KlassikWoche 12/2022
Kann denn heute jeder dirigieren?
von Axel Brüggemann
21. März 2022
Nikolaus Bachlers Kritik am Rauswurf Valery Gergievs und Anna Netrebkos, Igor Levit als neuer künstlerischer Leiter des Heidelberger Frühlings
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
dieses Mal mit dem Versuch, endlich wieder die ganze Buntheit unserer Klassik-Welt unter die Lupe zu nehmen. Natürlich kreisen wir auch um die Ukraine, aber wir schweifen auch aus: in unsere Führungs-Kultur, in eine Kritik der Kritik und zu amüsant-merkwürdigen Dirigenten-Bildern.
KANN HEUTE EIGENTLICH JEDER DIRIGIEREN?
Fangen wir mal mit etwas Unterhaltsamem an: Neuerdings ist ja sogar Thomas Gottschalk unter die Dirigenten gegangen (ich warne AUSDRÜCKLICH davor, diesen Link zu klicken, wenn es Ihnen unangenehm ist, sich fremd zu schämen!) Etwas seriöser ist da sicherlich das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO)! Allerdings bin ich inzwischen ein wenig unsicher: Ist dieses Video (siehe oben) wirklich lustig? Oder nur peinlich?
Es handelt sich um ein offizielles Video des BRSO aus der Probenarbeit mit Reinhard Goebel. Der steht da vor dem Ensemble, das von Dirigenten-Legende Mariss Jansons geschult wurde, das von Simon Rattle geleitet wird. Goebel zieht eine ziemlich bizarre Show ab: Kalauer, Kinderkram, Schenkelklopfer und allerhand „Dideldideldamdummdumm“ … zum Schenkelklopfen? Ich persönlich finde diesen Umgang mit Profi-MusikerInnen etwas befremdlich, aber vielleicht ist es ja auch lustig – entscheiden Sie selber!
DISTANZIERUNG ODER NICHT: ACH, BACHLER!
Nun kann man sich darüber streiten, wie innovativ es von Nikolaus Bachler ist, nach dem Salzburger Osterfestspiel-Residenz-Orchester, der Sächsischen Staatskapelle Dresden und Christian Thielemann, als erstes neues Gastorchester ausgerechnet das Gewandhausorchester aus Leipzig mit Andris Nelsons (ebenfalls mit Wagner) an die Salzach zu holen. Absurd sind auf jeden Fall die Einlassungen des alten Mannes in Sachen Netrebko und Gergiev: Als „Hexenjagd“ brandmarkte Bachler den Rausschmiss Valery Gergievs in München (inkludiert in seine Kritik allerdings auch den Oberbürgermeister, der schon vorher hätte handeln sollen) und sagte gleichzeitig, dass die Türen für Anna Netrebko in seinem Salzburg auch weiterhin offen stünden: „Selbstverständlich ist Anna Netrebko willkommen.“
Geht es hier eigentlich nur noch um’s Geldverdienen? Glaubt da tatsächlich jemand an die Rehabilitierung von Netrebko? Sie hat für den Donbas gespendet, ihren 50. Geburtstag im Kreml gefeiert und ihre Kritiker „human shit“ genannt. Wie soll eine Rehabilitation bitteschön stattfinden? Etwa mit einem ersten „Friedens-Auftritt“ beim Opus Klassik? Als Kandidatin bei „Klein gegen Groß“? Oder tatsächlich in Bachlers Salzburg-Klüngel? Wie wäre es mit einem Benefiz-Konzert aller anderen KünstlerInnen, die bei ihrer Agentin unter Vertrag stehen: Daniel Barenboim, Rolando Villazón, Michael Volle, Gabriela Scherer und Regula Mühlemann. Die Firma Eventim verkauft auf jeden Fall munter weiter Tickets für Anna Netrebko und ihren Yusif – am 6.9.2023 sollen die beiden angeblich im Wiener Konzerthaus zu hören sein. Ticketpreis: 416 Euro! (in einer früheren Version des Textes hieß es fälschlich, Anna Netrebko hätte im Kreml an der Seite Putins gefeiert)
WO IST ANNA NETREBKO GEBLIEBEN?
Während ich den letzten Absatz geschrieben habe, habe ich noch einmal auf der Seite von Anna Netrebkos Agentur Centre Stage nachgeschaut. Ich habe gegoogelt: „Anna Netrebko Centre Stage Artist Management“ und fand tatsächlich einen Link – der aber führte mich nicht auf Netrebkos Seite, sondern auf die Agentur-Seite von Sopran-Kollegin Regula Mühlemann. Im Google-Cash kann man sehen, wie eine Seite vor der letzten Änderung ausgesehen hat, und tatsächlich: Noch letzten Donnerstag erschien unter eben diesem Link die Centre-Stage-Seite von Anna Netrebko (siehe Screenshots). Am Wochenende war Netrebko dann vollkommen von der Website ihrer Agentur verschwunden. Meine Anfrage, ob man sich getrennt habe, blieb bis zum Redaktionsschluss dieses Newsletters (Sonntag 20:00) unbeantwortet. Bleibt festzuhalten: Netrebko ist von der Centre-Stage-Seite verschwunden, ihren Link hat Regula Mühlemann übernommen. Eine spannende Frage ist auch, wer derzeit eigentlich die Food-Bilder von Anna Netrebko auf Instagram stellt (das Netzwerk wurde in Russland bekanntlich abgedreht). Netrebkos Gatte, Yusif Eyvazov, hat derweil ein Konzert in Moskau an der Seite des ukrainischen Sängers Kirill Turichenko auf Grund von „schwierigen logistischen Problemen“ verschoben. Macht ja nichts – er soll ja weiterhin an der Mailänder Scala singen!
KEINER WILL MEHR CHEF WERDEN
Es wird immer schwerer, Führungsposten und Fachkräfte in der Kultur zu besetzen. Liegt es daran, dass gerade Kulturunternehmen eine Unternehmenskultur fehlt? Warum sind Kultur-Chefs besonders oft „verhaltensauffällig“? Das debattiere ich in meinem aktuellen Podcast „Alles klar, Klassik?“ mit dem Headhunter und ehemaligen Chef des Deutschen Bühnenvereins, Marc Grandmontagne, (ab 39:20: „Viele Jobs in der Kultur sind unattraktiv geworden. Zum Teil liegt es an der fehlenden Rückendeckung der Kulturpolitik“) und mit Helena Ernst. Die Expertin für Führungskräfte bei der Bertelsmann-Stiftung sieht durchaus gute Beispiele für Führungskräfte in der Kultur. Den ganzen Podcast gib es, wenn Sie hier klicken. Außerdem lassen wir – wie jede Woche – die letzte Woche Revue passieren.
KRIEG IN DER UKRAINE UND DIE KULTUR
Wer nach den Newslettern der letzten Wochen gedacht hat, das Brucknerhaus in Linz sei in Erklärungsnot wegen seiner „Russischen Dienstage“ von Panama-Geld-Aufbewahrer Sergei Roldugin und auf Grund der Einmischung des Österreichischen Kanzleramtes. Von wegen! Man hat das diese Woche ganz österreichisch geregelt, sich weggeduckt und die „Russischen Dienstage“ einfach in „Ukrainische Dienstage“ umbenannt. War was, Dietmar Kerschbaum? +++ Was war das für ein Blackout, als der Pianist Boris Beresowski den Ukrainern in einer Talkshow den Strom abstellen wollte. Seine Aussage bereut er inzwischen und will sich nicht mehr zu politischen Themen äußern. Da hat sich einer mächtig verritten und ist noch immer nicht sauber aus seiner Argumentations-Krise herausgekommen. +++ Unbürokratische Hilfe IST möglich, das beweist das Goethe-Institut, indem es Künstlerinnen und Künstlern aus der Ukraine ein unkompliziertes 2.000-Euro-Stipendium anbietet. Gut so, auch wenn die Corona-Hilfen für soloselbstständige KünstlerInnen aus Deutschland damals wesentlich schleppender und bürokratischer gelaufen sind. +++ Das preisgekrönte Baltic Sea Philharmonic unter Gründungsdirigent Kristjan Järvi bangt um sein Ende. Das Ensemble wurde 2008 vom Usedomer Musikfestival und der Nord Stream AG initiiert und schrieb sich etwas scheinheilig Verständigung und gute Nachbarschaft der Anrainerstaaten der Ostsee auf die Fahnen. „Ich fühle mich auch betrogen. Es fühlt sich fast so an, als hätte Putin mir ein Messer in den Rücken gerammt“, erklärte Järvi. „Wir hatten und haben eine Mission: ein großes Forum zu bilden, um Menschen zusammenzubringen – und um damit zu verhindern, dass genau so etwas passiert, wie jetzt. In der Musik gibt es keine Grenzen!“. Kunst sei nicht käuflich, sagte er – und hat doch seit Jahren das Gegenteil bewiesen. +++ Eine ähnliche Stellungnahme von Teodor Currentzis und der Finanzierung seines Orchesters MusicAeterna steht übrigens noch aus. +++ Für ein offenes Russland-Bild plädiert der ukrainische Komponist Valentin Silvestrov in der Deutschen Welle: „Das Gesicht Russlands ist nicht Putin, sondern die russische Kultur“, sagt Silvestrov.
BITTE KRITISIERT UNS – DER VIDEO-TALK
Bereits letzte Woche hat uns das Thema Musikkritik beschäftigt, nun ist auch die erste Folge der Diskussions-Runde des Lucerne Festivals online. Intendant Michael Haefliger hat das Forum ins Leben gerufen, weil er um die Zukunft der Musikkritik fürchtet. Ich debattiere das Thema im ersten Talk aus Veranstalter-Perspektive gemeinsam mit Haefliger und mit der Journalistin Hannah Schmidt: „Ich wollte nie eine Kritikerin mit Seidenschal und Partitur sein“ / „Wenn bei Otello geblackfaced wird, habe ich keine Lust mehr, über die musikalische Qualität zu berichten.“ Außerdem dabei die Intendantin des Tonhalle-Orchesters Ilona Schmiel: „Wir müssen uns in Zukunft auch um unsere eigene Kritik kümmern und vollkommen neue Formate andenken.“ Das ganze Video gibt es hier.
PERSONALIEN DER WOCHE
Manchmal scheint die bunte Vielfalt der Klassik-Welt besonders schnell zu schrumpfen, sich auf nur einen Menschen zusammenzukochen. Ein Beethoven-Podcast? Fragen wir Igor Levit! Einweihung des Thomas Mann Klaviers in den USA? Fragen wir Igor Levit! Bundesversammlungs-Abgeordneter der Grünen? Fragen wir Igor Levit! Und nun eben: Neuer künstlerischer Leiter des Heidelberger Frühlings? Macht: Igor Levit! Gemeinsam mit Festivalchef Thorsten Schmidt wird er das Festival von der Spielzeit 2022/2023 an verantworten. Und es handelt sich mit Heidelberg ab sofort natürlich nicht um irgendeinen Ort, sondern um einen – wie Levit sagt – „Freiheits- und Lern-Ort”. Na denn. +++ Das 1801 von Emanuel Schikaneder errichtete Theater an der Wien wird grundsaniert: Die Kosten betragen 60,05 Millionen Euro. „Die Sanierung und Modernisierung des historischen Theaters ist ein dringend notwendiger Schritt, um das Opernhaus auf lange Sicht fit für die Zukunft zu machen”, sagte der Geschäftsführer der Wien Holding, Kurt Gollowitzer. Regisseur Stefan Herheim wird das Haus durch die Sanierungszeit führen. +++ Die Pianistin Annerose Schmidt ist tot. Wie die Berliner Hochschule für Musik Hanns Eisler am Montag mitteilte, starb die frühere Rektorin nach langer Krankheit am vergangenen Donnerstag. Sie wurde 85 Jahre alt. Schmidt galt als eine der besten Pianistinnen der DDR. +++ Persönlich bewegt hat mich der Tod von Michail Jurowski, mit dem ich vor einigen Jahren gemeinsam an einem Film über „Peter und der Wolf“ und Sergei Prokofjew gearbeitet habe: Er kannte die Flucht, war einer der wenigen, der an Stalins Todestag am Grab Prokofjews stand und hat das musikalische Leben auch in Deutschland geprägt. Leben Sie wohl, Michail Jurowski.
WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht in einem Telefonat, das ich diese Woche mit Salzburg-Intendant Markus Hinterhäuser geführt habe – wir haben uns ein wenig angeschrien, und dann doch Stück für Stück nach vorne gehangelt. Er sei in Sachen Gergiev falsch von der DPA zitiert worden, hätte sich komplexer geäußert und auch den Münchner Bürgermeister in seine Kritik einbezogen (er habe den Dirigenten viel zu spät rausgeworfen). Das damals eingeleitete Salzburg-Sponsoring von Gazprom sei natürlich falsch gewesen, andere russische Förderer der Salzburger Festspiele stünden aber nicht unter Verdacht der Putin-Nähe. Für mich war die positive Erkenntnis, dass selbst (oder gerade!) in aufreibenden Tagen Gespräche weiterhelfen. Dass es kein Problem sein darf, Fehler einzugestehen (ich habe die DPA-Meldung ohne Kenntnis des originalen ORF-Materials zitiert) und dass es im Idealfall immer um die Zukunft geht. Hinterhäuser und ich waren einig, dass die finanziellen Abhängigkeiten im Kulturbetrieb neu befragt werden müssen – und wir werden das weiter debattieren. Ich bin gespannt darauf.
In diesem Sinne, halten Sie die Ohren steif!
Ihr
brueggemann@crescendo.de
Fotos: Geers, Frank Hoehler