KlassikWoche 41/2020

Wie viel Verant­wor­tung hat ein Opern­haus?

von Axel Brüggemann

5. Oktober 2020

Das Corona-Chaos in der Normandie, die besten Opernhäuser, die Scala-Pläne von Anna Netrebko und Andris Nelsons in Leipzig

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

in der Normandie geht es zu, als würde Donald Trump ein Opern­haus leiten, in wächst der Frust über die Kultur­po­litik, und in konnte man nun doch halten. 

CORONA-CHAOS IN DER NORMANDIE

Corona-Chaos an der Opéra de Rouen in der Normandie

Nein, es geht nicht um die Pariser Oper und nicht um , „dann wäre das sicher­lich eine größere Geschichte geworden“ – so haben es mir einige Kollegen in den letzten Tagen erklärt. Als ob der fahr­läs­sige Umgang mit Corona an euro­päi­schen Provinz-Thea­tern nicht so schlimm wäre. Anlass meiner Neugier waren mehrere Anrufe, die ich bekommen hatte. Künstler haben mir über die kata­stro­phale Corona-Situa­tion an der Opéra de Rouen berichtet: Corona-Tests wurden hier nur auf frei­wil­liger Basis ange­boten, der erste Corona-Fall herun­ter­ge­spielt, weitere Mitglieder der „Tannhäuser“-Produktion steckten sich während der Proben an (unter ihnen auch Tenor , der zum Glück nur schwache Symptome hatte), und das künst­le­ri­sche Betriebs­büro in Rouen fragte offen­sicht­lich Einspringer-Sänge­rinnen an, ohne sie über die aktu­ellen Corona-Fälle am Haus zu infor­mieren. Bis heute heißt es auf der Website der Oper, dass es sich ledig­lich um einen Infek­ti­ons­fall handle – tatsäch­lich sind mindes­tens fünf Betei­ligte der Produk­tion positiv getestet worden.

Auf Anfrage von CRESCENDO konnte Inten­dant Loïc Lachenal keinen der gegen ihn erho­benen Vorwürfe entkräften und verwies ledig­lich darauf, sich an die fran­zö­si­sche Rechts­lage gehalten zu haben. Nach Veröf­fent­li­chung des Arti­kels in CRESCENDO haben sich weitere Betrof­fene gemeldet und die Verhält­nisse in der Normandie eben­falls aufs schärfste verur­teilt, anonym, da sie Repres­sa­lien fürchten. Das Ärger­liche: Während Häuser in , und ande­ren­orts durch Trans­pa­renz, Vorsicht und umfang­rei­ches Testen für Vertrauen bei Künst­lern und Publikum sorgen (gerade berich­tete die Came­rata Salz­burg offen von sieben Fällen, und Manuel Brug beschreibt in der „Welt“ die opti­mis­ti­sche Corona-Politik in Wien), verspielen Theater wie jenes in Rouen diese posi­tive Wirkung dieser mühsamen ersten Schritte. Alle Hinter­gründe zum Corona-Chaos in Rouen hier. Dazu passt die Meldung: Auch im Mari­inski-Theater von nimmt man es mit der Trans­pa­renz nicht ganz so genau. Angeb­lich seien inzwi­schen die Hälfte des Chores und 30 Mitglieder des Orches­ters positiv auf Covid-19 getestet worden.

INDI­VI­DU­ELLE TEST-WAHR­HEITEN

Die Pool-Methode senkt die Kosten von Corona-Tests. An der Staatsoper Wien wird in der Regel einmal die Woche getestet.
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Nachdem ich den Artikel über Rouen auf meiner Face­book-Seite verlinkt hatte, wurde die Kommentar-Spalte zu einer Platt­form für ziem­lich unge­si­cherte Theo­rien und krude Behaup­tungen: So hieß es (wie derzeit öfter im Netz), dass die Staats­oper in Wien für Corona-Tests eine Million Euro pro Monat ausgebe. Das ist aller­dings voll­kom­mener Quatsch. Inzwi­schen gibt es bereits Kohorten-Tests, bei denen die Kosten pro Künstler ledig­lich 6,50 Euro betragen, 100 Mitglieder eines Ensem­bles also für 650 Euro getestet werden können (hinzu kommt profes­sio­nelles Personal für die Abstriche). Getestet wird in der Regel einmal die Woche. Das Testen wird also immer güns­tiger und stellt sich als derzeit beste Lösung für eine Norma­li­sie­rung des Spiel­be­triebes heraus. Die Kommen­tare waren für mich ein Para­de­bei­spiel dafür, zu sehen, wie Unwahr­heiten sich als bloße Behaup­tungen Bahn brechen und selbst dann, wenn sie entkräftet werden, mit einem Satz wie „faszi­nie­rend und erschüt­ternd, wie gewisse Herr­schaften mit ihrem Corona-Gehorsam jubelnd in den kultu­rellen Ruin laufen…“ negiert werden. Musik ist emotional, ja – aber ihre Ermög­li­chung muss ein Akt höchster Ratio­na­lität sein und bleiben! Und, ja, es läuft viel falsch in diesen Tagen, aber den Pfad der Fakten zu verlassen, wäre das Aller­fal­scheste. 

DIE KÜR DER BESTEN

Axel Brüggemann im Auto der besten Opernproduktion des Jahres: Tobias Kratzers Bayreuther "Tannhäuser"

Ich durfte auch drin­sitzen: im Auto, das durch die „Beste Opern­pro­duk­tion“ des Jahres fuhr, durch Tobias Krat­zers Bayreu­ther „Tann­häuser“. Die Zeit­schrift Opern­welt kürte außerdem die Frank­furter Oper und das Grand Théâtre in Genf zu den besten Opern­häu­sern. Die Sopra­nistin (sie ist Gast in meinem nächsten Podcast) und der Coun­ter­tenor Jakub Józef Orliński wurden als beste Sänger gewählt. Zum neunten Mal wurde das Baye­ri­sche Staats­or­chester „Orchester des Jahres“, dessen bishe­riger Gene­ral­mu­sik­di­rektor sich in diesem Jahr den Titel als „Diri­gent des Jahres“ mit dem Schweizer teilt. 

KLAGEN GEGEN DIE PROBLEM-POLITIK

Das Stadttheater Schweinfurt muss saniert werden. Sonst gehen 2022 die Lichter aus.

Werden unsere Stadt­theater die Corona-Maßnahmen über­leben? Schon jetzt geht es etablierten Häusern an den Kragen, so wie dem Stadt­theater in – dort muss neben den Corona-Kosten auch noch für 40 Millionen Euro saniert werden. Sollte sich der Stadtrat gegen die Sanie­rungen ausspre­chen, gehen im Früh­jahr 2022 in Schwein­furt die Lichter aus. Denn dann verliert das Haus seine Betriebs­er­laubnis. Über­haupt scheint die Politik noch immer über­for­dert und im Sommer nur wenig für den anste­henden Herbst gere­gelt zu haben. Davon zeugen mehrere Meldungen in dieser Woche: Der BR berichtet vom Ende der Sofort­hilfen für Solo-Selbst­stän­dige und Künstler in Bayern und zieht eine verhee­rende Bilanz: Ein Groß­teil der Gelder sei nicht abge­rufen worden, da die Krite­rien nicht der Praxis entspra­chen, die Hilfe habe keine Linde­rung gebracht, es bestünde kein Konzept für den Winter und die Debatte um das bedin­gungs­lose Grund­ein­kommen sei im Sande verlaufen. „Die Kultur­szene fürchtet mit dem Ende des Programms umso mehr um ihren Status“, konsta­tiert der BR. Gleich­zeitig kommen­tiert Robert Braun­müller in der Abend­zei­tung die 200-Zuschauer-Politik in Bayern: „Bernd Siblers (Kunst­mi­nister Anm. die Red.) Pilot­ver­such wird bald verbrannte Erde zurück­lassen. Ein schwa­cher Minister, der sich im Kabi­nett nicht durch­setzen kann und mit seinem Spiel auf Zeit das kultu­relle Leben ruiniert, ist über­flüssig.“ In der Süddeut­schen berichtet Helmut Mauró über die Münchner Konzert­ver­an­stal­terin Alex­andra Schreyer, die erklärt, dass ein Groß­teil ihrer Kollegen vor dem Bank­rott stünde. Der Sänger Chris­toph Filler beschreibt auf seiner Face­book Seite in einem klugen und lesens­werten Text die konkreten Probleme frei­schaf­fender Künstler. Der Druck wächst, unter anderem, weil die Abschlags­zah­lungen nur zwischen 0% und 50% liegen, neue Verträge den Künst­lern 100% der Ausfall-Last anhängen wollen, den Künst­lern verboten wird, sich mit Personen außer­halb der Produk­tion zu treffen, außerdem würden Künst­ler­gagen nied­riger ange­setzt, weil die Branche gelitten habe.

WIES­BA­DENS „LAUFEN VON BERG

Mein Kollege Volker Milch vom Wies­ba­dener Kurier hat mich gestern noch gefragt, ob ich mehr wüsste – wusste ich aber nicht. Er hatte Eins und Eins zusam­men­ge­zählt und seine Rech­nung nun veröf­fent­licht: -Geschäfts­führer Holger von Berg soll auffällig oft in gesichtet worden sein. Milchs These: Er wird dort am 1. April 2021 Bernd Fülle (mit dem Holger von Berg sich intensiv unter­halten haben soll) beerben und Inten­dant als Geschäfts­führer an die Seite gestellt. Bei entspre­chender Nach­frage wurde Milchs Vermu­tung weder von der Politik noch vom Hause selber demen­tiert. Von Berg hat sich vertrag­lich versi­chern lassen, dass er nach dem Bayreuth-Ende eine Job-Garantie beim Frei­staat in in führender Posi­tion haben wird (nicht wenige in Bayreuth sollen ihm hinter vorge­hal­tener Hand den Chef­posten bei „irgend­einem Eisen­bahn-Modell-Museum in der frän­ki­schen Provinz“ gewünscht haben). Das Duett „Laufen­Von­Berg“ kennt sich bereits von den Bayreu­ther Fest­spielen, als der Regis­seur hier „Parsifal“ insze­nierte und mit seiner Arbeit eigent­lich nur den dama­ligen Geschäfts­führer begeis­terte.

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Nachdem ich letzte Woche an dieser Stelle meinen Kommentar für SWR2 über zur Debatte gestellt habe, hat Hartmut Welscher im Deutsch­land­funk nun nach­ge­legt mit einem – wie ich finde – wunder­baren Satz, den sich so mancher Feuil­le­to­nist an die Pinn­wand tackern sollte: „In Inter­views und Porträts werden Levits Selbst­in­sze­nie­rung und Pose der Wider­stän­dig­keit oft unhin­ter­fragt über­nommen. Die Grenzen zwischen Kultur und Kommerz, Jour­na­lismus und Marke­ting sind dabei nicht immer leicht zu erkennen. Dabei wird Musik­jour­na­lismus ohnehin schon zu oft als Cheer­lea­ding miss­ver­standen.“ +++ ist nach eigenen Angaben von Corona genesen und will am 21. Oktober wieder an der Mailänder Scala singen, ein Programm mit Opern­arien von , Amil­care Ponchielli, Fran­cesco Cilea und . Anna Netrebko soll außerdem zwei weitere Konzerte an der Scala geben – am 15. November und am 21. Februar. +++ , Gene­ral­mu­sik­di­rektor und Inten­dant der Leip­ziger Oper, will sich mit einem „Jahr­hun­dert­klang“ verab­schieden: Schon seit einigen Monaten plaka­tiert die Leip­ziger Oper unter anderem in Bayreuth – dem eigent­li­chen Zuhause der Wagner-Fest­spiele – mit dem Vorhaben „“. Wie die Oper am Mitt­woch mitteilte, sei der Plan, alle voll­endeten Opern von in chro­no­lo­gi­scher Reihen­folge in „Drei Wochen Unend­lich­keit“ aufzu­führen. +++ Der Berliner Kultur­se­nator Klaus Lederer (Die Linke) gerät derzeit offen­sicht­lich wegen Täuschungs­vor­würfen unter Druck. Nach Recher­chen von WELT AM SONNTAG hat er dem Unter­su­chungs­aus­schuss des Berliner Abge­ord­ne­ten­hauses Unter­lagen vorent­halten. Es geht um die Kündi­gung des auf DDR-Unrecht spezia­li­sierten Histo­ri­kers Hubertus Knabe, dem vorge­worfen wurde, struk­tu­rellen Sexismus an der Stasi-Gedenk­stätte Hohen­schön­hausen geduldet zu haben.

WAS SCHERT MICH DAS GERÜCHT DER LETZTEN WOCHE?

Andris Nelsons geht nicht ans Concertgebouw, sondern bleibt beim Gewandhausorchester in Leipzig.

Jede Woche fasst die CRESCENDO-Klas­sik­Woche zusammen, was die Kollegen über die Klassik geschrieben haben, und regel­mäßig sickern auch bei mir Infor­ma­tionen durch. Egal, ob der Raus­wurf von bei den Salz­burger Oster­fest­spielen, die Ernen­nung von Stephan Pauly zum neuen Chef des Wiener Musik­ver­eins oder Geschichten wie jene um das Opern­haus in Rouen werden im Vorfeld genau recher­chiert. Daneben gibt es den „Klatsch und Tratsch“, den ich auch gern so benenne, oder „Gerüchte“, die – wenn sie nach­voll­ziehbar genug sind – als solche weiter­ge­flüs­tert werden. Letzte Woche stellten wir die Frage, ob Andris Nelsons ans Concert­ge­bouw nach wech­seln wird, eine Theorie, die am Dienstag auch die Leip­ziger Volks­zei­tung aufnahm. Fakt ist, dass es konkrete Verhand­lungen gab, die inzwi­schen wohl aber geschei­tert sind. Auf jeden Fall ist für heute, Montag­nach­mittag, eine Pres­se­kon­fe­renz des Gewand­haus­or­ches­ters in Leipzig anbe­raumt – mit Andris Nelsons und einer Schalte nach Boston. „Es wird sicher­lich nicht darum gehen, dass wir in Leipzig verkünden, dass Nelsons nach Amsterdam geht“, heißt es aus dem Gewand­haus mit einem Augen­zwin­kern. Also schluss­fol­gern wir mit aller uns zur Verfü­gung stehenden Schärfe: Es kann nur um Nelsons Vertrags­ver­län­ge­rung in Leipzig gehen. Für das Concert­ge­bouw bleibt aller­dings auch heute nur wieder ein Gerücht: Angeb­lich verhan­delt man dort inzwi­schen mit dem Diri­genten

Und sonst? Hat mich diese Woche eine Widmung beson­ders gefreut. Nachdem der Kompo­nist letzte Woche in einem Essay erklärt hat, warum das Kompo­nieren ihm derzeit so schwer fällt, und warum er lieber läuft, widmete er mir in einem Face­book-Post seinen 8,4‑Kilometer-Lauf in entspannten 48 Minuten – bei dem Tempo hätte Moritz mindes­tens nebenbei noch ein Chanson aus dem vorletzten Loch pfeifen können! Ich habe mich trotzdem sehr gefreut! 

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de