KlassikWoche 35/2022

Den Vorhang hoch für viele Fragen

von Axel Brüggemann

29. August 2022

Die Skandale am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, Plácido Domingos erotisches Date in Argentinien, Bogdan Roščićs große Rehabilitation von Anna Netrebko.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

was für ein Sommer: Die Bayreu­ther Fest­spiele haben gezeigt, dass wir immerhin noch heftig über Oper streiten können, die Bregenzer Fest­spiele, dass man allabend­lich 8.000 Menschen mit Oper locken kann, das Schleswig-Holstein Musik Festival, dass Klassik allge­gen­wärtig sein kann, das Lucerne Festival, dass auch der Glamour Heraus­for­de­rungen anpa­cken kann und die Sommer­saison in , dass es auch Orte (ein Publikum und Spon­soren) gibt, die sich gern im Gestern verbar­ri­ka­dieren. 

Wer holt Kai-Uwe im Wies­ba­dener Spie­le­pa­ra­dies ab?

Pressekonferenz Wiesbaden

Alles hat als Running-Gag in diesem News­letter begonnen. Während der Corona-Pandemie haben wir regel­mäßig über das Hessi­sche Staats­theater Wies­baden berichtet, darüber wie der Inten­dant (dem wir sogar den neuen Namen Kai-Uwe Laufen­berg geschenkt haben) mit auto­ri­tärem Furor regiert hat, wie er Berichte von kriti­schen Vor-Ort-Jour­na­listen verhin­dern wollte und selbst Jour­na­listen von weit weg als „Para­siten“ beschimpfte. Die Konse­quenz: Erst kündigte der integre GMD Patrick Lange, dann sollte auch Laufen­berg nicht mehr verlän­gert werden. Doch vor seinem Abgang lässt er es nun noch mal richtig krachen!

Der zweite Alpha-Mann des Hauses, Holger von Berg, den Laufen­berg selber aus Bayreuth geholt hatte, soll den jüdi­schen Orches­ter­di­rektor Ilia Jossifov offen­sicht­lich gern unter einem „Haken­kreuz-Plakat“ zusam­men­ge­staucht haben (es handelte sich um einen nicht veröf­fent­lichten Entwurf zur Programm­reihe „Diskurs Bayreuth 2017“). Die Bild-Zeitung nahm das Thema auf, und Laufen­berg nutzte die Chance, alle „Schwarzen Peter“ des Hauses in die Hand seines Geschäfts­füh­rers, Holger von Berg, zu legen. Fakt ist, dass beide Herren das Haus in ihrem doppelten Ego-Wahn in Grund und Boden gerockt haben – ein Trau­er­spiel auf Kosten von Steu­er­zah­lern. Das VAN Magazin hat die Historie dieser Geschichte recht gut beschrieben. 

Wem Katha­rina Wagner eine pfef­fert

Katharina Wagner

Auch bei den Bayreu­ther Fest­spielen herrschten zuweilen absurde Verhält­nisse. Ein älterer Gene­ral­mu­sik­di­rektor hat Fest­spiel­lei­terin einmal in ein Probe­zimmer geschlossen, jemand anderes ihr betrunken Eiswürfel in den Ausschnitt geworfen, ein dritter ihr an den Po gefasst. All das erzählt sie nun dem Spiegel und erklärt, dass sie sich gegen persön­liche Über­griffe auch schon mal wehrt, indem sie jemandem eine „pfef­fert“, außerdem arbeite sie seit Jahren struk­tu­rell daran, dass derar­tige Über­griffe in Bayreuth nicht mehr statt­finden. Über­haupt sei ein grund­le­gender orga­ni­sa­to­ri­scher Wandel der Fest­spiele exis­ten­ziell, sagt Wagner: mehr Spon­soren und vor allen Dingen ein grund­le­gender Wandel der Träger-Struk­turen – davon mache sie ihre Vertrags­ver­län­ge­rung über 2025 hinaus abhängig. 

Two Tenors: Pava­rotti und Domingo

Tja, so spielt das Leben. Oder der Tod. Während posthum einen Stern auf dem Walk of Fame in Holly­wood bekommen hat, hat – mal wieder – die Vergan­gen­heit einge­holt. Nach den #metoo-Vorwürfen wird es einfach nicht mehr still um den ehema­ligen Tenor. Nun wurden Tonband­auf­nahmen aus Argen­ti­nien veröf­fent­licht, auf denen Domingos Stimme zu hören ist, wie er ein eroti­sches Date arran­giert, sodass sein Manage­ment es nicht mitbe­kommt. Was er nicht wusste: Es handelte sich bei der Anru­ferin um Susana Mende­lie­vich, die bei einer Sekte für den Finan­zie­rungs­zweig „VIP Geisha“ verant­wort­lich gewesen sein soll. Früher war sie als Pianistin und Kompo­nistin tätig – nun wurde sie auf Domingo ange­setzt.

Das VAN-Magazin verweist zu Recht darauf, dass Domingo in Argen­ti­nien nicht straf­recht­lich verfolgt wird. Er spricht davon, dass er von Freunden verraten wurde. Trotzdem will der Tenor nun in der Elbphil­har­monie auftreten. Ticket-Preise bis 467 Euro. Hoffent­lich ist er dann ein biss­chen besser bei Stimme als neulich in Verona. Klar, man kann das alles machen – aber man könnte auch einsehen, dass irgend­wann mal die Zeit gekommen ist, den Schwanz einzu­ziehen und es sich in einer Villa auf Mallorca gemüt­lich zu machen. 

Perso­na­lien der Woche I

Eva Wagner-Pasquier ist nach ihrem Unfall in der Isar offen­sicht­lich auf dem Wege der Besse­rung. „Ich habe keine Ahnung, was an dem Tag passiert ist. Ich kann mich nicht erin­nern“, sagt Eva Wagner-Pasquier im Inter­view mit der Bild-Zeitung. Ein Notarzt hatte sie aus dem Fluss gezogen und wieder­be­lebt. Danach verbrachte Eva Wagner-Pasquier Zeit im Kran­ken­haus. Sie habe ein Jahr lang viele Schutz­engel gehabt, erklärte die Wagner-Uren­kelin nun und sei noch im Prozess der Gene­sung, aber es gehe ihr soweit gut: „Jetzt kämpfe ich mich weiter zurück ins Leben. Es ist ein weiter Weg, und ich muss sehr auf mich aufpassen. Aber ich komme ganz gut zurecht.“

Der Diri­gent hat der Säch­si­schen Zeitung erklärt, warum er keinen festen Job als Chef­di­ri­gent mehr annehmen will: „Der heutige Arbeits­um­fang mit einer Anwe­sen­heit von nur acht bis zwölf Wochen entspricht nicht meinem Verständnis von diesem Amt. Da bin ich altmo­disch.“ Haen­chen beklagt, dass er als Chef­di­ri­gent heut­zu­tage zu wenig arbeiten dürfe. Also gastiert er und entdeckt gerade Quali­täten der Provinz. All das stellt eine grund­sätz­liche Frage: Wie sieht eigent­lich die Rolle des modernen Diri­genten oder der modernen Diri­gentin aus? Darum wird es sicher­lich in einem der nächsten Podcasts von „Alles klar, Klassik?“ gehen (neue Folgen ab kommenden Freitag). +++ Ein Konzert von bei den Salz­burger Fest­spielen sorgte für große Aufmerk­sam­keit: Offen­sicht­lich war der Diri­gent nicht mehr ganz bei der Sache, schon in den Proben mit soll es zum Eklat gekommen sein. Baren­boim durfte dennoch diri­gieren – aber selbst die Salz­burger Nach­richten konnten nicht mehr „um den heißen Brei“ herum­reden.

Netrebkos Wien-Rück­kehr

Anna Netrebko als Mimi

Manchmal verschwimmen die Zeiten – und scheint so aus der Zeit gefallen wie Luciano Pava­rotti und Plácido Domingo. Aber Wiens Opern-Inten­dant setzt vor dem geplanten Termin im Januar zur großen Reha­bi­li­ta­tion an: Am 5. September soll Netrebko die Spiel­zeit eröffnen, in Puccinis La Bohème (und dabei ist die Sopra­nistin nicht einmal bei Agent Michael Lewin unter Vertrag, der Roščić ansonsten so ziem­lich jede Verpflich­tung aus seinem Künst­le­rInnen-Katalog vorzu­schlagen scheint). In Öster­reich ticken die Uhren eben anders, und Roščić, der es schon in den letzten Wiener Spiel­zeiten weit­ge­hend erfolglos mit Auslauf­mo­dellen der Oper versucht hat, bleibt seiner einfalls­losen Gestern-Klassik-Linie treu. Immerhin: So wird Öster­reichs Haupt­stadt in den kommenden Jahren zu einem span­nenden Expe­ri­men­tier­feld dreier konkur­rie­render Opern-Konzepte. Meine Prognose: Die wird es schwer haben und ziem­lich schnell ziem­lich alt aussehen gegen die span­nenden Konzepte von an der Volks­oper und von am Theater an der . Nur eines scheint schon jetzt sicher, unser Freund, der Opi von News hat seine Premieren-Jubel-Kritik sicher­lich schon in der Schub­lade! 

Weil es sein muss

Vor der Sommer­pause habe ich immer wieder Mails bekommen, dass meine Recher­chen zu und Russ­land nerven – oder: dass sie beson­ders wichtig seien. Deshalb handle ich dieses Thema ab sofort unter der Rubrik „Weil es sein muss“ ab – kann man dann lesen oder über­springen. Lesen wird diese Rubrik sicher­lich Salz­burg-Inten­dant Markus Hinter­häuser. Er und seine Pres­se­spre­cherin Ulla Kalch­mair haben so ziem­lich überall, wo ich zum Thema Russ­land und Salz­burg veröf­fent­licht habe, weit­ge­hend erfolglos Protest einge­legt – zuletzt beim Inten­danten des SWR (u.a. wegen dieses Kommen­tars). Mich wundert, wie viel Zeit die für so etwas haben. Ob sie Manuel Brug auch hinter­her­te­le­fo­niert haben, der Salz­burg in der Welt Ideen­lo­sig­keit vorge­worfen hat? Oder Senior, der einen sehr klugen Kommentar verfasst hat und erklärt, warum die Curr­entzis-Versteher die Glaub­wür­dig­keit der Klassik gefährden? Grubinger schreibt: „Wie unsere dama­ligen und zum Teil heutigen Regie­rungs­ver­treter, so versucht auch Curr­entzis auf dem Stuhl der Diktatur und dem der Demo­kratie gleich­zeitig zu sitzen. Sein Handeln ist getrieben von der Gier nach Erfolg und Ruhm und eine apolo­gi­sche Schleife von durch­trie­benem Oppor­tu­nismus.“ Und der Pianist erklärt im BR: „Man darf und kann nicht auf sämt­li­chen Hoch­zeiten gleich­zeitig tanzen. Entweder hält er sich an Russ­land und die russi­sche Politik oder er akzep­tiert die Konse­quenzen. Mir gefällt diese Verbin­dung zu der russi­schen Bank oder zu den Olig­ar­chen über­haupt nicht. Und dann habe ich noch gar nicht von der Musik gespro­chen.“ Grigory Sokolov ist eben­falls skep­tisch und hat gerade die spani­sche Staats­bür­ger­schaft ange­nommen. Haltung, wohin man schaut! So oder so, die Dinge nehmen allmäh­lich ihre eigene Dynamik auf: Curr­entzis will in St. Peters­burg ein Musi­cAe­terna-Ballett gründen, Mitmach-Bedin­gung ist aller­dings die russi­sche Staats­bür­ger­schaft.

Und dann ist da noch das alte Salz­burg-Projekt Tristan, das nun ein Baden-Baden-Projekt geworden ist. Geprobt wird in Russ­land, geför­dert von der VTB Bank. Bei der Moskau-Première wollen auch Künstler wie auftreten, Tenor scheint inzwi­schen einen Rück­zieher gemacht zu haben – Chapeau! Baden-Baden will dieses VTB-Programm einfach über­nehmen, auf meine Nach­frage gibt es die übliche Hinhalte-Taktik: Inten­dant Bene­dikt Stampa habe es im letzten halben Jahr (!!!) leider noch nicht geschafft, persön­lich mit Curr­entzis zu reden. Das will er nun aber nach­holen, und irgend­wann will er dann auch entscheiden, wie er weiter vorgeht! Bis dahin: herz­liche Einla­dung nach Baden-Baden, ach ja, und gekaufte Curr­entzis-Tickets könnten natür­lich zurück­ge­geben werden. Wie lange soll dieses unwür­dige Spiel eigent­lich noch gehen? Ausge­rechnet von Kultur-Insti­tu­tionen, die auf Spon­soren wie Audi oder Siemens ange­wiesen sind, die längst ihr Russ­land-Geschäft einge­stellt haben. Ausge­rechnet in einer Zeit, in der wir alle für unsere Frei­heit bezahlen. Wann werden die Kultur­schaf­fenden diese neue Kolumne abschaffen und ihre mora­li­sche Inte­grität zurück­ge­winnen? Der Kompo­nist gab auf Twitter übri­gens bekannt, dass er seinen Teil des Jobs erle­digt habe und hat Hinter­häuser um adäquaten Dank dafür gebeten.

Perso­na­lien der Woche II

Ein El Dorado unserer Bericht­erstat­tung der letzten Jahre war das Badi­sche Staats­theater in Karls­ruhe, als es noch von geleitet wurde. Der musste auf Grund massiver Zerwürf­nisse vorzeitig gehen, nun wurde mit Chris­tian Firm­bach ein Nach­folger präsen­tiert. Der Olden­burger Inten­dant wird das Haus in Karls­ruhe 2024 über­nehmen. +++ Der Chef­di­ri­gent der Neuen Oper Moskau, Valentin Uryupin, wurde vor Saison­be­ginn kurzer­hand gefeuert, weil er als Ukrainer den Krieg verur­teilte. +++ Nachdem GMD keine Lust mehr auf das Theater Bremen mit Inten­dant hatte, hat der nun Stefan Klin­gele als neuen Chef­di­ri­genten ans Haus geholt. +++ Am 20. August ist der Kompo­nist Franz Hummel im Alter von 83 Jahren gestorben. Er hat nicht nur das Musical kompo­niert, sondern auch große Opern und zeit­ge­nös­si­sche Musik.

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Publikum

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht bei Amerikas bekann­testem Musik-Jour­na­listen, Alex Ross, der im New Yorker an das erin­nert, was wir oft vergessen: Er schreibt eine Hommage an die deut­sche Musik­land­schaft, an die über 80 Opern­häuser die wir uns als Steu­er­zahler in Stadt und Land gönnen – und applau­diert! Wenn man diesen Blick aus der Ferne liest, sollte man danach noch einmal auf unser welt­weit einma­liges System schauen und prüfen, wie wir es in die nächste Gene­ra­tion retten. Dazu ist sicher­lich mode­rater Wandel nötig, die Veran­ke­rung in der Gegen­wart, die Aufrecht­erhal­tung der Qualität – das alles wird viel Geld kosten. Gerade jetzt geht es um die Wurst: Tarif­er­hö­hungen, Infla­tion, stei­gende Ener­gie­kosten und sinkende Zuschüsse – unsere Häuser kämpfen in diesen Tagen um ihre Exis­tenz! Und wir werden dafür sorgen müssen, dass die Mehr­heit der Deut­schen die Frage danach, ob wir uns all das weiter leisten wollen mit „Ja“ beant­worten – denn es sind nicht in erster Linie die Leute, die in Konzerte und Opern gehen, die Konzerte und Opern finan­zieren, es ist jeder Mensch, der mit seinen Steuern sagt: „Kultur? Finde ich wichtig!“  

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüg­ge­mann

brueggemann@​crescendo.​de

Fotos: Nicolas Armer / dpa (Archivbild), Wiener Staatsoper / Barbara Zeininger