tisch gegen die neuen Corona-Regeln des Frei­staats Bayern vor. Konkret stößt sich Schessl an einer „Schlech­ter­stel­lung der Konzerte gegen­über der Gastro­nomie“. +++ Corona verwan­delt inzwi­schen viele Kultur-Insti­tu­tionen zu medi­zi­ni­schen Stütz­punkten: Die in wurde Impf­zen­trum, das Haus Wahn­fried in ist neuer­dings auch Test­zen­trum mit beson­ders langen Öffnungs­zeiten (Mo-Sa 6:00–21:00, So. 14:00–21:00) 

JANOW­SKIS KLEINER FRANK­REICH-FELDZUG

Unter Musi­ke­rInnen kursiert derzeit ein kleines Film­chen (einfach auf das Bild oben klicken), das den Diri­genten bei Proben mit einem fran­zö­si­schen Orchester zeigt. Gespielt wird deut­sche Romantik. Der Diri­gent echauf­fiert sich dabei vor den Musi­kern auf Deutsch über den Orches­ter­klang: „Wann habt Ihr das zuletzt gespielt – vor dem Ersten Welt­krieg? Das ist ja grau­en­haft!“, und am Ende: „Fran­zö­si­sches Reper­toire nützt nix.“ Okay, auch wenn sich poli­tisch korrekt anders anhört – das ist schon ein biss­chen lustig! Auf meiner neuen Play­list: natür­lich – Janowski mit Debussy! 

WER ZAHLT FÜR KULTUR-VERSPRE­CHUNGEN IN BERLIN?

Auch nach der Wahl in bleibt Klaus Lederer von der Linken Kultur­se­nator. Seine nächste Amts­zeit könnte schlecht für die großen Kultur­in­sti­tu­tionen wie die Deut­sche Oper oder Staats­oper sein. Die neue Koali­tion hat nämlich beschlossen, das Verhältnis von insti­tu­tio­neller Dauer­för­de­rung einer­seits und der Unter­stüt­zung der Freien Szene ande­rer­seits zu über­prüfen, und zwar „im Sinne größerer Förder­ge­rech­tig­keit“, was bedeutet, dass freie Projekte wohl mehr und große Insti­tu­tionen wohl weniger geför­dert werden.

Geld sei auf jeden Fall da, um die „film­freund­liche Stadt“ zu schaffen (unter anderem eine zentrale Anlauf­stelle für Dreh­ge­neh­mi­gungen), Programm­kinos werden „dauer­haft gesi­chert und gestärkt“. Leer­ste­hende Landes­lie­gen­schaften sollen vorrangig für Kultur genutzt werden, berichtet der Tages­spiegel. Biblio­theken werden als „Dritte Orte“ stadt­weit ausge­baut, die Planung des Neubaus einer Zentral- und Landes­bi­blio­thek soll 2026 beginnen. Für Unter-21-Jährige wird ein Jugend­kul­tur­ti­cket geschaffen.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Der Dirigent Yannick Nézet-Séguin

Wir haben uns an dieser Stelle immer mal wieder darüber gewun­dert, dass merk­würdig passiv war, als sein Orchester an der MET in New York mehr oder weniger raus­ge­schmissen wurde. Nun erklärte der Diri­gent, dass er eine Auszeit brauche und sich vier Wochen zurück­ziehe – viel­leicht auch Zeit, um darüber nach­zu­denken, ob die Ansamm­lung all seiner Jobs noch in Einklang zu bringen ist mit all der Verant­wor­tung, die sie mit sich bringen. +++ Das war‘s: Angela Merkel ist mit Nina und „Gotteslob“ verab­schiedet worden, und damit endet auch eine Ära der Klassik-Kanz­ler­schaft. Ihr Vorgänger, Gerhard Schröder, (er war der erste amtie­rende Kanzler bei den Bayreu­ther Fest­spielen) umgab sich lieber mit Bildenden Künst­lern wie oder Markus Lüpertz. Merkel liebte es, nach Konzerten auf einen Rotwein in den Künst­ler­be­reich zu kommen und zu fach­sim­peln. , und Simon Rattle waren von ihr angetan. Ein aktu­eller Sammel­band porträ­tiert Merkel nun auch ganz offi­ziell als „Kultur-Kanz­lerin“. 

Sophie de Lint war bis 2018 Opern­di­rek­torin in Zürich, seither ist sie Inten­dantin am Musik­theater – die Neue Zürcher Zeitung handelt sie als große Favo­ritin bei der Nach­folge von Zürich-Chef . Ich wäre da ja nicht so sicher. +++ In Bayreuth gab es Zoff wegen seiner Täto­wie­rungen, in New York wurde Bass­ba­riton nun aus der „Tosca“ geworfen – angeb­lich aus gesund­heit­li­chen Gründen, aber in Wahr­heit ginge es um etwas anderes, orakelt Normann Lebrecht.

KOSKYS DON GIOVANNI

Bühnenbilder zu Barrie Koskys Inszenierung von "Don Giovanni" an der Wiener Staatsoper

Ich hatte gestern das Privileg, als Jour­na­list trotz Lock­down bei der „Don Giovanni“-Première von an der Wiener Staats­oper anwe­send sein zu dürfen. Zu Hause in Berlin wird immer offen­sicht­li­cher, dass die Ära Kosky beson­ders das Orchester der Komi­schen Oper in einem mäßigen Zustand hinter­lässt. Dass der alte Inten­dant nicht wirk­lich gehen will und die „von ihm einge­setzten“ Nach­folger den Spiel­plan in weite Zukunft hinaus geplant haben, machen die Suche nach einer neuen Chef­di­ri­gentin oder einem neuen Chef­di­ri­genten immer schwie­riger – ein Job, der wie eine heiße Kartoffel abge­lehnt wird. Wurde er nun auch Giedre Šlekytė hinter­her­ge­worfen, die in Berlin gerade „Katja Kaba­nova“ diri­giert hat? Wie dem auch sei: Ich hatte mich auf den „Don Giovanni“ wirk­lich gefreut. Leider fiel Kosky nicht viel ein, quasi die Entrüm­pe­lung aller Mythen in einer Stein­wüste, ein biss­chen „Sommer­nachts­traum“ (grüne Pflanzen und rankende Kopf­be­de­ckungen), ein biss­chen „Hamlet“ (Komtur) und ein biss­chen „Elektra“ (dafür war die Donna Elvira zu stimm­schwach) wollte Kosky zeigen. Heraus gekommen ist erstaun­lich viel unmo­ti­vierte Bühnen­ak­tion, für Kosky erschre­ckend holp­rige Auf- und Abgänge, ein voll­kommen sinn­loser Wasser-Tümpel und ein mauer, lauter Abend, dem auch Diri­gent keine Kontur geben konnte. Dafür, dass wir es mit der Wiener Staats­oper zu tun hatten, war das junge und durchaus spiel­freu­dige Ensemble einfach viel zu schwach besetzt. Aber eine Staats­oper-Première ist nun mal kein Opern­stu­dien-Abend. Aufhor­chen konnte man allein bei der kunst­voll gestal­teten großen Don-Ottavio-Arie von .

Inten­dant Bogdan Roščić gelingt es noch immer nicht, seinem Haus eine Rich­tung zu geben, und er scheint intern auch immer mehr Rück­halt zu verlieren. Ausge­rechnet die haben Roščić und Opern-Chef Phil­ippe Jordan am Premieren-Vormittag mit einem Konkur­renz-Stream der Neunten Mahler-Sinfonie mit Jordan-Vorgänger Franz Welser-Möst ein Ei der Sonder­klasse in den Opern-Niko­laus-Sack gelegt. Harmonie am Ring sah schon mal anders aus. Und muss nicht gerade in diesen Zeiten jeder Abend auch etwas wollen, eine Behaup­tung aufstellen? Wer ausge­brannt ist, könnte doch einfach mal zur Seite treten, neue Gedanken sammeln und Leute ranlassen, die etwas zu sagen haben. 

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

 „Ein Herz für Kinder“ mit Olaf Scholz

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Momentan eher nicht im Zweiten Deut­schen Fern­sehen. Haben Sie gesehen, wie der desi­gnierte Bundes­kanzler Olaf Scholz am Ende von „Ein Herz für Kinder“ in trauter Einig­keit neben Mathias Döpfner (Wie war das noch mit dem „DDR-Staat“?) steht und natür­lich auch (gemeinsam mit Götter­gattin) seinen obli­gaten -Werbe-Abo-Auftritt absol­viert? Gerade war er noch beim uner­träg­lich schla­ger­se­ligen Advents­kon­zert aus zugegen, und – wer weiß – viel­leicht wird er bei der weih­nacht­li­chen Jonas-Kauf­mann-ZDF-PR-Show ja auch noch mal auftau­chen. Egal, lassen wir uns die Vorweih­nachts­zeit nicht durch vermiesen.

Ich habe auf Disney+ die wunder­bare Beatles-Doku-Serie „Get Back“ gesehen: Sechs Stunden intime Einblicke in die Jam-Session mit den Beatles, bei denen noch mal klar wird, dass die vier echte Klas­siker waren, und dass ohne wohl gar nichts gegangen wäre. Von ihm stammt – glaube ich – auch der wunder­bare Satz – „Wir subven­tio­nieren mit unseren Alben immerhin “. Unbe­dingt anschauen! Ach so, und für Wagne­rianer lohnt es sich viel­leicht beim Cosima-Wagner-Advents­ka­lender von Monika Beer aus dem Wagner-Verband Bamberg vorbei­zu­schauen. (Benjamin Britten habe ich natür­lich auf die Play­list gepackt!)

In diesem Sinne: Einen frohen Niko­laus-Tag, und halten Sie die Ohren steif!

Ihr 

brueggemann@​crescendo.​de 

Und hier noch mal die neue Play­list, die jede Woche, je nach unseren Themen weiter wachsen wird – gern abon­nieren.