Tenöre
Die Ritter des hohen C
16. Juli 2021
Mit Enrico Caruso begann im 20. Jahrhundert der Siegeszug der großen Tenöre. Bis heute setzen sie ihn zwischen Medialisierung und Kommerz, zwischen Heroisierung und Spott unaufhaltsam fort.
Liegt die Betonung von Tenor auf der ersten Silbe, ist der Kern einer Argumentation gemeint oder die konkrete Konsequenz, die sich aus der Entscheidung des Gerichts ergibt. Liegt die Betonung auf der zweiten Silbe, geht es um die hohe männliche Gesangsstimme beziehungsweise den Sänger. Vielleicht sind das nur zwei Seiten einer Medaille, war doch schon der Tenor in der frühen Mehrstimmigkeit des Mittelalters als „cantus firmus“ gegenüber dem Contratenor die wichtigste und tiefste (!) Stimme, an der sich die anderen Stimmen orientierten. Die spöttisch „Ritter des hohen C“ genannten Tenöre werden an der Wiener Staatsoper wie die Dirigenten ehrfurchtsvoll als Maestro tituliert, verdienen auch die meiste Gage von allen Sängern. Oder wie es so schön in einem Witz heißt: „Wie viele Tenöre braucht es, um eine Glühbirne einzuschrauben? Einen. Er hält sich an der Birne fest und wartet, bis die ganze Welt sich um ihn dreht!“
Mit Enrico Caruso (1873–1921) begann im 20. Jahrhundert der Siegeszug des Stimmfachs, und dank der Erfindung von Grammofon und Film auch die Medialisierung des Tenors als des Inbegriffs eines Sängers. Die ersten „drei Tenöre“ waren wohl Lauritz Melchior und Beniamino Gigli, die beide am 20. März 1890 geboren wurden, sowie Richard Tauber, der ein Jahr später das Licht der Welt erblickte. Der junge Gigli gilt als das Urbild eines „tenore di grazia“ mit einer „ganz weichen, sanften Stimme mit dolcezza, also süß, ohne süßlich zu sein“, so Jürgen Kesting in der zwölfteiligen Fernseh-Serie „Belcanto, die Tenöre der Schellackzeit“. Tauber war der Tenor Franz Lehárs, aber in seinen Anfängen – er debütierte 1913 als Tamino – auch ein wunderbarer Mozart-Tenor; mit Ottavio beschloss er 1947 im Exil seine Karriere. Hinzu kommt Leo Slezak (1873–1946), der wie Gigli in seinen späten Jahren eine bemerkenswerte Karriere als singender UFA-Schauspieler absolvierte.
Unverwechselbares Timbre, Gestaltungskraft und Charisma
Heute findet mehr denn je eine Spezialisierung statt, muss man die verschiedenen Stimmfächer unterscheiden: die lyrischen und die Heldentenöre, die italienischen, französischen und die Rossini-Tenöre, also eben die „tenore di grazie“. Natürlich gibt es immer wieder Überschneidungen und etliche Sänger, die lyrisch anfangen und dann im Heldenfach ihre größten Erfolge feiern. Und dann ist die Frage, welcher der folgenden ein „großer“ Tenor genannt werden darf. In jedem Fall einer mit einem unverwechselbar charakteristischen Timbre, Gestaltungskraft und ja – Charisma! Dieser Essay ist – vor allem, was die live erlebten Tenöre seit den 1970er-Jahren angeht – eine subjektive Annäherung.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde er plötzlich Wirklichkeit, der Tenor, den Richard Wagner zeit seines Lebens für seinen Tannhäuser, Siegfried und Tristan gesucht hat, an deren stimmliche und physische Kraft er geradezu unmenschliche Anforderungen stellte. Nun debütierte da ein gerade mal 28-Jähriger in seiner Heimatstadt Kopenhagen als Tannhäuser und in Bayreuth 1924 während der ersten Nachkriegsfestspiele als Siegmund und Parsifal. Lauritz Melchior (1890–1973) war der erste, bis heute vielleicht unerreichte Heldentenor. Ihm stand – nicht nur in Bayreuth – dann Max Lorenz (1901–1975) zur Seite.
Weitere bedeutende Heldentenöre waren Franz Völker (1899–1965) oder Ludwig Suthaus (1906–1971) – legendär sein Stolzing von 1943 aus Bayreuth, der Furtwängler-Tristan von 1952 oder sein Siegmund. Fast gleich alt waren der früh verstorbene Bernd Aldenhoff (1908–1959), Ramón Vinay (1911–1996) und der gleichaltrige Hans Beirer (1911–1993) oder Wolfgang Windgassen (1914–1974). Er prägte wie kein anderer Neu-Bayreuth mit allen großen Tenorpartien Wagners, beginnend mit seinem Parsifal 1951 und Tannhäuser und von 1957 bis 1970 immer wieder als Tristan neben Birgit Nilssons Isolde. Dabei debütierte der 25-Jährige einst als Pinkerton in Madame Butterfly. Sein Tenor war nie ein veritabler Heldentenor, aber in Klang wie physischen Reserven außerordentlich.
Wer seinen ersten Ring als 14-Jähriger mit Jean Cox (1922–2012) an der Bayerischen Staatsoper erlebte, der als lyrischer Tenor in Kiel angefangen hatte, später aber nicht nur dank seines Aussehens „Tarzan in C‑Dur“ genannt wurde, dann mit James King (1925–2005) den ersten Kaiser in der Frau ohne Schatten und den ersten Parsifal 1979 und später alle Wagner-Partien mit René Kollo (*1937) und Siegfried Jerusalem (*1940) in Bayreuth, der wird das nie vergessen, so unterschiedlich diese jugendlich heldischen (und nie veritable Helden-)Tenöre auch waren! King war mit einer herrlich männlich und doch obertonreich silbrig leuchtenden Stimme gesegnet, ganz anders das erdige, ausdrucksgesättigte Timbre des Kanadiers Jon Vickers (1926–2015), unerreicht als Tristan an der Seite von Birgit Nilsson, Peter Grimes oder Otello, aber auch mit dem Aeneas in Les Troyens unter Colin Davis auf Platte. Kollo wiederum hatte im Fernsehen – nicht zuletzt in der Operette – eine enorme Präsenz, war er doch der Enkel Walter und der Sohn Willi Kollos, zweier prominenter Vertreter der Berliner Operette. Legendär sind seine Studioeinspielung des Tannhäuser (in der reinen Pariser Fassung!) und Parsifal unter Georg Solti.
Mit subtil dramatisch leuchtender Stimme
Der erste Wagner-Tenor an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert war Robert Dean Smith (*1956), der 1997 in Bayreuth als Stolzing debütierte. Unvergessen sein Tristan von 2005 bis 2012 als einer der wenigen, der die Fieber-Fantasien im dritten Aufzug wirklich singen und nicht mehr oder minder im Sprechgesang stammeln konnte, oder der mit nur 51 Jahren gestorbene Johan Botha (1965–2016). Unter den Tenören der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war er einer der universellsten. Schon dank seiner Körperfülle nie ein großer Darsteller, vermochte er mit einer ungemein subtil dramatisch leuchtenden Stimme die unterschiedlichsten Partien zwischen Wagner, Verdi, Puccini und Strauss höchst überzeugend zu verkörpern. Stefan Vinke (*1966) wiederum besitzt mit seiner unverwüstlichen konditionsstarken Naturstimme dem Urteil seiner Lehrerin Edda Moser nach „die Kraft der sieben Ochsen“.
Und dann ist da Jonas Kaufmann (*1969). Schon der 30-Jährige faszinierte als jungenhaft schüchterner, aber in seiner Leidenschaft glühender Alfredo in Stuttgart oder als Mozarts Titus in Klagenfurt. 2005 war er noch Tamino der Bayerischen Staatsoper, dann folgte hier fast das ganze italienische Repertoire, heute ist er dort ein introvertierter, mit seiner Eifersucht nach innen implodierender Otello. Seit Lohengrin (2009) bildet er mit Anja Harteros an der Bayerischen Staatsoper ein Traumpaar; beide krönen dies zu den diesjährigen Opernfestspielen mit ihrem Debüt als Tristan und Isolde. Ein Jahr älter ist Stuart Skelton, ein Jahr jünger Klaus Florian Vogt. Er ist mit seinem fast knabenhaft hellen, manchmal wie asexuell wirkenden, aber wunderbar klarem Timbre der perfekte Kontrast zu Kaufmann – und bis heute nicht nur in Bayreuth allzeit präsent.
Exzeptionell im Fach der Charakter- und Buffo-Tenöre war Gerhard Stolze (1926–1979), gestorben mit 53! Mit seiner ungemein gleißend und herrlich leuchtenden Stimme verkörperte er einen legendären Loge im Rheingold, David in den Meistersingern, Strauss« Herodes und ist unerreicht in der Titelpartie von Orffs Oedipus seit der Uraufführung 1962. Gerhard Unger (1916–2011) beglückte in Buffo-Partien zwischen Mozart und Wagner mit großer Charakterisierungs- und Schauspiel- neben feiner Sangeskunst wie später Heinz Zednik (*1940) als einzigartiger Mime und Loge im Chéreau-Ring! Nicht vergessen seien englische Tenöre wie Peter Pears (1910–1986), Philip Langridge (1939–2010), Robert Tear (1939–2011) und der ebenfalls britische große Liedsänger Ian Bostridge (*1964).
Anton Dermota (1910–1989) war der Tenor im legendären Mozart-Ensemble der Wiener Staatsoper. Rudolf Schock (1915–1986) wurde in seinen späteren Jahren auch im Fernsehen die Allzweckwaffe als Operetten-Tenor, hatte aber schon unter Rudolf Kempe 1956 mit 41 einen grandiosen Stolzing im Studio gesungen. Der zehn Jahre jüngere Schwede Nicolai Gedda (1925–2017) ist zwar auch mit vielfältigen Operettenaufnahmen berühmt geworden, aber, zu Hause in einem halben Dutzend Sprachen, konnte er zugleich im französischen Repertoire exzeptionell erfolgreich singen, so 1964 den Don José neben Maria Callas als Carmen im Studio. Ihm ähnlich, aber längst nicht so vielseitig, war der zwei Jahre jüngere Alfredo Kraus.
Natürlich strahlendes Timbre
Vorbild für Generationen lyrischer Tenöre: der Lied‑, Opern- und Oratorien-Sänger Fritz Wunderlich (1930–1966) mit seinem so natürlich strahlenden Timbre und einem differenzierten Ausdrucksspektrum. Mit 36 Jahren starb er an einem tragischen Unfall. Peter Schreier (1935–2019) war sein Antipode, der nie seine Ausdruckskraft und Sinnlichkeit erreichte. Francisco Araiza (*1950), in den 1970er- und 1980er-Jahren gefeierter Mozart-Sänger, drängte zu früh ins schwere (Wagner-)Fach, der wenig jüngere Deon van der Walt (1958–2005) wurde auf dem Höhepunkt seiner Karriere mit 47 tragisches Opfer eines Familiendramas, Christoph (*1956) und vor allem sein Sohn Julian Prégardien (*1984) sowie Joseph Kaiser (*1977) sind hier noch zu nennen, außerdem Daniel Behle (*1974), Bayreuths David und bald in der Tauber-Partie des Octavio in Lehárs letzter Operette Giuditta an der Bayerischen Staatsoper zu hören, sowie Charles Castronovo (*1975). Der Sohn sizilianischer und ecuadorianischer Eltern singt Gluck, Mozart und französisches Repertoire stilistisch untadelig, aber mit viriler Attacke!
Und dann sind da die Slawen jenseits eng gesteckter Fachgrenzen: etwa der Pole Piotr Beczała (*1966), Bayreuths aktueller Lohengrin und bald Cavaradossi an der Bayerischen Staatsoper, der Tscheche Pavel (*1974), gerade Max im Freischütz an der Bayerischen Staatsoper, oder der Slowake Peter Dvorský (*1951) und sein Nachfolger, der heute 41-jährige Pavol Breslik (*1979). Er sang erstmals mit 27 in München den Tamino, dem Mozarts Idamante, Ottavio und Belmonte folgten; immer wieder war er Lenski in Eugen Onegin und eroberte sich stetig Donizetti-Partien – bezaubernd als naiver Nemorino, aber auch als Gennaro in Lucrezia Borgia mit Edita Gruberová und zuletzt Edgardo in Lucia di Lammermoor mit Diana Damrau – bis hin zu verschiedenen Strauss-Partie.
Die Donizetti- und Rossini-Tenöre sind ähnlich rar wie die Heldentenöre. Pavarotti (1935–2007) war (auch) einer, wenn auch nicht im engeren Sinne. Heute könnte man mit Einschränkung Gregory Kunde (*1954), vor allem die wesentlich jüngeren US-Amerikaner Lawrence Brownlee (*1972), den gleichaltrigen Rolando Villazón in seinen Anfangsjahren und vor allem den ein Jahr jüngeren Juan Diego Flórez dazuzählen. Man höre nur das Debüt-Soloalbum des 31-jährigen Villazón mit italienischen Arien unter der berückenden Leitung des so früh verstorbenen Marcello Viotti (1954–2005), erinnere sich an Alfredo an der Seite Anna Netrebkos 2005 in Salzburg oder an Liederabende mit barockem Repertoire im Münchner Prinzregententheater. Schade, dass Überforderung und zu schweres Repertoire seiner Gesangskarriere so früh ein Ende bereiteten. Flórez war da klüger und erweiterte sein Repertoire bedächtig, was seiner anfangs etwas unerotischen Stimme sinnliche Fülle verlieh, ohne an Höhenglanz einzubüßen.
Die beiden US-Amerikaner Bryan Hymel (*1979) und der ein Jahr später geborene Michael Spyres sind mit allen Facetten eines hohen französischen Tenors gesegnet, besitzen gleichwohl ein sinnlich vibrierendes Brust-Register. Spyres ist in diesem Jahr Mozarts Don Ottavio in Salzburg. Brandon Jovanovich (*1970) tritt als Bacchus in Ariadne und Kaiser in Frau ohne Schatten in München in die Fußstapfen Kings und Bothas. Einzigartig und keinem Fach zuzuordnen: der Schwede Jussi Björling (1911–1960). Noch kurz vor seinem Tod mit 49 Jahren besaß er eine vollkommen intakte, ausnehmend schöne Stimme.
Und dann sind da rein italienische Tenöre wie Mario del Monaco (1915–1982) und die beiden sechs Jahre jüngeren Kollegen Giuseppe Di Stefano (1921–2008) und Franco Corelli (1921–2003). Der um einiges jüngere Luciano Pavarotti ist nicht zuletzt durch seine Einspielung der Bohème mit Mirella Freni unter Karajan von 1972 zur Legende geworden, eine Partie, die ihn Zeit seines Lebens begleitete. Er war ein strahlender C‑Tenor wie nur wenige, mit unverwechselbar hell-metallisch vibrierendem Timbre. Daneben machten Karriere die fast gleichaltrigen Franco Bonisolli (1937–2003) und Giacomo Aragall (*1939), Neil Shicoff (*1949), vor allem aber der Spanier Plácido Domingo (*1941) mit schier gigantischem Repertoire. Er begann als Bariton, debütierte aber mit 20 als Alfredo in La Traviata in Mexiko. Mittlerweile 80 Jahre alt, singt er heute wieder im Bariton-Fach, etwa gerade mit immer noch betörendem, so charakteristischem Timbre den Padre Germont in der Traviata am Münchner Nationaltheater. Zusammen mit José Carreras (*1946) bildeten Pavarotti und Domingo „Die drei Tenöre“ in den römischen Caracalla-Thermen anlässlich der Fußball-WM 1990 mit dem später meistverkauften Klassikalbum aller Zeiten.
Eine Generation später geboren sind Ramón Vargas (*1960), der italienisch-französische Tenor Roberto Alagna (*1963) und der ein Jahr ältere Argentinier Marcelo Alvarez. Sein klug konzipiertes Bellini/Donizetti / Verdi-Album von 1998 ist noch immer eine großartige Visitenkarte. Der heute 43-jährige Malteser – oder besser Gozoaner – Joseph Calleja hat sein erstes Soloalbum 2003 als 25-Jähriger aufgenommen und beglückt nach wie vor mit einer fein vibrierenden Stimme, die wie aus der Zeit gefallen scheint. Der sieben Jahre jüngere Franzose Benjamin Bernheim (*1985) wird zu Recht als der neue Stern am Tenor-Himmel gefeiert – ob als Gounods Faust oder im Dezember 2019 in München als vielschichtiger Herzog im Rigoletto mit einem tenoralen Zauber, dass man diesem Schwerenöter alles verzeiht. Im Herbst singt er an der Hamburgischen Staatsoper Hoffmann. Und so wird die Geschichte der Tenöre des 20. und 21. Jahrhunderts also fulminant fortgeschrieben.
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Ein Gespräch mit Klaus Florian Vogt unter: CRESCNDO.DE