Die Oper in der Krise
Verschont uns mit dem Pimmel des Tenors
von Axel Brüggemann
4. Juni 2014
Ein Aufruf zur Rettung der Oper und gegen die Selbstgefälligkeit der Institutionen, die Selbstreferenzialität der Interpreten und die Vorsicht der Künstler.
Hand aufs Herz: Eigentlich ist die Zukunft der Oper den meisten Menschen egal. Das war mal anders – vielleicht ist jetzt die letzte Möglichkeit, zu kämpfen. Was mir Angst macht, ist die Stille. Es hört sich an wie ein Pianissimo, ein Decrescendo, das kaum noch jemand wahrnimmt. Niemand spricht mehr über die Krise der Oper. Keiner redet mehr über das Ende der Klassik, über den Überlebenskampf der Theater, geschweige denn über ihre ästhetischen Visionen. Das könnte ein gutes Zeichen sein – wenn es keine Krise gäbe. Aber es ist wohl anders: Den meisten Menschen ist die Zukunft der Oper ziemlich egal. Gewöhnlich genügt in unserer modernen Erregungsgesellschaft ja schon ein Politiker-Blick in ein Journalistinnen-Dekolleté, um Schlagzeilen in den Medien zu bekommen. Aber bei folgendem Szenario bleibt es verdächtig ruhig: Wer „Oper“ und „Schließung“ googelt, findet relativ leicht Artikel über den Existenzkampf. Über die Oper in Bonn, die gerade abgeschafft werden sollte, über die Piraten-Partei in Berlin, die eine Schließung der Deutschen Oper fordert, um Gelder in die freie Szene umzulenken. Gegen die Abschaffung vom Radiosender Bayern-Klassik protestiert eine hilflose, verschwindende Minderheit per Online-Petition. Und auch im Ausland sieht es düster aus: Die Oper in San Diego wird schließen, ebenso die City Opera in New York. Italiens Opern sind mit über 300 Millionen Euro verschuldet, Schließungen sind absehbar.
Oper als Luxus
Googelt man „Oper“ und „sparen“, ist es noch schlimmer: Kaum ein deutsches Haus, das nicht von Kürzungen betroffen ist. Nach Bonn steht nun auch Köln unter Spardruck, Düsseldorf muss mit einer Million Euro weniger auskommen, in Frankfurt stehen ebenfalls Haushaltskürzungen auf dem Programm, die Häuser in Bayern sollen ihre Etats überprüfen, und Dominique Meyer, immerhin Intendant der zu über 97 Prozent ausverkauften Wiener Staatsoper, erklärte gerade, dass er die Preise anheben müsse, da sein Betrieb zu kostspielig sei und die Tariferhöhungen nicht durch Subventionssteigerungen gedeckt werden könnten. Das Limit sei erreicht, ein Mehr an Einnahmen nicht möglich und die staatliche Verantwortung müsse grundlegend neu geregelt werden. Aber selbst jetzt bleibt es still.
Noch vor 10 oder 15 Jahren hat fast jede Streichung an Stadttheatern zu Protesten geführt, zu Demonstrationen und Debatten. Aber in wirtschaftlich unsicheren Zeiten, in denen viele Privathaushalte selber sparen müssen, scheint es unabdingbar, dass auch der Staat streichen muss, dass die Oper nicht mehr als selbstverständliche Grundversorgung verstanden wird, sondern als Luxus. Sollen die Reichen sie doch mit Ticketpreisen bis zu 400 Euro bezahlen oder Sponsoren einspringen. Politik soll sich lieber um die Löcher in Autobahnen kümmern, um Kindergartenplätze oder Schwimmbäder!
Oper als Dorn im Fleisch einer Gesellschaft
Ich weiß nicht, ob den Kulturschaffenden, die von all dem betroffen sind, klar ist, dass sie an dieser Situation nicht ganz unschuldig sind. Auch für Menschen, die regelmäßig in die Oper gehen, wird es immer schwerer, die gesellschaftliche Relevanz der Kunst zu behaupten. Viele Inszenierungen sind nur noch Anachronismen des Regietheaters der 1990er- oder 2000er- Jahre, die noch immer als „modern“ verkauft werden. Ganz abgesehen davon, dass viele Opern weder mit der sich rasant verändernden Ästhetik von Fernsehen, Kino oder der Werbung mithalten können, noch in der Lage sind, sich durch mehr Tiefe gegen eben diesen Zeitgeist zu stellen. Viele Opernmacher begreifen ihre Kunst lieber als Elfenbeinturm, als geschützten Experimentierraum der Gesellschaft: unantastbar, nicht in Frage zu stellen und per se existenziell. Oper wird zur Onanie. Ihre Relevanz sehen viele Häuser nur noch darin, die Aufgaben des Staates zu übernehmen: Bildungsprogramme, Education und Jugendkonzerte. Das ist ehrenwert. Aber all das macht sie nicht unentbehrlich. Denn die Wichtigkeit eines Theaters zeigt sich nicht als angepasste Verlängerung des staatlichen Bildungsauftrages, sondern durch den gesellschaftlichen Diskurs und die Größe der Kunst, die auf der Bühne stattfindet: als Dorn im Fleisch einer Gesellschaft. Als Provokation, als Andersdenken, als Plattform des positiven, ästhetischen Streites. Als Raum der Konfrontation!
Hier ein konkretes Beispiel: Meine Eltern haben nach 40 Jahren (!) ihr Abonnement an der Volksbühne gekündigt. Jahrzehntelang haben sie das Auf und Ab des Theaters begleitet, sich geärgert und gefreut – auf jeden Fall sind sie immer neugierig geblieben. Jetzt wollen sie die Kinoübertragungen der MET besuchen und gezielt Opernaufführungen in der näheren Umgebung, von denen sie glauben, dass sie spannend sind. Nun ist es das Eine, dass meine Mutter einen eher konservativen Geschmack hat – wichtiger ist, wie es das Theater versäumt, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Meine Mutter hat mit der Kündigung gehadert, ist zu Diskussionsveranstaltungen des Theaters gegangen, wollte hören, warum sie sich Penisse von Tenören anschauen muss und warum dort, wo sie La Traviata hören wollte, nur die Titelheldin auf der Bühne stand und ihr Liebhaber, alle anderen Charaktere und der Chor weitgehend unverständlich aus dem Zweiten Rang sangen. Für meine Mutter ist das ein Verrat an der Musik. Als der Chefdramaturg ihr besserwisserisch erklärte, dass Verdi und Puccini ihre Opern genau so gewollt hätten, reichte es ihr. Sie hat dem Intendanten geschrieben. Aber auch der ist schon lange nicht mehr am „traditionellen Publikum“ interessiert, findet es uncool, wenn er grauhaarige Besucher hat, will sie bewusst vergraulen und probiert stattdessen, junge Zuschauer zu locken, indem er ihnen Tickets für fünf Euro anbietet und seine mittelmäßige Kunst verramscht. Er schrieb meiner Mutter, dass ihr offensichtlich das Verständnis für die moderne Oper abgehe – als Beweis schickte er ihr eine mittelmäßig positive Kritik der Lokalzeitung. Da hatte sie keine Lust mehr zu kämpfen, zu protestieren oder zu streiten. Ihr war das Theater schließlich nicht zu modern, sondern mit seiner 68er-Ästhetik zu alt! Sie glaubt, dass das Neue und die Tradition sich nicht ausschließen. Sie ist still und leise gegangen. Intendanten, die ihre Kritiker ins Leere laufen lassen, scheinen derzeit politisch gewollt zu sein: Weil sie Ruhe stiften statt Aufregung – weil an ihren Theatern gekürzt werden kann, ohne dass jemand aufbegehrt.
Oper mit Augen aus dem Jetzt gelesen
Vor 20 Jahren waren es Regisseure wie Ruth Berghaus, Peter Konwitschny, Hans Neuenfels, Christoph Marthaler oder Herbert Wernicke, die Oper in die Gegenwart geholt haben. Sie haben die Werke von Wagner, Verdi, Mozart oder Rossini im Sinne des „Regietheaters“ mit Augen aus dem Jetzt gelesen. Sie haben die Perspektiven auf die Handlungen verändert und Opern wohltuend gegen den Strich gebürstet, haben Seitenstränge freigelegt und dabei den Kern der Opern erhalten. Gutes Regietheater hat sich nie wichtiger genommen als die Komponisten, sondern ist in neue Schichten vorgedrungen, um im Kleinen die Aussage des Großen zu bestätigen.
Das „Regietheater“ war der letzte Versuch, die Oper in die Gegenwart zu holen. Seither ist jedoch nur wenig passiert. Heute glauben Intendanten, dass sie entweder Spektakel bieten müssen, Oper mit Feuer und Eis, wie etwa mit der spanischen Gute-Laune-Truppe La Fura dels Baus, oder sie machen es wie die MET und erheben die Oper zum verstaubten Gala-Abend mit Champions-League-Sängern. An Stadttheatern ist all das nicht möglich. Es ist erschreckend, wie wenige junge Regisseure hier wirklich neue Wege gehen und sich fragen, was nach dem Regietheater kommen kann. Wäre es nicht eine Chance der Stadttheater, im Kleinen nach neuen Formen zu suchen, so wie damals in Stuttgart oder Bremen? Dass sie die Nähe zum Publikum nutzen, die Freiheit der Subvention, um etwas wirklich Neues zu wagen? Stattdessen sieht man hier meist den Abklatsch des Alten oder international ausrangierte Provokateure, die als Modernisten verkauft werden. Meine Mutter findet einen Tenor-Pimmel übrigens schon lange nicht mehr provokant, sondern langweilig.
Oper in ihrer Radikalität, Ungebremstheit, Gefährlichkeit
Neulich habe ich mich mit Elias Grandy, einem spannenden jungen Dirigenten bei einem Bier darüber unterhalten, warum wir noch immer an die Zukunft der Oper glauben. Und wir sind zur Überlegung gelangt, dass es nach dem Zerpflücken der Kunst, der unbedingten Zeitgeistigkeit, zunächst einmal wieder darum gehen müsste, sich erneut ihrer inneren Kraft zu widmen. Was ist es, das uns an den Dirigaten Furtwänglers, Karajans, Toscaninis oder Böhms heute noch fasziniert? Doch auch der Umstand, dass sie (obwohl bei ihnen der längst vergangene Zeitgeist zu hören ist) noch immer für Gänsehaut sorgen. Elias hat es ungefähr so gesagt: „Die kannten die Opern aus dem Effeff, das hört man, jede Note, sie haben die Ochsentour an kleinen Theatern hinter sich gebracht und es irgendwann geschafft, das Wissen als Selbstverständlichkeit aufzufassen, ohne etwas bewusst zu wollen.“ Und ist nicht das der Unterschied, wenn Kirill Petrenko (zugegeben klug, aber eben auch bewusst provokant und nicht immer sinnlich) Neues hören lässt oder Christian Thielemann mit dem Vertrauen auf die Selbstverständlichkeit des Effekts dirigiert?
Ein ähnliches Phänomen beobachten wir bei Sängern. Wir freuen uns am modernen Schöngesang, an der Klugheit der Stimmen, wie sie Elīna Garanča hören lassen, Klaus Florian Vogt und Jonas Kaufmann. Tatsächlich aber haben sie nur wenig mit jenen Stimmen zu tun, die für uns, ähnlich wie in der Formel 1, mit 260 Stundenkilometern in die Kurven gegangen sind – mit Fritz Wunderlich, Maria Callas oder René Kollo. Tenöre wie Rolando Villazón, die jahrelang über ihre Grenzen gegangen sind, die ein Risiko auf sich genommen haben – über sie wird oft genug gelacht. Dabei sind sie es, die uns die Größe der Oper gezeigt haben: die Radikalität, die Ungebremstheit, die Gefährlichkeit der Kunst, die sie erst in die Nähe des realen Lebens rückt. Ja, Oper ist: gefährlich!
Oper in der Krise
Auch hier könnten Stadttheater ansetzen: Einst waren sie die Orte, an denen große Stimmen Erfahrungen gesammelt haben, gescheitert sind, Repertoire gefressen haben. Heute schrumpfen die Ensembles. Dabei müssten Theater ihre Sänger in die Öffentlichkeit stellen wie die Stürmer ihrer Fußballteams!
Warum also steckt die Oper in der Krise? Und warum redet keiner mehr darüber? Ich bin sicher, dass es auch daran liegt, dass die Oper verlernt hat, uns zu berühren. Dass sie sich in einen – zugegeben spannenden – Elfenbeinturm zurückgezogen hat, in dem es darum geht, Wissenschaft hörbar zu machen, sich selbst und seine Ästhetik zu bedienen, sich nicht mehr denjenigen zu erklären, die von der Oper etwas anderes wollen als ein musikwissenschaftliches Studium. Das Gequatsche von „früher war alles besser“ wird ihr sicherlich nicht helfen. Aber die Oper hat nur eine Zukunft, wenn sie sich auch an die klassischen Werte erinnert, wenn sie es schafft, zum Kern vorzudringen, Selbstverständlichkeit zu sein, jenseits der Bildung, jenseits der Akademien und jenseits des arroganten, selbstgefälligen und elfenbeintürmischen Theaters.
Die Oper steckt in einer Krise. Aber diese Krise ist selbstgemacht, weil sie die Existenz der Kunst als Institution behaupten will, als Verlängerung des Staates, die vom Staat abhängig ist, statt ihn jenseits der politischen Normen zu befragen. Das zu ändern ist nicht nur Aufgabe der Opernmacher, sondern auch des Opernpublikums: Es muss dort aufstehen, wo etwas schiefläuft, dort protestieren, wo nicht debattiert wird, dort lebhaft kämpfen, wo die Oper zu sterben beginnt. Gegen die Selbstgefälligkeit der Institutionen, die Selbstreferenzialität der Interpreten, die Vorsicht der Künstler. Wir brauchen Krach, jetzt – bevor es ganz still ist.