Hörgewohnheiten
National – international – völlig egal?
von Axel Brüggemann
13. März 2018
Musik ist eine universelle Sprache. Richtig ist aber auch: Sie erzählt viel über nationale Eigenheiten. Was Deutschland und Frankreich voneinander lernen können.
Gern betonen wir die Internationalität der Musik, die Möglichkeit des Klangs, Grenzen zu überwinden und Menschen zusammenzuführen. All das ist im Grunde richtig. Gerade in der Dur-Moll-Harmonik gibt es ein kollektives Verstehen, ein internationales Verständnis über die Kategorien von schön und hässlich, leidenschaftlich und langweilig, konventionell und mutig.
Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der andere geht so: Natürlich gibt es nationale Besonderheiten, regionale Kulturen und Geschmäcker – ja, zuweilen unterscheiden sich gar die Auffassungen darüber, welche Rolle die klassische Musik innerhalb einer Nation einnehmen soll, von Land zu Land.
Die Beziehungen zwischen Ländern wie Frankreich und Deutschland sind seit jeher komplex. Belastet durch den Gang der Geschichte und flankiert von musikhistorischen Mythen, die der Geschichte ihren ureigenen Soundtrack verliehen haben. Einer der größten dieser deutsch-französischen Mythen ist wohl die Pariser Tannhäuser-Aufführung von 1861, in der Richard Wagners Werk hemmungslos ausgebuht und mit Trillerpfeifen niedergelärmt wurde.
Hemmungslos ausgebuht und mit Trillerpfeifen niedergelärmt
Wagner selbst hat diese Enttäuschung nie wirklich überwunden und sie später zur nationalen Gretchenfrage stilisiert: der deutsche Wahl-Franzose Meyerbeer oder er? Der italienische Superstar in Paris, Rossini, oder er? Was Wagner gern verschwieg: Natürlich profitierte er von der großen französischen Operntradition, orientierte sich in seinen frühen Werken an der Grand Opéra, wie sie eines seiner großen Vorbilder, Daniel-FranÇois-Esprit Auber, der Komponist der Stummen von Portici, prägte. Und natürlich hätte Wagner sich in jungen Jahren nichts mehr gewünscht, als in Paris gefeiert zu werden, als anzukommen in den großen Salons des internationalen Melting-Pots, in dem deutsche, italienische und französische Musik miteinander in Dialog standen. Doch Wagners Werk war zu sperrig und er begann, den „welschen Tand“ zu diskreditieren, nahm eine nationalistische Position ein, selbst noch in späteren Opern wie den Meistersingern. Ein Nationalismus, der im Deutsch-Französischen Krieg ebenso wie in den beiden Weltkriegen dazu führte, Wagner als Alibi deutscher Kulturüberlegenheit zu stilisieren. Als Wagners Werk sich schließlich doch in Frankreich durchsetzte, machten sich sofort Komponisten wie Claude Debussy daran, mit Opern wie Pelléas et Melisande eine bewusst französische Version des Tristan zu verfassen: mehr Melodie, weniger Leiden, mehr Intimität statt großem Orchester, mehr impressionistisches Wasser als moosbehafteter deutscher Wald.
Der Versuch, den sogenannten „Erbstreit“ im 19. Jahrhundert auch in der Musik zu verankern, scheint historisch nachvollziehbar, ebenso wie die Konsequenz, dass sich die beiden Länder spätestens nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der neuen, intensiven deutsch-französischen Freundschaft, wie Konrad Adenauer und Charles de Gaulle sie eingeleitet haben, angenähert haben sollten. Wenn man aber genau hinschaut, überwiegt in der klassischen Musik tatsächlich noch immer das Trennende.
In Frankreich wird sehr viel Alte Musik gehört
Es reicht bereits ein Blick in die Klassik-Charts, um zu sehen, wie unterschiedlich nationale Geschmäcker innerhalb Europas noch heute sind. In Deutschland rangieren in diesen Tagen Cecilia Bartoli und Sol Gabetta, Albrecht Mayer, Anne-Sophie Mutter oder Teodor Currentzis auf den Top-Platzierungen. Keiner von ihnen taucht in der entsprechenden Statistik in Frankreich auf, nicht einmal Anna Netrebko oder Jonas Kaufmann, obwohl der sein neues Arienalbum gerade der französischen Oper gewidmet hat. Sie alle sind zunächst einmal Phänomene des deutschen Plattenmarktes.
Ein weiterer Blick, etwa auf das Programm des Radiosenders France Musique, zeigt, dass die Stars in Frankreich ganz andere Namen tragen. Unter ihnen Stéphane Denève, Ian Bostridge, Nelson Goerner oder Roberto Alagna. Und auch das gespielte Repertoire unterscheidet sich erheblich von den in Deutschland beliebten „Klassikern“. In Frankreich wird sehr viel Alte Musik gehört, auffällig auch die Liebe zu slawischen Komponisten und in der Oper natürlich auch zu Werken von Rossini oder Janáček, dazu französische Komponisten wie Lully, Berlioz oder Bizet. Augenfällig auch, dass keine einzige der Goldauszeichnungen des Magazins Diapason in den deutschen Klassik-Charts rangiert, weder die Beethoven-Sonaten von Richard Goode noch die Troyens mit John Nelson oder die mittelalterlichen Gesänge Parle Que Veut.
Wer glaubt, dass der deutsche und der französische Markt sich antipodisch verhalten, der wird über den Markt in Großbritannien staunen, auf dem alles noch einmal ganz anders geordnet ist. Unangefochten auf Platz eins der – wohlgemerkt! – Klassik-Charts steht hier der Star-Wars-Soundtrack, daneben unendlich viele Einspielungen von Ludovico Einaudi, aber auch die Sinfonien von Michael Tippett mit dem BBC Orchestra oder die Bach-Sonaten mit Kristian Bezuidenhout.
Charts in Deutschland sind vornehmlich PR-getrieben
Hinter dieser Auflistung verbergen sich nicht nur individuelle nationale Vorlieben, die auf der Hand liegen. Klar, dass deutsche Künstler in Deutschland, französische in Frankreich und britische Künstler in England die größten Erfolge feiern, logisch auch, dass jede Nation am liebsten jene Musik hört, die zur Geschichte des Landes gehört; Opern und Arien, die in der eigenen Sprache gesungen werden; Musik, die einen Franzosen, Deutschen oder Engländer seit der Schule begleitet. Aber etwas anderes fällt ebenfalls auf, und das ist ein eher struktureller Unterschied.
Die Charts in Deutschland sind vornehmlich PR-getrieben, kaum ein kleines Label, das es in die Top Ten schafft. Und es sind vornehmlich sogenannte „ernsthafte“ Klassikkünstler, die von den Labels vorgestellt und von den Hörern gehört werden. Um in die Charts aufgenommen zu werden, müssen tatsächlich „klassische“ Titel eingespielt werden, anders als auf dem britischen Markt, auf dem Filmmusik die Klassikverkaufszahlen der Labels in die Höhe treibt (erstmals übrigens mit dem Titanic-Soundtrack). Außerdem spielen hier Künstler eine größere Rolle, die in der Masse populär sind, etwa Andrea Bocelli, über den ein Jonas-Kaufmann-Fan vielleicht gern die Nase rümpft. Aber es geht hier nicht um ein Besser oder Schlechter, sondern darum zu verstehen: Der britische Markt lebt von einer breiten Masse, die nicht immer im Elfenbeinturm der Musik sitzt, sondern gern auch an der Grenze zum Populären tanzt – jenem Populären, das in England jenseits der etablierten Opern- und Konzerthäuser und der Labels durch Medien wie das Radio und das Fernsehen als Klassik definiert wird.
Zeichen von erreichter Bürgerlichkeit
Und auch der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich ist erhellend. Während Deutschland mit seiner einmaligen Orchester- und Opernstruktur, die in jeder größeren Stadt einen weitgehend erschwinglichen Live-Zugang zur Musik ermöglicht, darauf setzt, dass die klassische Musik grundsätzlich Allgemeingut und kein Distinktionsmerkmal sein soll, sieht die französische Struktur anders aus: Orchester und Opernhäuser sind hauptsächlich in großen Städten zu Hause, die Subventionen wesentlich geringer als bei uns – die klassische Musik dadurch immer auch ein Ort des Bürgerlichen oder zumindest ein Zeichen von erreichter Bürgerlichkeit. Dieser Zustand sagt zunächst etwas über das Selbstverständnis und weniger über die Qualität aus – im Gegenteil.
Der Unterschied der Erwartungen an die klassische Musik und ihre gesellschaftliche Rolle zeigt sich nirgends so konzentriert wie im deutsch-französischen Fernsehsender Arte, in dem beide Länder an der Programmgestaltung beteiligt sind. So liefert Frankreich auf Arte Concert etwa ein Programm mit der Pianistin Beatrice Rana, mit Antoine Tamestit, Leonidas Kavakos oder oder Daniil Trifonov, während Deutschland Teodor Currentzis mit dem SWR, eine Mozart-Session mit Andreas Ottensamer und Anna Prohaska oder Andris Nelsons mit dem Gewandhausorchester beisteuert.
Grundverschiedene Erzählarten von Musik
Es ist aber nicht allein die gegenseitige inhaltliche Bereicherung, sondern auch der Umgang damit, wie Klassik dem jeweiligen Publikum in Frankreich und Deutschland vermittelt wird. Während das französische Publikum in erster Linie sachliche Informationen erwartet, also Geschichten über das Leben und Werk der Komponisten, eine historische Einordnung und eine knappe musikalische Analyse, dazu eine weitgehend unkritische, in Superlativen erzählende Begleitung der Konzerte, scheint für einen Großteil des deutschen Publikums eher die Individualität und Persönlichkeit der Musizierenden im Vordergrund zu stehen, ihre privaten Zugänge zur Musik und die eher kritische Grundfrage nach der gesellschaftlichen Bedeutung eines Werkes. Zwei grundverschiedene Erzählarten von Musik. Der französische Narrativ mag vielen Deutschen zu didaktisch wirken, zu oberlehrerhaft und unkritisch, der deutsche vielen Franzosen zu respektlos, zu hinterfragend, zu kritisch und experimentell.
Ein Phänomen, das übrigens auch auf den Opernbühnen der beiden Länder zu sehen ist. Es gab eine Zeit, als das deutsche Regietheater international als „German Trash“ bezeichnet wurde, der Versuch, alte Stoffe in unsere Zeit zu übersetzen, sich mit dem Faktum auseinanderzusetzen, dass Musik immer eine zweite Schöpfung beherbergt, immer nur im Hier und Jetzt entsteht, die Frage nach ihrer aktuellen Relevanz – all das ist in Frankreich nur selten zu sehen. Hier ist Oper oft hauptsächlich eine repräsentative Größe, die den Alltag verschönern und zur Einkehr einladen soll. Das mag auch daran liegen, dass die klassische Musik in Frankreich eine weitgehend klare Position einnimmt, mit der sie gut fährt: Sie ist zum einen Unterhaltung und Besinnung, zum anderen Ausdruck bürgerlicher Lebensqualität, ein Synonym für Wissen, Erkenntnis und Geschichtsbewusstsein.
Vielleicht liegt gerade in diesen Unterschieden das eigentliche Spannende, wenn wir über die Internationalität der Kunst sprechen. Wir befinden uns schon lange nicht mehr im Zeitalter der Nationalismen (auch wenn diese gerade eine Renaissance zu feiern scheinen), haben das 19. und das 20. Jahrhundert mit all ihren nationalen Kriegen überwunden und stehen vor dem großen Luxus, dem anderen mit Neugier begegnen zu können. Gerade deshalb ist es erstaunlich, wie getrennt die einzelnen nationalen Welten – besonders in der Internationalität der Klassikszene – noch immer sind. Und wie gering das gegenseitige Interesse daran zu sein scheint, einander besser kennenzulernen. Dabei lohnt ein Blick auf den französischen Markt durchaus, denn hier lassen sich schon an der Oberfläche Musik und Musiker entdecken, die bei uns in Deutschland oft zu Unrecht im Schatten stehen.